ADB:Oberlin, Friedrich

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Artikel „Oberlin, Friedrich“ von Richard Otto Zoepffel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 99–102, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Oberlin,_Friedrich&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 06:23 Uhr UTC)
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Oberlin: Johann Friedrich O., Pfarrer und Patriarch des Steinthals (im Elsaß), wurde am 31. August 1740 zu Straßburg geboren, als Sohn des Lehrers am protestantischen Gymnasium daselbst, Johann Georg Oberlin und seiner Gattin Maria Magdalena Felz. Die kernige Frömmigkeit des Elternhauses übte früh ihren Einfluß aus auf das aufgeschlossene Gemüth des Knaben. [100] Mit 15 Jahren begann O. auf der heimischen Universität Theologie zu studiren; am meisten angezogen fühlte er sich von den Predigten und Vorlesungen des damaligen Führers des Pietismus in Straßburg, des Professors Siegmund Friedrich Lorenz. 1758 absolvirte er das Baccalaureatsexamen, verblieb aber zunächst noch im elterlichen Hause, bis er 1762 eine Hauslehrerstelle annahm; diese gewährte ihm aber so viel Muße, daß er 1763 mit der These „de virium vivarum atque mortuarum mensuris“ zum Doctor der Philosophie promoviren konnte. Als ihm, der sich eben entschlossen, einer Vocation als Prediger bei einem französischen Regiment zu folgen, der Antrag gemacht wurde, die in seelsorgerischer und pecuniärer Beziehung äußerst schwierige Pfarrei Waldersbach im Steinthale zu übernehmen, war er sofort bereit, die ihm überaus sympathische Feldpredigerstelle einem anderen Bewerber abzutreten, um sich als Seelsorger zu den ärmlichen Bewohnern dieser Bergeswildniß zu begeben (1767). Durch seine herzerweckenden, gottesinnigen, naturverklärenden Predigten, durch seine anhaltende, persönliche Vermahnung, durch seine ununterbrochene Fürbitte, suchte er jedes einzelne Gemeindeglied zu einem „rechtschaffenen, wahren Christen“ zu machen und alle Gemeindeglieder unter einander „in ihrem Erlöser zu vereinigen“. Als er nun aber 1781 zu diesem Zweck eine besondere „christliche Gesellschaft“ gründete, mußte er sie nach zweijährigem Bestehen wieder auflösen, da er zu bemerken glaubte, daß sie in der Gemeinde statt einer engeren Vereinigung eine Spaltung hervorgerufen habe. Der 1792 in Frankreich proclamirten Republik hat O. eine ebenso glühende Begeisterung entgegengebracht, wie der ihm eng befreundete katholische Abbé Gregoire, er hat sie durch Feste verherrlicht, in Reden gefeiert, sie galt ihm mit ihrer Forderung, daß jeder Einzelne blos für das Allgemeine leben soll als Verkörperung des christlichen Ideals. Erklärt auch diese Identificirung christlicher und republikanischer Tugenden die anfängliche Sympathie Oberlin’s mit der Republik, so doch nicht seine spätere bedingungslose Unterwerfung unter die die Kirche zerstörenden Gesetze des Schreckensregiments. Nur die Forderung, die der nunmehrige Bürgerpfarrer an sich selbst wie an alle seine Gemeindeglieder stellte, die Forderung des absoluten Gehorsams gegen jede Obrigkeit die die Gewalt hat (Römer 13, 1), macht es begreiflich, daß er den Beschlüssen des Nationalconvents gehorsamte und allen öffentlichen Gottesdienst einstellte (9. April 1794), das Ornat ablegte, sich selbst hinfort nur noch als „Bürger“ bezeichnete, beschwichtigende Glaubensbekenntnisse abfaßte; hatte er zuerst die Kirche durch einen Club, die Predigt durch eine in demselben gehaltene Ansprache des Bruder Redners, als welcher er selbst auftrat, zu ersetzen gesucht, so enthielt er sich doch später aller geistlichen Unterweisung so wie jeder Amtshandlung. O. ist eine viel zu kühne und gottvertrauende Natur, als daß man als Triebfeder dieses Benehmens Feigheit und Menschenfurcht vermuthen könnte. Wie während der Schreckensherrschaft das Pfarrhaus zu Waldersbach das Asyl vieler, vor der Wuth der Jacobiner schutzsuchender Flüchtlinge war, so bewies er auch persönlich seine religiöse Standhaftigkeit, als er in den letzten Tagen des Juli 1794 nach Schlettstadt zu einem Verhör, resp. zur weiteren Abführung in die Gefangenschaft geschleppt wurde. Der Forderung der Districtsbeamten, seine christliche Ueberzeugung zu verleugnen, trat er mit einer solchen Entschiedenheit entgegen, daß sie den Ehrfurcht gebietenden Mann sofort entließen. Als es ihm der Umschwung in dem Pariser Nationalconvent ermöglichte, am 22. März 1795 den Gottesdienst wieder aufzunehmen, da weihte er sich mit dem früheren rastlosen Eifer seiner seelsorgerischen Thätigkeit. –

Seine besondere Aufmerksamkeit widmete O. stets dem Jugendunterricht. Es gelang ihm, indem er sich an die Mildthätigkeit der Glaubensgenossen wandte, nicht nur in Waldersbach, sondern auch in den vier Filialen der Pfarrei, Schulgebäude [101] aufzurichten. Die gesammte zartere Jugend seiner Gemeinde vertraute er der Obhut von „Aufseherinnen“ an, wodurch er den Grund zu den Kleinkinderschulen legte. In allen Schulen und in jedem religiösen Unterricht war es sein Bestreben, das Patois, welches im Steinthale gesprochen wurde, durch ein reines Französisch zu verdrängen.

Was aber O. besonders charakterisirt ist, daß er alles Irdische in den Dienst des Himmlischen zu stellen wußte, daß er in der Gewinnung geordneter gesellschaftlicher Zustände und eines auf landwirthschaftlichen und technischen Fortschritten basirenden Wohlstandes die Vorbedingung sah für eine gesegnete, seelsorgerische Wirksamkeit. So sorgte er unermüdlich für Anlegung von Straßen, für Erbauung von Brücken, für Anpflanzung von Fruchtbäumen, für größere Ergiebigkeit der Wiesen und Kartoffeläcker, für Verbesserung der Viehzucht u. s. w.; Mit den verschiedenen Gewerken machte er das Steinthal dadurch bekannt, daß er junge Leute auf seine Kosten als Maurer, Schlosser, Tischler etc. ausbilden ließ. Seinen Bemühungen ist es ferner zuzuschreiben, daß wohlhabende Fabrikanten im Steinthal industrielle Etablissements gründeten, die den armen Bewohnern neue Einnahmsquellen eröffneten, daß ein landwirthschaftlicher Verein, eine Sparkasse u. s. w. geschaffen wurde. Schon 1787 äußerte sich Abbé Gregoire über das Steinthal und Pfarrer O. folgendermaßen: „O. hat es in der Erziehung des Volkes sehr weit gebracht, und man erstaunt in diesem wilden Steinthal unter den Bauern einen entwickelten Verstand, edle Gefühle, liebenswürdiges Betragen und reine Sitten zu finden.“ Eine ebenso hilfsbereite wie verständige Theilnehmerin an allen seinen Plänen fand „Papa O.“ – wie er allgemein im Steinthal hieß, an seiner Gattin, Marie Salome, geb. Witter, die er am 6. Juli 1768 geehelicht hatte. Nach ihrem am 17. Jan. 1783 erfolgten Tode – sie starb einige Wochen nach der Geburt des neunten Kindes – wurde Oberlin’s Magd, Luise Scheppler, die opferfreudige Gehülfin bei seiner umfassenden Liebesthätigkeit an seiner Gemeinde. Die patriarchalische Fürsorge Oberlin’s für das materielle und geistige Wohlergehn der Steinthaler gelangte zu immer weiterer Anerkennung. Schon der Nationalconvent hatte ihm 1794 seine Bewunderung gezollt; später ließ ihm Kaiser Alexander von Rußland sagen, daß er „ihn liebe und verehre“, und stellte ihm bei dem Einfall der Alliirten einen Schutzbrief aus; weiterhin verlieh ihm die königliche Central-Ackerbaugesellschaft zu Paris 1818 die große goldene Medaille, ja Ludwig XVIII. erhob ihn 1819 zum Ritter der Ehrenlegion. Obwohl O. mehrfache Anerbietungen erhielt, Waldersbach mit besser gestellten Pfarreien zu vertauschen, blieb er seinem Steinthal bis zu seinem Tode getreu; er starb am 1. Juni 1826, tief betrauert nicht blos von seiner Gemeinde, sondern auch von allen Protestanten des Elsaß, ja auch von katholischen Laien und Geistlichen.

Oberlin’s religiöser Standpunkt war kein engherziger, mit frommen Herrnhutern, Reformirten und Katholiken fühlte er sich im Glauben eng verbunden: er wünschte, daß sich mit der Zeit alle Protestanten Katholisch-evangelische nennen möchten. In seinem auf Wunsch des Sicherheitsausschusses 1794 verfaßten Glaubensbekenntniß sprach er das Verlangen aus, daß „jedes seichte, unfruchtbare Dogma, welches zu neuen Streitigkeiten führe, verbannt“ werde. Besonders feind war O. der Lehre von den ewigen Höllenstrafen. Seine nächsten Geistesverwandte waren Frau v. Krüdener, Lavater, Jung-Stilling. Mit den beiden Letzteren hatte er auch das Streben gemein, die Geheimnisse der Ewigkeit und des jenseitigen Lebens zu enträthseln. Vermittelst Wandkarten stellte er dar, wie es muthmaßlich in der anderen Welt aussehen werde. Mit derartigen Fragen beschäftigt sich auch Oberlin’s Schrift: „Zion und Jerusalem.“ O. [102] glaubte an Geistererscheinungen, mit seiner verstorbenen Frau unterhielt er einen ununterbrochenen, durch Träume vermittelten Verkehr.

Lutteroth, Notice sur O., Paris 1826. – G. H. v. Schubert, Züge aus dem Leben von O., 8. Aufl. Nürnberg 1845. – Ders., Berichte eines Visionärs über den Zustand der Seelen nach dem Tode, Leipzig 1837. – W. Burckhardt, Oberlin’s vollständige Lebensgeschichte und gesammelte Schriften, 4 Bde. Stuttgart 1843. – L. Spach, O., Paris 1866. – Fr. Bernard, Vie d’Oberlin, Paris 1867. – Bodemann, O. nach seinem Leben und Wirken, 3. Aufl. Stuttgart 1879. – Hackenschmidt in der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, X. Bd., S. 675 ff.