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ADB:Vatke, Johann Karl Wilhelm

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Artikel „Vatke, Johann Karl Wilhelm“ von Max Heinze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 508–510, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vatke,_Johann_Karl_Wilhelm&oldid=- (Version vom 6. Oktober 2024, 19:52 Uhr UTC)
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Vatke: Johann Karl Wilhelm V., Theolog hegelscher Richtung, geboren am 14. März 1806 zu Behndorf in der Provinz Sachsen, in der Nähe von Helmstedt, war der jüngste Sohn eines Pfarrers der kantisch-rationalistischen Weise, der schon 1817 starb. Die Mutter zog mit den Kindern nach Helmstedt, woselbst sie auch schon 1818 ihnen durch den Tod entrissen wurde. Von 1816–1820 war V. Schüler des Gymnasiums in Helmstedt, da es aber mit dem Unterricht in der Prima daselbst nicht gut bestellt war, siedelte er nach Beschluß des Vormundes nach Halle über, wo er in das Waisenhaus der Francke’schen Stiftungen aufgenommen wurde und die lateinische Schule bis zu seinem Abgang auf die Universität (Herbst 1824) besuchte. In dem Zeugniß der Reife wird ihm nachgerühmt, daß er vorzügliche Neigung zu den Wissenschaften bewiesen, den Werth mehrseitiger Geistesbildung anerkannt und über das Aufgenommene selbständig nachgedacht habe. Er widmete sich dem theologischen Studium aus voller Ueberzeugung und zwar zuerst zwei Jahre in Halle, wo er durch den Hebräer Gesenius, den Dogmatiker Wegscheider und den Kirchenhistoriker Thilo besonders angezogen wurde; hierauf studirte er drei Semester in Göttingen, wo er sich namentlich durch Ewald anregen ließ, auch den Philosophen Gottlob Ernst Schulze schätzen lernte, den er noch später für einen der schärfsten Kritiker der Kant’schen Philosophie hielt. Ostern 1828 ging V. nach Berlin, wo der Kirchenhistoriker Neander, Schleiermacher, Marheineke, aber vor allem Hegel Einfluß auf ihn gewannen; des letzten tiefen Geist bewunderte er bald und sagte von ihm, er verdiene mit Recht den Namen eines Philosophen. 1830 habilitirte er sich in Berlin als Privatdocent der Theologie auf Grund einer nicht gedruckten Dissertation: „De Platonicae philosophiae ratione ad doctrinam Clementis Alexandrini“ und nach besonderem Licentiatenexamen. Er ist damals überzeugt davon, daß er die ewigen Wesenheiten erkenne, wie sie seien; eine seiner Thesen, die er bei seiner Habilitation aufstellte, lautete: Deus cognosci potest, qualis est. Als Anhänger Hegel’s und als scharfer Kritiker des Alten Testaments hatte V. die heftigste Gegnerschaft der orthodoxen Theologen, namentlich des Professors Hengstenberg, zu erfahren, der als Mitglied der Prüfungscommission auf alle mögliche Weise die Studirenden von dem Besuch der Vorlesungen Vatke’s abzuhalten und diesen selbst in seiner Laufbahn zu hindern suchte. So pflegte er den Studirenden zu sagen: „Hören Sie bei mir und bei Vatke, so ist das gerade so, als wenn sie vor und hinter den Wagen ein Pferd anspannen, der Wagen kommt dann nicht von der Stelle“. Zum außerordentlichen Professor wurde V. zwar im J. 1827 ernannt, zunächst ganz ohne Gehalt, und zwar auch dies erst nach manchen Schwierigkeiten, und nachdem Marheineke und Nitzsch lange Gutachten über Vatke’s wissenschaftliche Stellung hatten einreichen müssen; zu einer ordentlichen Professur hat er es nicht gebracht, obwol sein Einfluß auf die Studenten ein umfassender und tiefgehender war, und seine Vorlesungen zum Theil sehr stark, am stärksten die über biblische Theologie des Alten Testaments, in der er im Winter 1833 gegen 140 Zuhörer hatte und fleißig besucht wurden. Eine in Anregung gebrachte Berufung zu [509] einem Ordinariat nach Königsberg zerschlug sich, weil das verlangte Gutachten der Berliner Facultät, trotzdem daß Marheineke sehr warm für V. eintrat, ungünstig ausfiel; eine viel später erfolgte Anfrage, ob er geneigt sei, als Ordinarius nach Bern zu gehen, verneinte er. Aus Anlaß seines 50-jährigen Docentenjubiläums wurde er von der Jenenser theologischen Facultät zum Ehrendoctor der Theologie ernannt[WS 1]. Zuletzt bezog er ein Gehalt von 800 Thlrn., war aber durch seine Frau, Minna geb. Döring aus Berlin, in sehr gute Vermögensverhältnisse gekommen. Er starb in Berlin am 19. April 1882, nachdem er längere Zeit vorher leidend gewesen war. In, für beide Theile, sehr gewinnreichem Freundschaftsverhältniß stand er zu David Strauß bis zu dessen Tode, seitdem dieser 1881 nach Berlin zur Erweiterung seiner Studien gekommen war; mit ihm stimmte er auch namentlich in den früheren Jahren in der wissenschaftlichen Richtung meist überein und stand mit ihm in einem regen Briefwechsel. Von dem Minister v. Altenstein, von dem Ministerialrath für Universitätsangelegenheiten Johannes Schulze, von der Mehrzahl seiner Collegen, unter denen sich in den letzten Jahren von Vatke’s Leben auch C. Zeller befand, auch von dem eine andere philosophische Richtung als er verfolgenden Trendelenburg, wurde er als Kritiker und Denker hochgeschätzt und erfreute sich als charaktervolle Persönlichkeit allseitiger Achtung. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß V. musikalisch sehr begabt war und namentlich große Vorliebe für Bach hatte, dessen Sachen er vorzüglich vorzutragen wußte. Der Kreis von Vatke’s Vorlesungen war ein ziemlich umfangreicher. Er fing mit solchen über Hiob, alttestamentliche Theologie und Thessalonicherbriefe an, las dann bald über Psalmen und Einleitung ins Alte Testament, bei welcher er namentlich seinen Hegel’schen Standpunkt deutlich erkennen ließ, ferner über Genesis, Jesaias, über Epheser-, Colosser-, Philipper- und Römerbrief, über biblische Theologie des Alten wie des Neuen Testaments, Paulinischen Lehrbegriff, über Geschichte der neueren Theologie, sodann über Religionsphilosophie, Pantheismus und Theismus und über Wesen und Ursprung der Sünde. Der bekannte schwäbische Theolog Gerok urtheilte über seine Vorlesungen: „Von Theologen der hegelschen Schule profitirten wir am meisten bei V., dessen gründliches Wissen, besonnene Kritik und klare Darstellung uns besonders einleuchtete, während auch seine Persönlichkeit durch vielseitige Bildung, edle Humanität und feine Formen ansprach.“

Ein fruchtbarer Schriftsteller ist er nicht gewesen, obwohl seine Gelehrsamkeit und eigene Gedankenarbeit ihn sehr dazu befähigten. Er scheute Veröffentlichungen, weil er fürchtete, späterhin das frühere nicht mehr vertreten zu können. Nur zwei größere Werke sind von ihm erschienen, zuerst „Die biblische Theologie, wissenschaftlich dargestellt. Bd. I.: Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt“ (Th. I, Berlin 1835), und dann „Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältniß zur Sünde und zur göttlichen Gnade wissenschaftlich dargestellt“ (Berl. 1841). Das erste dieser Bücher war eine wissenschaftliche Leistung, durch die er sogleich als Gelehrter bekannt und von den Unbefangenen in hohem Maaße anerkannt wurde. Wenn auch V. durch seinen Hegel’schen Standpunkt veranlaßt wurde, vielfach zu construiren, indem sich Thatsache und Begriff durchdringen sollten, und es ihm namentlich auf die Entwickelung des Hegel’schen Religionsbegriffs ankam, so hat er doch mit der Speculation geschichtlichen Forschungsgeist und Kritik in einer Weise verbunden, daß einer der hervorragendsten Gelehrten auf diesem Gebiete noch 1875 sagen konnte: „Vatke’s Buch ist der bedeutendste Beitrag, welcher überhaupt je zur Geschichte des alten Israel geleistet worden ist“. Das Werk über die menschliche Freiheit, das nicht nur diese, sondern eigentlich alle christlichen Dogmen behandelt und das Wesentliche derselben in die Dialektik aufzunehmen versucht, ist eines der [510] beachtenswerthesten aus der Hegel’schen Schule, obwohl es schon vielfach von den Ansichten des Meisters abweicht, namentlich darin, daß die Religion nicht mehr bloß theoretisch auf die Vorstellung bezogen wird, sondern eine „praktische Grundrichtung des Geistes, nämlich die praktische Vermittelung mit dem Göttlichen“ sein sollte. Später wendete sich V. noch mehr von der Hegel’schen Lehre ab, indem er den Naturwissenschaften mehr Einfluß einräumte, auch Kant etwas mehr zur Geltung kommen ließ und nach concreterer Fassung des Systems trachtete. Er wurde infolge dessen von reinen Hegelianern als Pseudohegelianer bezeichnet, der wie Zeller durch Zurückgehen auf den Kriticismus Kant’s die Hegel’sche Dialektik vernichten wolle. Von Werth ist es zu sehen, wie er sich zu seines Freundes Strauß „Altem und Neuen Glauben“ stellte, woraus man zugleich erkennt, wie V. doch viel mehr Idealist blieb und auch noch spät viel enger mit Hegel zusammenhing als Strauß. In einem Briefe an diesen äußert er sich folgendermaßen: Die Frage: „Sind wir noch Christen?“ verneint er, wenn man urchristliches oder orthodoxes Christenthum meine, er bejaht sie, sofern man das christliche Princip in dem Strom der geistigen Entwickelung verstehe, derselbe sei dann befreit von der früheren Schranke, aber der Weltgeist habe es nicht anders einführen können. Die zweite Frage: „Haben wir noch Religion?“ beantwortet er ganz wie Strauß, stellt sich aber auf die Seite der Philosophie, welche ein Absolutes als wirksames, einheitliches und geistiges Princip annehme und dadurch den Mangel der religiösen Vorstellung ersetze. Er bete allerdings nicht zu einer Person, aber er versenke sich in den Gedanken und in das Gefühl eines intensiv Unendlichen, was inhaltreicher sei als das religiöse Gebet. Ein Gegner Darwin’s sei er nicht, habe aber zu wenig Kenntniß von ihm, als daß er über seine Lehre eine bestimmte Ansicht aufstellen könne, nur verwerfe er den Materialismus, weil er die Einheit der Principien und der Elemente durchaus nicht erkläre. Zugleich fordert er Strauß auf, wenn es seine Ueberzeugung erlaube, in einer späteren Auflage den idealen Factor des Weltprocesses mehr in den Vordergrund zu ziehen.

Nachdem aus dem litterarischen Nachlaß Vatke’s in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 1885 die Aufzeichnungen über Pentateuch Josua und die Gesammtansicht über die Bücher Samuelis und der Könige veröffentlicht waren, gab Hermann G. S. Preiß Vatke’s ganze „Historisch-kritische Einleitung ins Alte Testament“ (Bonn 1886), heraus. Von religionsphilosophischen Arbeiten veröffentlichte Hilgenfeld in der erwähnten Zeitschrift 1884: „Absolute oder relative Abhängigkeit?“, gab Benecke in seiner Biographie Vatke’s ein Stück aus dessen historischer Einleitung zur philosophischen Theologie nach einem Collegienheft heraus und endlich Hermann G. S. Preiß W. Vatke’s: „Religionsphilosophie oder allgemeine philosophische Theologie“ nach Vorlesungen, (Bonn 1888). Diese Religionsphilosophie hat einen reichen Inhalt, gibt im ersten Theil eine philosophische Vorbereitung für die Philosophie der Religion, deren erster Abschnitt eine empirische Entwickelung der Erkenntnißlehre mit umfaßt, im zweiten Theil eine Darstellung der Religion und Theologie, wobei die psychologische Erscheinung der Religion im menschlichen Selbstbewußtsein am eingehendsten behandelt wird, und im dritten ausführlichsten Theil die Darstellung der bestimmten einzelnen Religionen, die auf einem ausgedehnten und sicheren Wissen beruht.

Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften, dargestellt von Hnr. Benecke. Mit Vatke’s Bildniß, Bonn 1883. Es ist dies eine ausführliche, mit großer Liebe geschriebene Biographie, für die namentlich eine große Anzahl von Briefen benutzt ist. – D. A. Hilgenfeld, W. Vatke, Zeitschrift für wissensch. Theol. 25, 1883, S. 194–215.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ernant