ADB:Jacobi, Justus Ludwig
Meinecke’s Leitung sowol seine tüchtige classische Bildung als auch den gedrungenen Stil seiner späteren Arbeiten von den Vorbildern der Alten [603] empfing. Im Jahre 1834 bezog er die Universität Halle, um Theologie zu studiren. Noch zog der Philologe Bernhardy daselbst ihn mehr an, als der trockne Rationalismus eines Gesenius und Wegscheider. Die theologische Wissenschaft ging ihm erst auf, als er, 1835 nach Berlin zurückgekehrt, zu den Füßen August Neander’s jenen göttlichen Pragmatismus verstehen lernte, den der Vater der Kirchengeschichte wie eine Unterströmung in den mannichfachen Wandlungen des Lebens der Kirche seinen Schülern aufzeigte. Es war ein dreitheiliges Schema, nach welchem der Verlauf der Geschichte beschrieben wurde. Eine Zeit verhältnißmäßiger Reinheit der christlichen Ideen, die von Jesu Christo ausgehn, in der alten Kirche; eine Entartung im Mittelalter, und eine Erneuerung des ursprünglichen christlichen Wesens und Lebens seit der Reformation. Gemessen wurde Werth oder Unwerth der religiösen Erscheinungen an dem Maßstab der Rechtfertigung aus dem Glauben, der in einzigartiger Weise Mittelpunkt der wissenschaftlichen, wie der frommen Herzensüberzeugung war. Auf die Aeußerungen des subjectiven christlichen Lebens wurde mehr gesehn, als auf die Darstellung der reinen Lehre, wie denn Gottfried Arnold’s Kirchen- und Ketzerhistorie ein Lieblingsbuch jener Kreise war. – J. ward der vornehmste Schüler Neander’s, dem Geiste wie dem Herzen des geliebten Lehrers gleich nahe stehend. Allerdings beschritt er selbständige Bahnen, namentlich sofern sein beobachtendes Auge und sein nüchternes Urtheil mehr den menschlichen Factoren in den Ereignissen der Geschichte zugewandt war. Ihm war eine zu große Objectivität und gründlichste Kenntniß der Quellen eigen, um dem kirchenhistorischen Schema zulieb den Dingen und Persönlichkeiten ungerecht zu werden. So hatte er auch für die Größe und Bedeutung des Papstthums auf seiner mittelalterlichen Höhe eine volle Würdigung. Aber es ist begreiflich, daß Neuere den constituirenden menschlichen Factoren am Bau der Kirchengeschichte noch intensiver nachgehn und andere, wenn auch pathologische Seiten aufdecken, während die Neander’sche Schule in der Zeit des wiedererwachten evangelischen Glaubens den unmittelbaren göttlichen Factor stärker hervorkehrte.
Jacobi: Justus Ludwig J., Professor der Kirchengeschichte in Halle, ward am 12. August 1815 zu Burg bei Magdeburg geboren. Eines Landwirths Sohn, hat er unter dem Darniederliegen der Landwirthschaft in jenen Jahrzehnten eine harte Jugend durchlebt. Verwandte brachten den begabten Knaben auf das Joachimsthal’sche Gymnasium nach Berlin, wo er unterUm die verehrungswürdige Gestalt des Lehrers scharte sich ein Kreis, der durch warme Freundschaft verbunden war. Rossel, der princeps juventutis, Dichter, Bildhauer und Theologe zugleich, der Westfale Konstantin Schlottmann, Ludwig Rauh, Karl Heintz, später Gesandtschaftsprediger in Rom, gehörten zu Jacobi’s näheren Freunden. Es war diesen Jünglingen eigen, sich in der Wahrheit gegenseitig zu fördern. Ihr Briefwechsel legt davon Zeugniß ab, wie sie die tiefsten Regungen auch des sündigen Herzens vor einander nicht verhehlten. Diesen ernsten pietistischen Zug bestärkte der Baron v. Kottwitz, der in seinem Arbeiterheim in der Alexanderstraße J. besonders in sein Vertrauen gezogen hatte. Dem Einfluß Neander’s und der wissenschaftlichen Richtung andererseits, die von dem damals schon heimgegangenen Schleiermacher ausging, verdankte J. eine Klärung und Ausdehnung seines theologischen Standpunkts – ein weites Herz bei engem Gewissen – welches in der sog. Vermittlungstheologie zeitlebens den entsprechenden Ausdruck fand.
Nachdem er sich 1842 an der Universität habilitirt hatte, schrieb er seine erste Schrift: „Die Lehre des Pelagius. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte“ (Leipzig, 8°, 103 S.). Sie verräth bereits eine seltene Reife des abwägenden, dogmatischen Urtheils, eine feine Charakterisirung der Gegensätze zwischen Augustin und seinem Gegner, nicht ohne Schlaglichter auf den zeitgenössischen Rationalismus und seine Bekämpfung durch die neuerwachte reformatorische Lehre von Sünde und Gnade zu werfen. Noch lebhafter trat er in die Tagesfragen ein, als A. H. Daniel im puseyitischen Sinne Thesen veröffentlicht [604] hatte, welche der Tradition ein ungemessenes Recht zuschrieben. Gegen ihn ließ J. seine „Kirchliche Lehre von der Tradition und heiligen Schrift in ihrer Entwicklung, mit besonderer Berücksichtigung der theologischen Controversen von Dr. Daniel“ (Berlin 1847, 8°, XXVIII u. 185 S.) ausgehn. Seine Ader treffender polemischer Abwehr gegen römische und romanisirende Tendenzen regt sich hier zum ersten Mal nebst gründlichen Untersuchungen über Inspiration und Schriftlehre altkirchlicher Zeiten.
Inzwischen (1847) zum Extraordinarius befördert, betheiligte er sich in feuriger vaterländischer Gesinnung an den Ereignissen des Revolutionsjahrs, ermunterte die akademische Jugend zur Königstreue und griff selbst mit Piper, dem christlichen Archäologen, zur Flinte, die Güter der Nation zu bewachen. Bitter empfand er den Abzug der Armee von Berlin, die nachherige Schmach von Olmütz. Er hielt es mit Ranke, daß den Historiker von selbst seine Studien auf conservative Bahnen lenkten. Freilich gegen die Auswüchse einer reactionären Partei erklärte sich sein gesunder Sinn, und seine vermittelnde Richtung in Theologie wie in Politik hat ihn von der hochkirchlich und conservativen Clique seiner Zeit nicht ohne manche Nackenschläge seitens derselben fern gehalten. Die Folge war, daß er, wie leider soviele der Besten seiner Zeit, sich am politischen Leben überhaupt nicht betheiligte.
In der wiedergekehrten Ruhe nach dem Sturm gründete er seinen Haushalt mit der Geliebten der Jugend, der Tochter des Pastors Hertzberg in Jerichow, die klug und praktisch, eine echte Professorenfrau und Mutter vieler Studenten in Königsberg und Halle, ihn durchs Leben begleitete und neunzigjährig (1904) ihm nachgefolgt ist. – In geordneten häuslichen Verhältnissen, in beglückender Gemeinschaft mit den Freunden und besonders mit dem Neanderschen Geschwisterpaar begann er sein Hauptwerk: das „Lehrbuch der Kirchengeschichte“ (Erster Theil, Berlin 1850, XVI u. 405 S.) zu schreiben. Durch das quellenmäßige Studium der ersten christlichen Jahrhunderte, durch prägnante Schilderungen der großen Gestalten jener Zeit ausgezeichnet, ist es lange das Handbuch seiner Zuhörer gewesen und hat zur Ausbreitung nüchterner, objectiver Geschichtsforschung beigetragen. Warum das Werk nie vollendet ward? Er hat es selbst am tiefsten beklagt. Die pietätvolle Herausgabe des Neanderschen Nachlasses hinderte ihn in den Jahren der Kraft. Zunehmende Augenschwäche und eine gewisse Zurückhaltung in der Production, die in seinem Charakter lag, schoben die Herausgabe weiterhin auf. Viele eigene werthvolle Studien wurden von Anderen monographisch überholt, etwas von dem vorhandenen Material ist von Förster in Halle in den Beyschlag’schen Blättern herausgegeben worden. Es war sein Kreuz, daß das Buch unvollendet blieb.
Neander’s Tod 1850 bewegte die theologische Welt und den Freundeskreis. Für J., seinen Vertreter in den Vorlesungen von 1850–51, ward er das Signal, daß ihn der Minister auf den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl nach Königsberg berief. Mit frischer Kraft griff er in die etwas obsolet gewordenen Verhältnisse der Facultät und namentlich des Examinatoriums ein. Die Herzen der Studenten wandten sich dem anregenden jungen Professor zu. Er selbst hatte volles Verständniß für den klugen, treuherzigen Charakter dieser Ostpreußen, deren Gesinnung ersetzte, was dem Lande an Reizen abging. Feste Freundschaftsbande schlossen sich über die Königsberger Zeit hinaus. Hier unternahm er die mühevolle Herausgabe von Neander’s „Christlicher Dogmengeschichte“, zu welcher er werthvolle Ergänzungen in den Fußnoten bot. Sie erschien in 2 Theilen Berlin 1857. Die Neander’sche Ethik folgte. Seine eignen Studien über die Gnostiker wurden fortgesetzt. Sie finden sich niedergelegt [605] in der 2. Auflage von Herzog’s Realencyklopädie. Eine glückliche kritische Entdeckung waren jene altkirchlichen Fragmente, welche Cardinal Pitra dem Hilarius von Poitiers zugeschrieben hatte. J. erkannte sie als Commentare des Theodor von Mopsuestia zu den kleinen paulinischen Briefen. – Wie er mit lebhaftem Interesse an den damals wogenden Kämpfen über Union und Confession sich betheiligte, so trat er auch persönlich und mit einer noch jetzt brauchbaren Schrift der Secte der Irvingiten, die in Königsberg ihr Wesen trieb, entgegen („Die Lehre der Irvingiten oder der sog. apostolischen Gemeinde verglichen mit der heiligen Schrift“, 2. Aufl., Berlin 1868).
Inzwischen war in Halle Thilo gestorben. Die Facultät wünschte J. als Nachfolger. Der Minister v. Raumer, beeinflußt von der Gerlach’schen Gruppe, widerstrebte. Es gab manches Herzweh und einen merkwürdigen Kampf um die Stelle, den Friedrich Wilhelm IV., in diesem Augenblick für die Union gestimmt und von dem dem Königsberger Professor wohlgeneigten Oberstkämmerer Grafen Dohna bestimmt, durch ein eigenhändiges Handschreiben zu Gunsten Jacobi’s entschied. 1855 siedelte er nach Halle über, wo er nach der Zusammensetzung der Facultät sowie nach den äußeren Bedingungen dieser im Herzen Deutschlands gelegenen Universitätsstadt das ersehnte Feld seiner Wirksamkeit fand. Hier baute er sich das Haus neben Julius Müller auf dem Weidenplan. Hier vertrat er mit den gleichgesinnten Collegen, zu welchen er bald auch den Freund der Jugend, C. Schlottmann aus Bonn hinzog, die hallische Vermittlungstheologie. Durchaus feststehend auf dem articulus stantis et cadentis ecclesiae, der Rechtfertigung durch den Glauben, ja z. Th. auf der kirchlichen Dogmatik weiterbauend, kirchenpolitisch der Union warm zugethan, räumte diese Theologie doch den weiter links stehenden Richtungen und der biblischen Kritik eine größere Berechtigung ein, als die confessionelle Theologie zugestehen wollte. So fehlte es nicht an schmerzlichen Kämpfen zwischen Geistern, die sich innerlich nicht so ferne standen. Auf kirchenpolitischem Gebiet kam es nach dem Erlaß der Kirchengemeinde- und Synodalordnung zu der Ablösung der Gruppe der positiven Union von der Mittelpartei. J. bewahrte consequent seinen Standpunkt. Er hielt auf das corpus academicum und seine Rechte, was bei der gleichgestimmten Facultät ein Vorzug war. In mancher bedeutsamen Entscheidung ward von den Behörden ihr Votum eingeholt. Als Vorsitzender der Prüfungscommission wahrte er seiner Facultät das Recht des ersten theologischen Examens. Aber auch die praktischen Liebeswerke erkannte er als Pflicht des Theologen. Mit der Frau Räthin Tholuck ward er im Cholerajahr 1856 der Gründer des Diakonissenmutterhauses für die Provinz Sachsen.
Der Culturkampf nach dem großen Krieg hieß den Kirchenhistoriker eingedenk sein, daß der Name seiner Universität Halle-Wittenberg war. Als Schlottmann wegen seines Erasmus redivivus von Windthorst im Reichstag angegriffen war, vertheidigte ihn der Freund in einer Schrift: „Prof. Schlottmann, die Hallesche Fakultät und die Zentrumspartei“ (Halle, 2., verschärfte Auflage 1883). Es folgten die „Streiflichter auf Religion, Politik und Universitäten der Zentrumspartei“ (ebd. 1883), als die letztere auf eigene, katholische Universitäten drang. Nach 1904 hat ein katholischer Polemiker Wolter den längst Entschlafenen darob angegriffen. „Der Nuntius in Berlin“ (Halle 1885) war eine zeitgemäße Streitschrift, welcher zuletzt ein „Offener Brief an den Pfarrer Woker in Halle“ (1887) folgte. Den Kampfschriften folgten Werke des Friedens. Der alternde Mann kehrte zu den Lehren und Eindrücken der Jugend zurück: Neander und Kottwitz setzte er Denkmale edelster Pietät in den „Erinnerungen an D. Aug. Neander“ und „an den Baron [606] Ernst von Kottwitz“ (Halle, beide Schriften aus dem Jahre 1882). Reife Zeugnisse eines Christen von Männern, in denen Christus Gestalt gewonnen hatte.
Geliebt von den Seinen, verehrt von einem großen Schülerkreis weit über die Provinz hinaus, ergriff ihn ein schweres Blasenleiden, welches er mit der Geduld des christlichen Helden in seinem Diakonissenhaus am 31. Mai 1888 überwand.
- Vgl. D. Justus Ludwig Jacobi und die Vermittlungstheologie seiner Zeit von J. Jacobi. Gotha 1889.