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ADB:Oberlin, Jeremias Jacob

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Artikel „Oberlin, Jeremias Jacob“ von Ernst Martin in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 24 (1887), S. 96–99, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Oberlin,_Jeremias_Jacob&oldid=- (Version vom 14. Oktober 2024, 06:13 Uhr UTC)
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Oberlin: Jeremias Jacob O., elsässischer Philolog. Er war geboren am 7. August 1735 zu Straßburg, als Sohn eines Lehrers am Gymnasium; sein jüngerer Bruder Fritz war der berühmte Pfarrer im Steinthal. Auf dem Straßburger Gymnasium bis 1750 vorgebildet, hierauf mit dem Französischen während eines längeren Aufenthaltes in Montbéliard vertraut geworden, studirte er auf der Universität seiner Vaterstadt Philosophie und Theologie und ward 1758 Magister der Philosophie mit der im vorhergehenden Jahre erschienenen Dissertation „De Ἐνταφιασμοᾃ sive veterum ritu condiendi mortuos“. Schon 1755 war er als Collaborator seines Vaters am Gymnasium eingetreten; nach dessen Tode 1770 ward er Ordinarius der siebenten Classe, 2 Jahre später der fünften. Frühzeitig hatte er sein Einkommen dadurch verbessert daß er, von seinem Lehrer Schöpflin empfohlen, vornehmen Jünglingen, besonders Schweden, Polen, Russen, welche in Straßburg theils die Universität besuchten, theils die Gelegenheit Französisch zu lernen benutzten, Unterricht in historischen Wissenschaften ertheilte. Aus diesem Unterricht entwickelten sich Vorlesungen an der Universität, welche O. seit 1763 zur Erklärung römischer Schriftsteller und zur Uebung im lateinischen Stil abhielt. 1770 ward er Adjunct der philosophischen Facultät, als welcher er allgemeine Litteraturgeschichte, Denkmälerkunde, Heraldik und Diplomatik vortrug. 1778 gab er, zum außerordentlichen Professor ernannt, die Thätigkeit als Lehrer am Gymnasium auf, dessen Oberaufsicht als Gymnasiarch ihm 1787 übertragen wurde. 1782 erhielt er als Ordinarius die Professur für Logik und Metaphysik, welches Fach freilich seinen eigenen Studien nicht am nächsten lag, aber doch mit Gewissenhaftigkeit von ihm versehen wurde. Auch als Schriftsteller betrat er jetzt dieses Gebiet mit der Dissertation „De vitio subreptionis in omni vita humana obvio (defendet J. D. Weiss)“ 1786, worin er eine Reihe, theilweise interessanter Fälle von Sinnestäuschungen und Fehlschlüssen zusammen stellte. Ein weiteres Feld für seine Thätigkeit gewährte ihm die akademische Bibliothek, an welcher er seit 1763 als Custos angestellt war. Als nach Schöpflins Tod 1771 dessen Sammlungen an die Stadt Straßburg übergingen, besorgte O. deren Verwaltung, obschon dem Namen nach Prof. Koch die Oberaufsicht führte. Unterbrochen wurde diese vielseitige Amtsthätigkeit, abgesehen von kürzeren Besuchen besonders der überrheinischen Städte Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Frankfurt, auch der Klöster S. Blasien und S. Märgen im Schwarzwald sowie der transvogesischen, Senones [97] u. a., durch eine längere Reise nach Marseille, Bordeaux, Paris 1776, zu welcher die städtischen Behörden ihm die Mittel gewährt hatten. Er berichtete darüber in der Zeitschrift „Der Bürgerfreund“ 1776 und in seiner Inauguralrede 1782. Ein besonderes Augenmerk richtete er dabei auf die großen Canalbauten Südfrankreichs, im Anschluß an eine Preisarbeit „Jungendorum marium fluviorumque omnis aevi molimina“, welche 1770–1775 und im letzteren Jahre zusammengefaßt erschien. Wie jener Bericht im „Bürgerfreund“ ist für die weiteren Kreise der Mitbürger bestimmt der „Almanach de Strasbourg“ 1780 und 1781, der „Almanach d’Alsace“ 1783–1789 und der „Almanach du département du Bas-Rhin“ für 1792. Statistische Zusammenstellungen sind hier mit historischen Nachrichten über einzelne Institute verbunden. Historischen Inhaltes sind theilweise auch die Programme des Gymnasiums, welche O. als Gymnasiarch von 1787 ab anfänglich lateinisch, 1793 deutsch, von 1795 an französisch verfaßte.

Im Wechsel dieser Bezeichnungen und Sprachen machen sich bereits die Wirkungen der großen Revolution fühlbar, welche O. selbst sehr wesentlich berühren sollten. Als Gelehrter wie als Bürger hochgeschätzt, konnte er sich der Wahl seiner Mitbürger nicht entziehen, welche ihm eine Reihe von Vertrauensstellen übertrug. Auch war er mit den ersten Schritten der Revolution von Herzen einverstanden; bezeichnend ist, daß er mit dem Hauptvertreter des constitutionellen Clerus dem späteren Bischof Gregoire in freundlichem Briefwechsel stand. Für die Erhaltung der protestantischen Anstalten Straßburgs trat er mit einem Mémoire 1790 ein, worin er die von seinem Collegen Koch in der Nationalversammlung zu demselben Zwecke gehaltenen Reden unterstützte. Erst das Jahr 1792 brachte ihn in Gegensatz zu den Jacobinern, welche alle Protestanten als Feuillants und Aristokraten verschrieen, insbesondere zu Eulogius Schneider. Noch ward in diesem Jahre O. als Deputirter nach Mülhausen geschickt, wo sich damals die Unterwerfung der Stadt unter Frankreich vorbereitete (Strobel, Vaterländ. Gesch. 6, 144). Gegen Ende 1793, als der Volksrepräsentant Saint Just nach dem Elsaß kam um auch hier das Schreckensregiment durchzuführen, und auf Betreiben Monets, des Maire von Straßburg, die Mitglieder der bisherigen Verwaltung des Departements wie die des Districts und der Stadt abgesetzt, und wegen Landesverraths angeklagt wurden, traf auch O. dies Loos. In der Nacht vom 2. November ward er verhaftet und mit den übrigen Verdächtigen nach Metz abgeführt. Umsonst verlangten sie vorher wenigstens gegen die Anklage protestiren zu dürfen, die sich nur auf einen gefälschten Brief stützte. Unterwegs sahen sie sich dem Hohne des Pöbels ausgesetzt; in Metz wurden sie in den Kerker geworfen, anfangs nicht einmal gegen die Kälte geschützt. Nach 3 Monaten durfte O. in das Haus eines Wundarztes Mathias ziehn, welchen die edle Standhaftigkeit des Gefangenen zu einer wahren Bewunderung des patriarche Jérémie, wie er ihn nannte, hinriß. Zu Oberlin’s eigenen Sorgen kam auch die um seinen Sohn, der im Heere der Republik kämpfend in österreichische Gefangenschaft gerieth und erst nach vielem Bemühen in Ungarn ausfindig gemacht werden konnte. Ende 1794 kehrte O. nach Straßburg zurück und ward in den nächsten Jahren von seinen Mitbürgern, später von Napoleon mehrfach dazu berufen, an den öffentlichen Geschäften, insbesondere an der Wiederherstellung der völlig aufgelöften Unterrichtsanstalten Theil zu nehmen. Indem die Stadt es übernahm ein staatliches Lyceum zu errichten und auszustatten, ward es möglich, Gymnasium und Akademie den ursprünglichen Bestimmungen gemäß als protestantische Anstalten wiederhergestellt zu sehen. Die Akademie eröffnete O. am 14. Brumaire des Jahres XI mit einem 1804 gedruckten Discours, [98] einer Uebersicht der Gelehrtengeschichte Straßburgs seit dem Beginn des Humanismus. Auch die Straßburger Bibliothek, welche in Folge der Aufhebung vieler Klöster manchen Zuwachs erhalten, hatte O. als ihr Vorstand neu zu ordnen, eine Arbeit, welche durch mehrmalige Umräumung der durcheinander geworfenen Büchermassen bedeutend erschwert wurde. Den zahlreichen Obliegenheiten seiner verschiedenen Aemter nachzukommen, gestattete ihm seine durch Mäßigkeit erhaltene Gesundheit bis zuletzt. An den Folgen eines Schlaganfalls starb er am 10. October 1806. Ein Denkmal von Landolin Ohmacht, in der S. Thomaskirche 1811 errichtet, verewigt seine Züge.

Zweimal verheirathet hatte er beide Frauen nach kurzer Ehe verloren. Von seinen Söhnen überlebte ihn Georg Jeremias, Professor an der Ecole de Pharmacie zu Straßburg, und zwei Töchter, von denen die eine, verwittwete Schwing, lange Zeit das Hauswesen des Vaters geführt hatte, die andere an den Arzt Verillon in Montaigu bei Clermont verheiratet war. Ein Zeugniß für Oberlins freundliches, offenes Wesen gibt sein ausgedehnter Briefwechsel, aus welchem die an ihn gerichteten Briefe später an die Pariser Bibliothek übergingen. Es sind darin die Gelehrten seiner Zeit in großer Zahl vertreten, Männer der verschiedensten Richtungen und der verschiedensten Fächer. Die Correspondenz erstreckt sich von Palermo bis Kopenhagen und Stockholm, von Madrid bis Konstantinopel. Von Franzosen standen ihm besonders Villoison und Millin nahe, von Deutschen Ring in Karlsruhe, Bodmann in Mainz, Murr in Nürnberg, Zapf in der Nähe von Augsburg. Im Elsaß gehören Grandidier von Zabern aus, Billing, Lerse, Luce, Pfeffel in Colmar zu den Correspondenten Oberlin’s, dessen Anregungen vielfach nachgewirkt haben. Viele der Briefe beziehen sich auf Oberlin’s Mitgliedschaft an gelehrten Gesellschaften; schon 1775 gehörte er der Pariser Académie des Inscriptions, den antiquarischen Gesellschaften zu Rouen, Cortona, Palermo, zu London und Kassel an.

Oberlin’s philologische Schriften zeigen eine große Vielseitigkeit der Interessen. Manche darunter sind mehr als Hilfsbücher für seine Vorlesungen und Uebungen anzusehen, als welche sie theilweise auch in Deutschland benutzt worden sind (s. Bursian, Gesch. der classischen Philologie S. 422). So „Rituum Romanorum tabulae“ 1774, 2. Aufl. 1784; „Artis diplomaticae primae lineae“, 1788, „Litterarum omnis aevi fata“, eine synchronistische Litteraturtabelle, 1789. Auszeichnung verdient sein „Orbis Antiqui monimentis suis illustrati primae lineae“, 1776, 2. Aufl. 1790, wozu ein „prodromus“ schon 1772 erschienen war; es ist dies die erste Monumentalstatistik, nach geographischer Ordnung, wichtig wegen der Beziehung auf manches inzwischen verschwundene Denkmal, manche Sammlung jener Zeit (Stark, Handbuch der Archäologie S. 219). Aus diesem Grunde ist auch Oberlin’s „Museum Schoepflini, I.: Lapides Marmora Vasa,“ 1773, besonders hervorzuheben. Die Fortsetzung dieser Publication unterblieb, weil O. bei den damaligen buchhändlerischen Verhältnissen sich genöthigt sah, derartige Arbeiten auf seine Kosten oder doch Gefahr drucken zu lassen. Kleinere Arbeiten zur Archäologie erschienen in der Miscella litteraria und sonst. Weniger als die auf die reale Seite der Alterthumsstudien gerichteten Arbeiten Oberlin’s haben seine Ausgaben dauernde Anerkennung gefunden, obschon er auch ihnen durch Heranziehung früher unbenutzter Handschriften einen selbständigen Werth zu verleihen suchte: die Schulausgaben von Ovids Tristien, ex Ponto, Ibis 1776. 78, die des Horaz 1788; später die größeren des Tacitus, Leipzig bei Weidmann 1801, des Cäsar, ebd. 1805. Die Methode der classischen Philologie übertrug O. auch auf die deutsche Litteratur des Mittelalters. O. setzt auf diesem Gebiet die Thätigkeit der Straßburger Gelehrten Schilter und Scherz fort. Des letzteren Glossarium germanicum gab er, durch eigene [99] Zusätze auf das Doppelte vermehrt in 2 Bänden heraus, 1781 und 1784. Fleißig sind die Publicationen Bodmers und G. Müllers benutzt. Manche Citate beziehen sich auf jetzt zerstörte oder verschollene Handschriften, so die aus Hartmanns Gregorius. Die meisten anderen germanistischen Arbeiten Oberlin’s behandeln die Litteratur seiner elsässischen Heimath. Schöpflin hatte ihm 1763 die als Fortsetzung der Alsatia Illustrata geplante Alsatia litterata zu bearbeiten übertragen und wenigstens als Bruchstücke eines solchen Werkes erschienen eine Reihe von Einzelarbeiten, die in lateinischer Sprache z. Th. unter dem Namen und auf Kosten von Schülern Oberlin’s gedruckt wurden. Hierher gehört die in die Miscella litteraria 1780 aufgenommene „Rhythmologia leonina Godefridi Hagenoënsis“, die 1782 erschienenen „Diatribe de Conrado Herbipolita“, und „Bonerii Gemma“, ferner (Joh. Frantz) „Alsatia Litterata sub Celtis Romanis Francis“, woran 1786 als Fortsetzung sich auschloß (Christian Godefr. Frantz) „Alsatia litterata sub Germanis saec. IX et X“; 1786 (Joh. Jac. Beck), „De Joh. Tauleri dictione vernacula et mystica“, (Lud. Nicl. Vierling) „De Joh. Geileri scriptis Germanicis“, (J. H. Prox) „De poetis Alsatiae eroticis“; 1789 (Holländer) „Jac. Twinger vulgo I. de Koenigshoven“. Aus einer Handschrift Silbermanns veröffentlichte O. 1784 ein „Bihtebuoch“ des 14. Jahrhunderts mit althochdeutschen Stücken verwandten Inhalts. 1801 stellte er noch einen „Essai d’annales de la vie de J. Gutenberg zusammen. Während nun Oberlin’s germanistische Arbeiten nicht über das Maaß dessen hervorragen, was überhaupt vor J. Grimm auf diesem Gebiete geleistet worden ist, so verdient besondere Auszeichnung eine Schrift, durch welche er als einer der ersten die romanische Philologie gepflegt hat: der „Essai sur le Patois Lorrain des environs du comté du Ban de la Roche“, Straßburg 1775. Laut und Flexionverhältnisse eines französischen Dialects sind hier genau beobachtet, sein Wortvorrath und sein Wortgebrauch verzeichnet und durch Heranziehung anderer Mundarten und der älteren Denkmäler erläutert. Wie weit O. der gewöhnlichen Auffassung dieser Verhältnisse voraus war, zeigt sein Ausspruch (im Bürgerfreund 1776): „Die französische Bauernsprache nimmt verschiedene Schattirungen an und ist noch ungefähr die rohe Sprache des mittleren Zeitalters, von welcher die Hof- und Gelehrtensprache nach und nach abgegangen ist.“ Zugleich nahm O. mit dieser Arbeit wesentlichen Anteil an dem Bestreben seines edlen Bruders, das Steinthal der Cultur zu erschließen, indem er den Bewohnern die französische Schriftsprache näher zu bringen suchte und zu diesem Zweck zunächst ihren Dialekt studierte. Die Schrift ist übrigens dem Göttinger Schlözer gewidmet, bei dessen Besuch in Straßburg die darin niedergelegten Ideen zum Theil ihre Fassung erhalten hatten. Nur um die Weite des Interesses, welches O. für philologische Forschung besaß, noch deutlicher zu zeigen, sei auch noch des Verzeichnisses der hebräischen Bibelhandschriften in der Straßburger Bibliothek gedacht, welches er in die Miscella litteraria 1780 aufnahm, sowie des Antheils, den er an den keltischen Studien von Le Brigant hatte, s. dessen Élémens de la langue des Celtes Gomérites ou Bretons, 1779.

Autobiographie im Universitätsprogramm von 1782. – Memoriam J. J. Oberlini aequalibus posterisque commendat Academia Argentoratensis … scripsit Joh. Schweighaeuser. Argentorati 1806, Heitz.Corréspondance d’Oberlin, Nationalbibliothek zu Paris, fonds Allemand 192–204.