ADB:Niedner, Christian Wilhelm
Karl Hase (Jena). Nach dem Tode seines Lehrers H. G. Tzschirner gab N. den ersten Band des von demselben hinterlassenen Werkes „Der Fall des Heidenthums“, Leipzig 1829, heraus. Den zweiten Band, der unvollendet geblieben war, mochte N. selbständig nicht vollenden. Nachdem N. 1829 Professor extraordinarius geworden, trat er 1838 als ordentlicher Professor in die theologische Facultät in Leipzig ein. Dasselbe Jahr wurde er Doctor der Theologie. Gleichzeitig erschien: „Philosophiae Hermesii Bonnensis nov. rerum in Theologia exordii explicatio et existimatio“ (Leipzig 1838/39). Außer den Vorlesungen über Kirchengeschichte, welche bald wegen ihrer fast unglaublichen Gelehrsamkeit die akademische Jugend anzogen, las N. Dogmengeschichte, als Geschichte der Philosophie und Theologie christlicher Zeit. Auch über Geschichte der alten Philosophie und Geschichte der neueren Philosophie seit Kant hielt er Vorlesungen. Seinen Zuhörern händigte er für jede Vorlesung sorgfältig durchgearbeitete Compendien ein, welche er als Manuscript auf eigene Kosten hatte drucken lassen. Dieselben haben einen bleibenden Werth. Auch leitete er das historisch-theologische Seminar und hielt Examinatorien über Kirchengeschichte. Außer dieser speciellen Universitätswirksamkeit übernahm N. nach Professor Illgen’s Tode (1844) das Präsidium der von Illgen gegründeten historisch-theologischen Gesellschaft und die Herausgabe der Zeitschrift für historische Theologie. Die Jahrgänge 1845–65, Heft 1 sind von N. redigirt. 1846 entschloß sich N. nach längerem Zögern, sein Lehrbuch „Geschichte der christlichen Kirche“ herauszugeben. In diesem Buch tritt einem das immense Wissen Niedner’s zunächst entgegen. Aus den Quellen hat er die minutiösesten Specialstudien gemacht und diese in selbständiger und scharfsinniger Weise zu einem Ganzen verbunden. N. beherrscht nicht nur die gesammte theologische Litteratur der Kirchenväter, des Mittelalters und der Neuzeit, sondern ist gleicher Weise mit staunenswerther Akribie in allen philosophischen Systemen des Alterthums wie der Neuzeit zu Haus. Mit strengster Objectivität sucht er das innerste Wesen jeder Persönlichkeit darzulegen. Ueber der Menge der Einzelforschung ist der Faden des Ganzen niemals außer Acht gelassen. Freilich muß Niedner’s Sprache erst gelernt werden. Er schreibt meist in Abstracten. Die Terminologie ist eine ganz eigenartige, oft schwer verständliche. Mit Recht hat man N. einen Geschichtsforscher, aber keinen Geschichtsschreiber genannt. Seiner theologischen Ueberzeugung hat N. einen prägnanten Ausdruck in der Rede gegeben, welche er am 17. Februar 1846 bei der akademischen Gedächtnißfeier von Luther’s 300jährigem Todestage gehalten. In dieser spricht er sich sehr bestimmt über die beiden Principien des Protestantismus aus. Im entschiedenen Gegensatz zu David Strauß und Baur stehend, ist er [667] nicht minder der confessionell-lutherischen Partei abgeneigt. N. will der zu seiner Zeit herrschenden Vermittlungstheologie (Nitzsch, Dorner, Liebner) zugerechnet werden. In kirchenpolitische Kämpfe einzutreten war nicht seine Art. Er blieb der stillen gelehrten Forschung ergeben. Dieser entstammt die Monographie: „De subsistentia τῷ θείῳ Λόγῳ apud Philonem tributa“, Leipzig 1848. Aufs mächtigste ergriff den seinen Studien und Schülern allein lebenden Gelehrten die Revolution von 1848. Gefahr besorgend für seine die seltensten Quellenwerke enthaltende Bibliothek schloß er sich einem ultra-demokratischen Club, von dem er Schutz begehrte, an; vertauschte seine an einem freien Platz gelegene Wohnung mit einem Hoflogis, in welchem er sich sicherer fühlte und schloß sich, eine Ferienreise fingirend, in seinem Zimmer ein, einmal um trotz der Zeitstürme seinen Studien ungestört leben zu können, dann aber um der immerfort wachsenden Schaar von Bettlern zu entgehen, deren er sich in seiner Gutmüthigkeit nicht mehr erwehren konnte. Als dann 1850/51 der Universität Leipzig infolge ihrer theilweisen Opposition seitens der königlich sächsischen Staatsregierung eine scharfe Zurechtweisung zu theil wurde, fühlte sich N. verstimmt. Freiwillig legte er seine Professur nieder und siedelte nach Wittenberg über. Anfänglich leistete er sogar auf irgendwelche Pension Verzicht; diese wurde ihm dann durch Minister v. Falkenstein förmlich aufgenöthigt. In Wittenberg lebte er ganz zurückgezogen unter seinen Büchern, allein die Herausgabe der Zeitschrift für historische Theologie beibehaltend. Schon nach Neander’s Tode 1850 war an N. für den Berliner Lehrstuhl für Kirchengeschichte gedacht worden, aber erst 1859, nachdem Lehnert als Generalsuperintendent nach Magdeburg gegangen war, wurde N. als ordentlicher Professor und Consistorialrath nach Berlin berufen. Hier sammelte er einen großen Hörerkreis um sich, darunter eine Anzahl solcher, die ernste historische Studien beginnen wollten. Nur sechs Jahre durfte N. vollkommen befriedigt, mit altem Eifer und neuem Erfolg hier wirksam sein. Einem Fußleiden, welches er anfänglich unbeachtet gelassen, erlag er am 13. August 1865. Ueber seinem Grabe auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof in Berlin haben dankbare Schüler ihm einen Denkstein errichten lassen. Nach seinem Tode ist sein Lehrbuch der Kirchengeschichte in zweiter Auflage 1866 erschienen. N. war ein Mann von kindlicher Frömmigkeit, von großem Wohlwollen gegen Jedermann, vor allem gegen seine Studenten, von unbeugsamem Fleiß. Man behauptet, er habe zeitweise immer nur die zweite Nacht geschlafen, einen Spaziergang gönnte er sich nicht, „auch Zeit zum heirathen habe er nicht gehabt“. Bei der umfassendsten Büchergelehrsamkeit kannte N. die wirkliche Welt doch wenig. Ist August Neander der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts genannt worden, so könnte man N. als Scholastiker unserer Zeit bezeichnen.
Niedner: Christian Wilhelm N., hervorragender Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts. N., Sohn eines sächsischen Pfarrers, geb. am 9. August 1797 zu Oberwinkel bei Waldenburg, in frühester Jugend nach Hartenstein im sächsischen Erzgebirge, wohin der Vater versetzt war, verpflanzt. Nachdem er in Altenburg (?) das Gymnasium absolvirt, bezog er die Universität Leipzig, um Theologie zu studiren. 1826 habilitirte er sich in Leipzig zunächst in der philosophischen Facultät, 1828 wurde er Baccalaureus der Theologie. Auf der Schulbank, als Student und Docent der ältere Studienfreund von