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ADB:Neander, August

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Artikel „Neander, August“ von Justus Ludwig Jacobi in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 330–340, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neander,_August&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:51 Uhr UTC)
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Band 23 (1886), S. 330–340 (Quelle).
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Neander: August N., einer der größten Kirchenhistoriker, war am 17. Jan. 1789 in Göttingen geboren als der Sohn eines jüdischen Kaufmanns, Emanuel Mendel, welcher seine wenig einträglichen Geschäfte lange Zeit getrennt von der Familie betrieb und diese veranlaßte, ihren Wohnsitz in Hamburg zu nehmen. Die Sorge für die Erziehung der Kinder lag also der Mutter ob. Sie, eine Frau von feinerem Geiste, eine Verwandte von Moses Mendelssohn, wußte ein inniges Familienleben im Hause zu schaffen und übte auf Geist und Gemüth ihres talentvollen Sohnes einen nicht unbedeutenden Einfluß. Als er reifer geworden war, wirkte er auf die Mutter und seine beiden Schwestern zurück und vermochte sie, sich zum Christenthum zu bekennen. Die Mutter und seine sehr begabte Schwester Johanna folgten ihm nach dem Tode des Vaters nach den Orten seines Berufs. Jene starb 1817 in Berlin, hochgeachtet wegen ihrer christlichen Frömmigkeit; die Schwester, welche mit hingebender Liebe für ihn das Hauswesen leitete, überlebte ihn um einige Jahre.

Die seltene Begabung des Knaben wurde frühzeitig von seinen Lehrern erkannt und bewog seine Mutter, ihn für das Studium zu bestimmen. Im J. 1803 bezog er das Johanneum und 1805 das akademische Gymnasium in Hamburg. Als er den Cursus am Johanneum vollendet hatte, hielt er eine öffentliche lateinische Rede für die Emancipation der Juden, welche der Director der Anstalten, Gurlitt, der Aufnahme in das Schulprogramm würdigte. Unter der Leitung dieses trefflichen Philologen und Kritikers gewann N. die sichere Grundlage für die vorzügliche Kenntniß der classischen Sprachen, welche ihn auszeichnete. Eine tüchtige classische Vorbildung betrachtete er allezeit als unerläßliche Bedingung des richtigen theologischen Studiums. Gurlitt förderte den Jüngling auch übrigens mit Rath und That und entzog ihm seine Unterstützung selbst dann nicht, als N. zu seiner rationalistischen Ueberzeugung in einen bestimmten Gegensatz getreten war. Dieser gedachte deshalb seines Lehrers stets mit Gefühlen dankbarer Pietät.

Der Hauptgegenstand seiner damaligen Studien war Plato. Seiner Begeisterung für das Ideale, Göttliche fühlte er sich verwandt und mehr als das alte Testament wirkte diese Philosophie in ihm zur Vorbereitung für das Christenthum. Daneben scheint er sich mit Plutarch beschäftigt zu haben, die ihm zugeschriebene Schrift über die Erziehung hat, wie er selbst äußerte, einen wichtigen Antheil an seiner Bekehrung gehabt. Man darf vermuthen, daß es Stücke von ernstem und concretem ethischen Inhalt gewesen sind, z. B. c. 8, 12, welche [331] dahin gewirkt haben. Auch das, wonach er sich zunächst am meisten sehnte, der Umgang mit gleichgesinnten Freunden, ward ihm durch Plato vermittelt. Eine Gesellschaft von Jünglingen, welche sich Nordstern nannte und sich mit der romantischen Litteratur beschäftigte, zählte zu ihren hervorragenden Mitgliedern Wilhelm Neumann, welcher später als Schulmann hoch geachtet war, August Varnhagen und den Dichter Chamisso. Sie gewahrten mit Ueberraschung und Erstaunen, wie der unscheinbare jüdische Studiengenoß im Plato lebte und webte, und nahmen ihn in ihre Gemeinschaft auf. Die Briefe, welche er damals an Chamisso schrieb (Chamisso’s Werke, herausgegeben von Hitzig, Bd. V), haben den rhetorischen Stil der Jugend und sprechen es aus, wie glücklich er sich in dieser Freundesverbindung fühlte, wo man seine Empfindungen für Freundschaft verstand und sein Streben nach Wahrheit und den höchsten Gütern des Lebens theilte. Von diesen Freunden wurde er in späteren Jahren theils durch ihren Tod, theils durch die Verschiedenheit der Lebensentwickelung getrennt, dagegen mit Karl Sieveking, welcher Senator von Hamburg wurde, blieb er bis an sein Ende in inniger Freundschaft. Ein älterer Freund, welchem er sein Entzücken über Plato aussprach, soll ihn auf Johannes verwiesen haben, in dessen Evangelium er alles, was er an jenem rühme, noch schöner und wahrer lesen könne. Seitdem soll er sich eingehender mit dem neuen Testament beschäftigt haben. Gleichzeitig studirte er Schelling’s und Schleiermacher’s Schriften. Die Reden über Religion ergriffen ihn wie andere Zeitgenossen mächtig durch ihre tiefere und lebendigere Auffassung von der Religion und von Christo. Als er im Begriff stand zur Universität abzugehen und sich damit für einen Beruf zu entscheiden, war auch der Entschluß zur Reife gelangt, durch die Taufe sich öffentlich zum Christenthum zu bekennen. In einer Abhandlung, in welcher er sich selbst, seinen Freunden und dem Geistlichen Rechenschaft gibt über seine Motive, führt er mit Schelling’schen und Schleiermacher’schen Gedanken aus, daß das Christenthum die höchste Religion sei, die Religion der Liebe, welche die Gegensätze versöhne. Am 25. Februar 1806 wurde er von dem Pastor Bossau in Hamburg getauft. Er nannte sich N., weil er ein neuer Mensch sein wollte und nahm die Vornamen Johann Wilhelm August an von seinen Pathen Gurlitt, Neumann und Varnhagen.

Damals hatte er die Absicht, die Rechte zu studiren. Indeß sein Oheim Stieglitz, ein angesehener Arzt in Hannover, urtheilte richtig, daß er nicht für diesen Beruf geeignet sei, sondern für Theologie oder Philosophie und überzeugte ihn leicht davon. Von brennendem Verlangen beseelt, Schleiermacher zu hören, begab er sich nach Halle, wo er am 23. April 1806 als Studiosus der Theologie und Philosophie immatriculirt ward. An demselben Tage wurden mit ihm seine Freunde Neumann und Varnhagen als Studiosen der Philosophie immatriculirt, dieser zugleich für die Medicin. Gurlitt hatte N. ein Stipendium zugewendet, welches ihm das Studiren ermöglichte. Er ließ aber seinem Freunde Varnhagen einen großen Antheil daran und sich selbst über die Freunde und die Bücher vergessend, lebte er so kärglich, daß man darin später eine der Ursachen seiner schwachen Gesundheit fand. In seine Studien vertieft, ward er von dem Einbruch der Franzosen überrascht. Die Universität ward von Napoleon aufgehoben und die Studenten ausgewiesen. Von den Franzosen geplündert und körperlich leidend, kam N. nach Göttingen, um seine Studien fortzusetzen. Schleiermacher hatte ihm grundlegende Ideen über die Theologie und insbesondere über Bedeutung und Methode der kirchengeschichtlichen Disciplin zugeführt. In Göttingen studirte er seine Schriften noch genauer, indem er einen Kreis von Studirenden um sich sammelte, welche er mit der neuen Theologie bekannt machte. Der rationalistische Standpunkt der dortigen Facultät und die äußerliche Behandlung [332] der theologischen Gegenstände genügte ihm nicht. Doch zogen ihn die Vorlesungen von Stäudlin und besonders von Planck an. Obgleich er schon damals bestrebt war, den psychologischen Pragmatismus von Planck zu vertiefen und bedeutsame Wirkungen in der Kirche auf religiöse Ursachen zurückzuführen, so verdankte er doch diesem Lehrer, daß er die Arbeit an der Kirchengeschichte als seinen Beruf erkannte. Auch die würdige Persönlichkeit des Mannes gewann ihm dauernde Hochachtung ab. Um 1847 widmete er Planck zu seinem Amtsjubiläum die zweite Auflage des vierten Bandes seiner Kirchengeschichte, sprach ihm seine Verehrung gegen sein vorleuchtendes Beispiel aus und nannte sich seinen Schüler „der von dem großen Meister selbst, dem er so vieles verdanke, zuerst gelernt habe, dem suum cuique in der Auffassung der Geschichte nachzustreben“.

Eine neue Epoche in seinem geistigen Leben wirkte die Begegnung mit einem privatisirenden Gelehrten, Namens Frick, mit welchem er 1807 im Stieglitzschen Hause zusammentraf. Jener, welcher sich viel mit Dante beschäftigte, aber auch in der Bibel wohl zu Hause war, rieth ihm, nicht in Platonischer und Schleiermacher’scher Philosophie, sondern in Christo die wahre Weisheit zu suchen. Tief bewegt erkannte N., daß die intellectualistische Beschaffenheit seiner Theologie ein Fehler und daß Christenthum und Theologie vor allem Sache des Gemüthes seien, daß sich mit der Wissenschaft Einfalt des Herzens und liebevolle Herablassung zu den Niedrigen verbinden müsse. In dieser ethischen praktischen Richtung seiner Theologie wurde er bestärkt durch den Umgang mit Matthias Claudius und einem alten frommen Arzt, Namens Heise, in Hamburg. Nach Göttingen zurückgekehrt, studirte er statt der Philosophie nun eifriger die heilige Schrift, lernte auch unter Anleitung des Privatdocenten Gesenius das Hebräische. Seinen Freunden gab er nach einiger Zeit Rechenschaft von seinen inneren Erlebnissen in einem lateinischen Glaubensbekenntnisse, an dessen Schluß er unter frommem Gebet die Kirchengeschichte als Zweck seines Studiums hinstellte. Um diese Zeit, 1807, hielt er auch seine erste Predigt in Wandsbeck über Joh. 1, 1. Mit dem Jahre 1809 schloß er seine Universitätsstudien ab, bestand mit großer Auszeichnung sein Candidatenexamen, predigte auch öfters und lebte übrigens seinen Büchern. Allmählich wurde ihm indessen klar, daß er eines festen Berufes bedürfe, um eine gesammelte und fruchtbare Thätigkeit zu finden, und da ihn ein Freund darauf aufmerksam machte, daß durch den Abgang Marheinecke’s und de Wette’s von Heidelberg sich einem jungen Docenten dort günstige Aussichten eröffneten, so begab er sich um Michaelis 1810 nach Heidelberg. Auch diesmal bewies sich Gurlitt ihm wohlwollend und hülfreich. Er vermittelte seine Promotion zum Licentiaten bei der Wittenberger Facultät, und verschaffte ihm ein Stipendium. In Heidelberg, wo Daub das theologische Decanat führte, ward er wohlwollend aufgenommen; jedoch verzögerte sich seine Habilitation bis zum 4. Mai 1811, zu welchem Behufe er die Dissertation „de fidei gnoseosque idea etc. secundum rationem Clementis Alex.“ verfaßte. Zu Clemens und Origenes führte ihn frühzeitig die gleiche Liebe zu einem das Menschliche verklärenden Christenthum und zu einer frommen und frei sich bewegenden Theologie, und er hat die Neigung zu diesen großen Geistern bis an sein Ende bewahrt. Sogleich im Sommersemester begann er seine Vorlesung über Kirchengeschichte.

Nachdem der erste Eindruck der Unbeholfenheit überwunden und mit der Schüchternheit manche Hemmungen des Vortrags geschwunden waren, begann er auf die ernsteren und fähigen Studenten und allmählich auf eine größere Zahl durch seine geschichtlichen Vorlesungen einzuwirken. Schon um 1812 wurde er außerordentlicher Professor, zur Anerkennung wegen seiner Monographie über den Kaiser Julianus. Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Historiker auf ihn. Die umfassende Kenntniß der sittlichen und religiösen Zustände, Einsicht in die [333] Bedeutung der Philosophie und in das Wesen wie in die damalige Entartung des Christenthums, die tiefe Auffassung der verschiedenen Charaktere und die Feinheit der Psychologie, womit er die Entwicklung Julians selber verfolgte, seine philosophische und politische Feindschaft gegen die Kirche erklärte, dem Christenthume sein Recht gab und auch ein billiges Urtheil für den Gegner desselben hatte, das Verständniß also historischer Nothwendigkeit, diese Vorzüge erregten bei Niebuhr und anderen die günstigsten Erwartungen über den jungen Geschichtsschreiber (Lebensnachrichten über Niebuhr II, S. 113). Das Buch verschaffte ihm 1813 die Berufung in eine ordentliche Professur nach Berlin, welche Marheineke vermittelte. Unter den Bewegungen des anfangenden Krieges, erfüllt von vaterländischer Begeisterung und von freudiger Zuversicht für das Gelingen des Kampfes, ging er nach Berlin. Die großen Thaten des preußischen Volkes, die Pflege, welche die Regierung der Wissenschaft angedeihen ließ, die Bedeutung der Universität Berlin fesselten ihn an diesen Ort. Sein Leben verlief seitdem in gleichmäßiger Berufsarbeit, in großer Regelmäßigkeit und mit sehr geringer äußerer Abwechselung. Seine Studien und seine Vorlesungen wurden auf längere Zeit nur von Ferienreisen unterbrochen, welche er meistens auf Karlsbad richtete. Für äußerliche Praktik besaß er weder Neigung noch Geschick. Die Leitung des Haushaltes im ganzen Umfange überließ er seiner Schwester. Die politischen Dinge und Parteiungen suchte er mit sittlichem Urtheile aufzufassen, hielt sich aber von der activen Theilnahme zurück. Nur die gewaltsamen Erschütterungen des Revolutionsjahres 1848 bewogen ihn, einige Male aus der gewohnten Zurückhaltung herauszutreten. Er erfaßte mit sittlich religiösem Tiefblick das Bedeutende in den großen politischen Ereignissen, und auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kirche, auf welchem sein Beruf lag, verfolgte er die Bestrebungen und Maßregeln mit großer Aufmerksamkeit und drückte sein Urtheil darüber in Wort und Schrift kräftig aus. Aber unmittelbar bei praktischen Einrichtungen, z. B. Herstellung der Kirchenverfassung auf der Generalsynode 1846 mitzuwirken, versagte er sich, weil er sich der Schranken seiner Befähigung wol bewußt war, und begnügte sich daher als Mitglied des Consistoriums mit der Betheiligung an der Prüfung der Candidaten. Und auch das ist nicht zu leugnen, daß mit diesem Mangel an Begabung für die praktischen Ordnungen eine Auffassung der kirchlichen Dinge zusammenhing, welche hie und da zu idealistisch war.

Die Vorlesungen Neander’s waren zunächst kirchengeschichtliche und dogmengeschichtliche. In seinem letzten Jahrzehnt fügte er eine neue hinzu, gewissermaßen eine Philosophie der Kirchengeschichte, in welcher er die geschichtlichen Gegensätze und Entwicklungen in ihrer inneren Bedeutung und ihrer Wechselbeziehung schilderte. Frühzeitig wendete er sich auch der Exegese zu und behandelte darin fast sämmtliche Schriften des neuen Testamentes. Die Wärme des Gemüthes, die Lebendigkeit und Einfachheit der Auffassung, der Scharfsinn, der geschichtliche Blick, die große Sprachkenntniß und dazu die Geschicklichkeit, mit welcher er die verschiedenartigen Einzelheiten zu einem lebendigen Ganzen verband, gaben diesen Vorlesungen hohen Werth. Einige sind herausgegeben worden. So die Vorlesung über die Korintherbriefe von Beyschlag 1859, doch mehr auszugartig. Mehrere Briefe behandelte N. in kurzer, praktischer und populärer Weise, den an die Philipper 1849, den des Jacobus 1850 und I. Johannis 1851. Am meisten wird man ein Bild seiner exegetischen Methode gewinnen aus seinem „Leben Jesu“ (1837, 4. Aufl. 1845), welches er dem Strauß’schen Werke gleiches Namens entgegensetzte. Es behandelt seinen Gegenstand mit der Voraussetzung, daß hier ein übernatürliches Prinzip in geschichtlicher Erscheinung anzuerkennen sei. Diese Eigenthümlichkeit berechtige ebenso [334] zur Kritik der historischen Berichte, wie sie andererseits derselben Schranken ziehe. Neander’s Werk darf zu den bedeutendsten und wirksamsten Widerlegungen des Strauß’schen gerechnet werden. Allmählich dehnte er seine Vorlesungen auf Ethik und Dogmatik aus. Die erste pflegte er nach der allgemeinen Construction der philosophischen Ethik von Schleiermacher zu gliedern, in welche Form er einen reichen biblischen Gehalt hineinlegte. In der Dogmatik zog er die biblischen Bestimmungen und die allgemein christlichen Gesichtspunkte der altprotestantischen Terminologie vor. Eine kleinere Vorlesung über die Geschichte der Ethik war besonders durch große Kenntniß der classischen und altchristlichen Ethik von Werth. Die Gegensätze der evangelischen und katholischen Kirche behandelte er gleichfalls in einer kurzen Vorlesung unter historischen und auch stark irenischen Gesichtspunkten. Diese Vorlesung ist von Prof. Meßner 1863, die Geschichte der Ethik von Dr. Erdmann 1864, die Dogmengeschichte von J. L. Jacobi, 2 Bände, 1857 herausgegeben.

N. trug alle diese Gegenstände in freier Rede vor. Er sprach zwei, sehr häufig auch drei Stunden hintereinander, nach sorgfältiger Vorbereitung und mit solcher Sicherheit seines ungewöhnlich starken Gedächtnisses, daß er außer dem neuen Testamente nur kleiner Zettel bedurfte, auf welchen eine Reihe einzelner Wörter und Zahlen ihm Erinnerungszeichen gaben. In seinem Nachlasse hat sich kein einziges Collegienheft gefunden. Dennoch kam es höchst selten vor, daß er mit einem „ich wollte sagen“ einen augenblicklichen Irrthum zu verbessern hatte. Die Darstellung des Einzelnen war freies Erzeugniß des Momentes; sie war höchst einfach, nicht ohne Monotonie, aber durchdrungen von christlicher Wärme, und sie war das Zeugniß eines Geistes, welcher gänzlich seinem Lehrberufe hingegeben war. Lebendige Frömmigkeit und tiefe Wissenschaft durchdrangen sich harmonisch und breiteten sich aus in dem gleichmäßigen Flusse der Rede. Die Einfachheit und Wahrheit seines Gemüthes, die Ehrfurcht vor den göttlichen Dingen, welche in dem Wort und in dem Ton der Stimme ihren Ausdruck fanden, sprachen zugleich zum Herzen und Verstande der Zuhörer. Selten ist ein akademischer Lehrer so sehr von seinen Schülern geliebt worden, als N. Unter denjenigen, welche in diesem Jahrhundert den Stand der Theologen vom Rationalismus zu einer religiöseren und biblischeren Betrachtung des Christenthums und zu einer tieferen Auffassung der Berufswissenschaft geführt haben, nimmt er eine der vornehmsten Stellen ein. Hieran hatte sein kindlich frommes und doch willenskräftiges Gemüth, seine Lauterkeit, Aufopferung und Liebe für die Studirenden ebenso viel Antheil, als seine Bedeutung in der Wissenschaft und das Ansehen, was daraus folgte. Unzählige erfuhren seine Theilnahme, nicht wenige seine uneigennützige Hülfe. Er war unverheirathet und seine väterliche Liebe gehörte ganz den Studirenden. Keine größere Freude wurde ihm, als wenn er einen edlen und talentvollen Jüngling unter ihnen entdeckte. Solchen pflegte er eine rührende Liebe zuzuwenden. Am Abend des Sonnabend war sein Haus für jeden seiner Zuhörer, welcher es wünschte, geöffnet; und diese freieren Unterhaltungen schafften ihm Gelegenheit zu einer mehr persönlichen Einwirkung. So oft sein Geburtstag wiederkehrte, war er ein Festtag für die jungen Theologen. Selbst dürftige unter ihnen trugen gern zu einem Geschenke bei, das ihm als Zeichen der Liebe überreicht wurde. Am Abend folgte ein Fackelzug, und dabei sprach er dann aus dem Fenster herab Worte des Dankes und der Mahnung, demüthig, liebevoll und tief gerührt. Er schloß dann mit der Bitte, zu ihm herauf zu kommen, und schnell waren alle Räume gefüllt.

Neander’s Theologie hatte fundamentale Bestimmungen von Schleiermacher aufgenommen, vor allem die Auffassung des Christenthums als einer persönlichen [335] und unmittelbaren Lebensgemeinschaft mit Christo, und die Unterscheidung der abgeleiteten Formen, namentlich auch der Dogmen, von diesem subjectiven Princip. Indem er mit Schleiermacher Christum zum Mittelpunkte des christlichen Bewußtseins und der Dogmatik machte, fand er hier den Uebergang zu dem vielmehr biblischen Standpunkte und zu durchgreifenderer Ausscheidung der philosophischen Gedanken aus der Theologie. Der von Schleiermacher behaupteten Selbständigkeit der Religion gab er damit einen folgerichtigeren Ausdruck. Den einseitig herrschenden Gesichtspunkt des Menschlichen, wobei der Rationalismus beharrte, schränkte er durch die Bedeutung des Christenthums als einer göttlichen Offenbarung ein. Aber die Förderung der Erkenntniß, welche die rationalistische Periode durch eine naturmäßigere, geschichtliche und kritische Betrachtung der Bibel und Kirche bewirkt hatte, hielt er für einen nicht geringen Gewinn. Die harmonische Durchdringung des Menschlichen mit dem göttlichen Leben stand ihm als die vollendete Gestalt des Christenthums vor Augen.

Daher waren es zwei Gegensätze, gegen welche er mehr als zwanzig Jahre lang bis ans Ende seines Lebens kämpfte. Der eine war die Hegel’sche Philosophie, welche sich nach des Meisters Tode der philosophischen Lehrstühle bemächtigte und auch in die Theologie eindrang. In Neander’s Facultät war sie durch Marheineke und Vatke wirksam geworden. Er durchschaute die pantheistische Beschaffenheit dieser Philosophie, die Geringschätzung des religiösen Standpunktes, die Unlebendigkeit der schematischen Methode und die Selbstgenügsamkeit im Besitz begrifflicher Kategorien. Er fürchtete von dieser Methode schweren Nachtheil für eine objective und lebendige Behandlung der Realitäten, und von dem Inhalte der Philosophie die Auflösung des Christenthums. Diese Voraussicht wurde bestätigt, als das Leben Jesu von Strauß erschien. Um einer anderen Philosophie Raum zu verschaffen, strebte er die Berufung Gabler’s, eines Schülers von Hegel, an dessen Stelle zu hindern, und bewog auch seinen Freund, den Baron von Kottwitz, seinen Einfluß auf den Kronprinzen Friedrich Wilhelm dagegen wirksam zu machen. Seitdem N. seinen eigenen theologischen Weg gefunden hatte, war sein Verhältniß zu Schleiermacher kühler geworden und in Berlin fand zwischen Beiden ein nur amtlicher Verkehr statt. Dennoch ehrte ihn N. als den größten Theologen dieses Jahrhunderts, und sprach es seinen Zuhörern beim Tode Schleiermacher’s aus, daß man von ihm eine neue Epoche der Theologie datiren werde. In der Zeit der Uebermacht der Hegel’schen Philosophie trat er ihm im Geiste wieder näher und wendete ihn als ein Gegengewicht gegen jene an, indem er sein Studium den Studirenden empfahl und lieber bemerklich machte was er billigte, als was er tadelte. Auch Trendelenburg und Steffens schätzte er hoch, und mit Schelling, dessen erste Vorlesung in Berlin er regelmäßig besuchte, schloß er innige Freundschaft.

Der andere Gegensatz, welchen er bekämpfte, war die Wiederaufrichtung der kirchlichen Orthodoxie, die vornehmlich von Hengstenberg betrieben wurde. N. erklärte es für ein unhistorisches Beginnen und für willkürliche Zurechtmacherei, wenn man verfahre, als könne man die Periode des Rationalismus wie mit einem Schwamme wegwischen. Er vermißte in Hengstenberg’s Theologie den Wahrheitssinn, die geschichtliche und kritische Befähigung und verglich seine Beweisführungen gern mit der Manier eines Advocaten; außerdem war er überzeugt, daß er mit Hülfe vornehmer Freunde die Entscheidungen über theologische Parteigegensätze herbeizuführen trachte. Soweit er von dem Rationalismus der Halleschen Professoren Wegscheider und Gesenius entfernt war, so mißbilligte er doch, daß Hengstenberg 1830 eine Anklage Ludwig v. Gerlach’s gegen jene Docenten in die Evangelische Kirchenzeitung aufgenommen hatte, wozu Collegienhefte ihrer Zuhörer benutzt waren. N. erblickte [336] in diesem damals noch ungewöhnlichen Beweismittel eine Begünstigung der Impietät gegen die Lehrer, und in den Absichten Hengstenberg’s eine Regulirung der Wissenschaft durch die Anwendung äußerer Macht. Deshalb sagte er sich von der Mitarbeit an der Evangel. Kirchenzeitung los, nahm aber an dem folgenden heftigen Parteikampfe nicht weiter in Schriften Theil. Später, da eine Anzahl von Geistlichen in Berlin eine Erklärung gegen Hengstenberg erließen, schrieb Neander „Worte des Friedens“, welche indeß fast ungehört verhallten. Den Grundsatz, die Bewegungen der Wissenschaft sich durch ihre eigenen Gesetze, und nicht durch äußere Gewalt regeln zu lassen, befolgte er auch in verschiedenen Gutachten, die der Minister Eichhorn von ihm verlangte. In einem derselben erklärte er sich gegen das Verbot des Strauß’schen Lebens Jesu (1836). Dagegen stimmte er auf’s Entschiedenste denjenigen zu, welche den Verfasser von der theologischen Professur in Zürich ausschlossen, weil er die Voraussetzungen christlicher Theologie verneine.

Neander’s Gesundheit war seit seinen Jünglingsjahren geschwächt durch die geistigen Anstrengungen und die geringe Rücksicht, welche er auf die körperlichen Bedürfnisse nahm. Ohne die große Regelmäßigkeit seines späteren Lebens würde er nicht das Alter von 61 Jahren erreicht haben. Ein Gefühl kräftiger Gesundheit hat er wol niemals gehabt, und von manchen besonderen Leiden, einer peinlichen Drüsenkrankheit, rheumatischen Schmerzen, endlich in den letzten Jahren von einer vorschreitenden Blindheit, war er heimgesucht. Alle Schmerzen und Hemmungen des Körpers besiegte er mit bewunderungswürdiger Herrschaft des Geistes. Ein fast leidenschaftlicher Trieb zu seinen Studien half ihm, die Schmerzen zu vergessen, und so groß war seine Willenskraft, daß seine Zuhörer fast niemals dem Vortrage es anmerkten, durch welche Gefühle des Leidens er sich hindurchkämpfte. Kummervoll, doch mit frommer Ergebung ertrug er das größte Leid, die Abnahme der Sehkraft. Schon vermochte er gewöhnliche Schrift nicht mehr zu lesen; doch die Vollendung des Uebels zu erfahren, blieb ihm erspart. Von einem Anfalle der Cholera ergriffen, am 8. Juli, ließ er sich dennoch nicht abhalten, seine drei Vorlesungen und das Dictat seiner Kirchengeschichte fortzusetzen, bis seine Kraft zusammenbrach. Noch in seinen Fieberphantasien dictirte er, und so sehr lebte er in jenem seinem Werke, daß er genau an dem Punkte einsetzte, bis zu welchem er es in besonnenem Zustande geführt hatte. Er starb am 14. Juli 1850.

Das bedeutendste schriftstellerische Werk Neander’s, durch welches er epochemachend für die Geschichtschreibung geworden ist, ist seine „Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche“. Sie erschien von 1825 bis 1842 in fünf Hauptabtheilungen. Die ersten Theile, die Zeit bis zu Gregor I. umfassend, gab er 1842 flg. in neuer Auflage heraus. Das Werk reicht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts; den folgenden Theil, bis zum Concil von Basel, hat er nur noch in großen Fragmenten bearbeitet, und ohne die letzte Hand anlegen zu können. In dieser Gestalt ist er von Dr. K. Th. Schneider aus dem handschriftlichen Nachlasse herausgegeben. Ein Abdruck des Ganzen mit Vorrede von Ullmann 1856. Das apostolische Zeitalter schien N. zu wichtig, als daß er es in Verbindung mit der Allgemeinen Kirchengeschichte behandelte. Er gab daher eine selbstständige und ausführliche Darstellung desselben in seiner „Geschichte der Pflanzung und Leitung der Kirche durch die Apostel“, einem classischen Werke, welches von 1832 bis 1847 vier Auflagen erfuhr. Es besteht aus zwei Theilen, deren erster die Ausbreitung des Christenthums und die Formen des Gemeinlebens behandelt, der zweite eine in ihrer Kürze treffliche Darstellung der hauptsächlichen apostolischen Lehrtropen enthält.

Neander’s Geschichtschreibung zeichnete sich durch ein höchst gründliches [337] Quellenstudium aus, wozu ihn eine große Kenntniß der classischen und der wichtigsten neueren Sprachen befähigte. Das Eigenthümlichste seiner Leistung bestand jedoch in der Durchführung einer neuen Grundanschauung. Er stellte sich die Aufgabe, das von Christo ausgehende göttliche Leben in seiner Entwicklung in der Menschheit darzustellen. Man hat ihn deshalb mit Gottfried Arnold verglichen und in der That betrachten Beide das persönliche Erlebniß der Gnade Christi als den Ausgangspunkt des kirchenbildenden Processes. Beide setzten in diese Erfahrung das Wesen des subjectiven Christenthums und unterschieden davon die orthodoxe Lehre, sofern diese für sich noch Niemanden zum Christen mache. Allein von dem separatistischen Pietismus und Mysticismus Arnold’s war N. sehr weit entfernt und war in der Erweiterung des christlichen und geschichtlichen Horizontes vielmehr Calixtus verwandt als jenem. Auch hat er nicht von Arnold, sondern von Schleiermacher die Grundidee aufgenommen und ihr dann den bestimmteren Inhalt des Christus der Evangelien gegeben. Indem er Christus und die Thatsache der Erlösung nach ihrer objectiven und subjectiven Beziehung als den Quellpunkt der in der christlichen Gemeinschaft wirkenden Kräfte aufwies, vertiefte er die pragmatische Methode der Kirchengeschichtschreibung, welche er vorfand, und welche Mosheim mit religiöserem Sinne begonnen, Spittler und Planck aber vielfach zu einem Verfolg der Wirkungen accidenteller Interessen, subjectiver Zwecke und Berechnungen gemacht hatten. Was N. dargestellt wissen wollte, war die Wirksamkeit göttlicher Ideen in der Welt der Erscheinungen, wie in aller Geschichte, so auch in der Geschichte der Kirche. Ohne die vortreffliche Abhandlung von Wilhelm v. Humboldt über die Aufgabe des Geschichtsschreibers früher zu kennen, war er selbstständig zu der gleichen allgemeinen Bestimmung gekommen; er ging nur darüber hinaus in der Würdigung der religiösen Ideen und des übernatürlichen Anfangspunktes der christlichen, und ward wenig berührt von dem künstlerischen Gesichtspunkte Humboldt’s. Dennoch besaß er eine nicht geringe Kunst, die Entwicklung zu zeichnen, ein Begriff, welchen er aus der Philosophie Herder’s und Schelling’s zuerst in die Geschichtschreibung der Kirche einführte. Die Entwicklung der Geschichte, und wie er sie noch specieller bestimmte, die genetische Entwicklung, zeigt erst vollständig, wie hoch er über den älteren Pragmatikern steht. Mit der sinnigen Beobachtung eines Naturforschers weiß er die Keime des christlichen Lebens bloß zu legen und ihre Ausgestaltung zu beschreiben. Das evangelische Gleichniß vom Senfkorn, welches zum Baume wächst, war ihm in dieser Beziehung das leitende Vorbild.

Die Pflanzung des Christenthums in das Innere des Menschen war für ihn die echt christliche und protestantische Methode der Wirksamkeit, und seine Wirkungen von dem Innern nach außen zu verfolgen, gebühre der protestantischen Geschichtsschreibung. Die wesentlichen Wirkungen des Christenthums bestehen in der Erlösung, in der Herstellung des Friedens mit Gott und der Harmonie der menschlichen Kräfte. Es durchdringt das Ganze der menschlichen Natur, eignet das Verwandte an und scheidet das Sündhafte, Widerstrebende aus. So wird es eine Macht neuen göttlichen Lebens in der einzelnen Person, und wird es auch für die Menschheit. Weil es die Religion für den ganzen Menschen ist, ist es auch die Religion für alle Menschen. Gleich dem Sauerteige durchdringt das umwandelnde Princip die natürliche Masse und prägt in ihr das Bild Christi aus, dessen vollendete Ausgestaltung das Ziel der Geschichte ist. N. beschreibt nun, wie das christliche Princip in unmittelbare und abgeleitete Formen eingeht, welche zugleich Mittel für seine Erhaltung und Fortpflanzung sind. Bei den verhältnißmäßig unmittelbaren Aeußerungen, welche gleichsam [338] die Silberblicke des reinsten Christenthums einschließen, verweilte er mit Vorliebe. Die Kirchengeschichte verdankt ihm die Behandlung derselben in einem besonderen Abschnitte, welcher von großer Wichtigkeit für das praktische Christenthum ist, und in einem besonderen Werke: „Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des christlichen Lebens“, 1823–1824, 2 Bde. 1825, 3 Bde. 1846. Eine bedeutende Stelle nehmen in der Gruppirung der Erscheinungen die verschiedenen Richtungen ein, welche in den Grundunterschieden menschlicher Eigenthümlichkeit angelegt sind, und daher auch gewissen Gemeinschaften und Zeiten ihr Gepräge geben. N. hat eine besondere Gabe, sie zu verstehen, zu charakterisiren und darzuthun, wie jede ihr Recht, aber auch ihre Schranken habe und wie sie, sich einander berichtigend und beschränkend, bestimmt sind, für das Ganze zu wirken. Vom Standpunkte abstracter Theorien aus hat Baur ihm deshalb ein Beharren bei psychologischen Gesichtspunkten vorgeworfen; während doch in diesen Verschiedenheiten der Geister nothwendige Eigenheiten der menschlichen Natur gegeben sind, welche Bedingungen für die Geschichte setzen. Die Ordnungen des Gemeinlebens behandelt N. nach den allgemein angenommenen Eintheilungen. Mit großer Einsicht zeigt er dem älteren Pragmatismus gegenüber, daß diese Formen historisch nothwendige, und dem Katholicismus und Confessionalismus gegenüber, daß sie nur relativ nothwendige seien. Ihm galt allezeit die Lebensgemeinschaft mit Christo höher, als Ordnungen des Rechts und Glaubensgesetze, und er rechnete es zu den Irrthümern, mit welchen die Kirche immer von neuem beschädigt worden ist, daß man der Satzung gleichen oder höheren Werth als dem Glaubensleben zuschrieb. Dieser Fehler zeigte seine Spur schon in der nachapostolischen Zeit und vollendete sich in dem gesetzlichen Charakter des mittelalterlichen Katholicismus. Die Frömmigkeit und Cultur der Völker war nothwendig an diese Form gebunden, aber diese war bestimmt, zu dem höheren Standpunkte der Reformation, dem geistigen, inneren und freien Christenthum hinzuführen. N. gestattete der Lehrentwicklung eine weitere Ausführung als der Darstellung der Verfassungsformen. Die politischen Zustände und Bewegungen werden nur in den Hauptpunkten berührt, die socialen Beziehungen noch weniger. Die Bedeutung der Kunst hat er nicht übersehen, allein er traute sich selbst nur geringe Begabung für ihre Erkenntniß zu, wie er auch des Sinnes für die Schönheit der Natur entbehrte. Sein Blick war auf das Große, geistig Bedeutende gerichtet; an demjenigen, was dem weltlichen Geschmacke zusagt, dem Pikanten, Carikirten, Lächerlichen ging er vorüber; es war ihm zu gering. Sein Stil ist einfach, frei von Formeln und von warmer Theilnahme für den Gegenstand erfüllt. Da er aber andererseits ohne Plastik der Darstellung und einförmig im Ausdruck und Satzbau ist, so kann es bei oberflächlicher Auffassung wohl so scheinen, als zeige er immer nur dieselben Zeiten und Menschen. Doch ist das Gegentheil richtig, denn er schrieb jeder Zeit ein besonderes Charisma zu, und wußte dieses im Zusammenhange der Gegensätze und der Entwicklungen sehr wohl zu charakterisiren. In der Darstellung namentlich der hervorragenden Persönlichkeiten, in der Bezeichnung dessen, was sie Eigenthümliches für die Kirche geleistet haben, ist er einer der größten Meister.

Daher hat er durch seine biographischen Monographien im hohen Grade anregend gewirkt. Er hat einen Anstoß dazu von Planck empfangen, jedoch bestimmter war Schröckh darin vorangegangen. Im Beginne des Freiheitskrieges, während der Unruhe desselben, hatte N. doch Sammlung genug, um die schönste seiner Monographien, „den h. Bernhard und sein Zeitalter“ (1813. 1848), zu arbeiten. In dieser erhabenen Gestalt lehrte er wie niemand zuvor die Größe des Jahrhunderts verstehen, indem er ihn in die Mitte der bewegenden kirchlichen und politischen Kräfte stellte, seine begeisterte Frömmigkeit, den wunderbaren [339] Gegensatz mystischer Versenkung in’s Innere und gewaltiger Thatkraft, seinen weltbewegenden Einfluß und seine Stellung zur Wissenschaft schilderte. Auch die Darstellung erhebt sich, von dem Gegenstande gestützt, hier zu höherem Schwunge. Mit dem gleichen eindringenden Verständnisse zeichnete er in dem „h. Chrysostomus“ (1822. 3. Aufl. 1848) eine große christliche Persönlichkeit von einer ganz anderen Natur, Bildungsweise, und einer sehr verschiedenen Zeit angehörig. Seit Gottfried Arnold hatte man angefangen, das Studium der Häresien sich mehr zur Aufgabe zu machen. Die Orthodoxie ermäßigte ihr Selbstbewußtsein und man begann die Häretiker nicht mehr mit Haß und Verachtung, sondern mit der Aufmerksamkeit geschichtlicher Forschung zu behandeln. Auf die Gnostiker hatte Mosheim hingewiesen und das orientalische Element in Ursprung und Geist erkannt. Hier knüpfte N. an und lieferte in der „genetischen Entwicklung der vornehmsten gnostischen Systeme“ 1818 ein bahnbrechendes Werk, bedeutend für die gesammte Dogmengeschichte der ersten Jahrhunderte, da die Ausbildung der kirchlichen Dogmen fast überall durch den Gegensatz gegen die gnostischen bedingt ist. In diesen höchst fremdartigen Gestalten wußte N. die Formen religiöser und philosophischer Ideen zu entdecken, eigenthümliche Versuche zur Lösung allgemein philosophischer und christlicher Probleme; er leitet ihre Entstehung aus der Mischung orientalischer, hellenischer, philonischer und christlicher Elemente ab, und gruppirt die Systeme durch ein charakteristisches Theilungsprincip. Er beweist hier die Geschicklichkeit mit philosophischen Dingen umzugehen, welche er durch gründliches Durchdenken der speculativen Aufgaben und durch eine seltene Kenntniß der Geschichte der Philosophie erworben hatte. Denn die griechische, insbesondere Plato, Aristoteles, Plotin und die neuere deutsche Philosophie kannte er aus sehr selbstständigen und umfassenden Studien, und bemächtigte sich immer vollständiger auch der mittelalterlichen. Seine schöne Abhandlung „über das Verhältniß der hellenischen Ethik zur christlichen“, gehört zu den Früchten solcher Studien. Den schärfsten geschichtlichen Gegensatz zur Gnosis stellte er in seinem „Antignostikus oder Geist des Tertullian“ (1824. 1849) dar. In dieser Schrift führte er in einer Analyse der Schriften Tertullian’s ein lose gefügtes System seiner Ideen vor.

Die Berliner Akademie der Wissenschaften ehrte N. dadurch, daß sie ihn 1839 zu ihrem Mitgliede machte. Da sie aber nach ihren Statuten für die speciellen Fachwissenschaften der Theologie, Jurisprudenz und Medicin keinen Ort hatte, so wurde N. der Abtheilung für Geschichte eingegliedert, wie dies auch Savigny geschah. Jener hielt am 4. Juli seine Antrittsrede über den Zusammenhang der Theologie mit den allgemeinen Wissenschaften. Dann hat er vom 12. April 1841 bis zum 20. Juni 1850 sechs seiner vortrefflichsten Abhandlungen in den Sitzungen der Akademie gelesen: 1. Charakteristik des Eustathius von Thessalonich in seiner reformatorischen Richtung. 2. Ueber die welthistorische Bedeutung des Buches des Plotinos gegen die Gnostiker. 3. Ueber die Eintheilung der Tugenden bei Thomas Aquinas. 4. Ueber die geschichtliche Bedeutung der Pensées Pascal’s für die Religionsphilosophie insbesondere. 5. Ueber Mathias von Janow als Vorläufer der deutschen Reformation. 6. Ueber die Secte der Yeziden. Unter seinen übrigen größeren Abhandlungen sind auszuzeichnen eine zweite über Pascal’s Auffassung des eigenthümlich Christlichen im Verhältniß zu der allgemeinen Weltbetrachtung und dem Allgemeinen des religiösen Bewußtseins. Ferner zwei in das Jahr 1850 fallende: die schon erwähnte tiefsinnige Abhandlung über das Verhältniß der hellenischen Ethik zur christlichen; und: das verflossene halbe Jahrhundert in seinem Verhältnisse zur Gegenwart. Die für die Akademie bestimmten Abhandlungen [340] sind mit den genannten drei zusammengestellt von J. L. Jacobi: Wissenschaftliche Abhandlungen von Dr. August Neander. 1851. – Als mit dem Jahre 1849 Tholuck’s Litterarischer Anzeiger zu erscheinen aufhörte, entschloß sich N. in Verbindung mit Nitzsch in Berlin und Julius Müller in Halle zur Gründung der deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben, um in ihr ein neues publicistisches Organ für die theologische Richtung zu besitzen, welche von ihm und jenen Freunden vertreten war. Dieser Zeitschrift sind die beiden letztgenannten Abhandlungen entnommen.

Unter den praktisch kirchlichen Unternehmungen von allgemeinerer Bedeutung sind es die Heidenmission und die Bibelgesellschaft, um welche er besondere Verdienste hat. Die Berliner Missionsgesellschaft verdankt hauptsächlich seiner Anregung ihre Entstehung, und die Bibelgesellschaft unterstützte er durch viele zum Theil inhaltreiche Festprogramme. Auch unter seinen Universitätsprogrammen ist Werthvolles, vorzüglich de Georgio Vicelio. Ebenso gehören der Reformationsgeschichte die Abhandlungen über Theobald Thamer 1842 und über Melanchthon in Piper’s Evang. Kalender 1851. – Eine Anzahl kürzerer und längerer Abhandlungen hat N. selber zusammengefaßt: „Kleine Gelegenheitsschriften.“ 3. Aufl. 1829. „Das Eine und Mannigfaltige des christlichen Lebens“ 1850.

Zum Gedächtniß A. Neander’s. Berlin 1850. Darin Neander’s Heimgang von S. Rauh, und Reden von Strauß, Krummacher, J. Nitzsch. – Deutsche Zeitschr. f. chr. Wissenschaft u. chr. Leben. 1850. Nr. 29. 30 (H. Rossel, J. L. Jacobi 1851). – Theolog. Studien u. Kritiken 1851: C. K. Kling, A. Neander S. 459 ff. 516 ff. Hagenbach, Neander’s Verdienste um d. Kirchengeschichte, S. 543 ff. – Neuer Nekrolog der Deutschen, Jahrg. 28, Nr. 125 (v. B. Hain). – O. Krabbe, A. Neander. Hamburg 1852. – F. Ch. Baur, Die Epochen der kirchl. Geschichtsschreibung. 1852. S. 148. – Uhlhorn, Die ältere K. G. in ihren neueren Darstellungen, Jahrb. f. deutsche Theologie 1857. S. 603 ff. – Herzog’s Real-Encyclop. Art. Neander. – Ullmann, A. Neander, Piper’s Ev. Kalender 1859. 1860. – J. L. Jacobi, Erinnerungen an A. Neander. 1882.