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ADB:Rüttimann, J. J.

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Artikel „Rüttimann, J. J.“ von Albert Schneider in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 30 (1890), S. 53–57, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:R%C3%BCttimann,_J._J.&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 06:02 Uhr UTC)
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Rüttimann: Dr. J. J. R., † in Enge bei Zürich am 10. Jan. 1876, um die Reform des Justizwesens des Kantons Zürich im fünften und sechsten Decennium dieses Jahrhunderts und die Umgestaltung der schweizerischen Eidgenossenschaft aus einem Staatenbunde in einen Bundesstaat im J. 1849 verdienter Staatsmann, nachher Professor der Jurisprudenz und Verfasser juristischer, hauptsächlich staatsrechtlicher Schriften. Geboren am 17. März 1813 in dem zürcherischen Landstädtchen Regensberg, wo sein Vater Landschreiber (Grundbuchführer und Notar) war, trat er 1827 in die sog. Gelehrtenschule, 1829 in das „politische Institut“ zu Zürich ein. An letzterem besuchte er die Vorlesungen des Philologen Hans Caspar Orelli und der beiden politisch sich gegenüberstehenden Juristen F. L. Keller und J. C. Bluntschli, zwischen denen er später eine gewisse Vermittlung herstellte. Schon 1829 wurde er Substitut seines Vaters, dann Ende 1831 Gerichtsschreiber des zürcherischen Bezirks Regensberg, 1834 erst Verhörrichter des Kantons Zürich, dann Substitut des Staatsanwaltes. Er bekleidete diese Stelle bis ins Jahr 1838 und betrieb [54] daneben, wie das damals zulässig war, die Advocatur. Im J. 1836 brachte er einen Urlaub von 4 Monaten in England zum Studium des Geschwornenverfahrens zu. Er schrieb darüber einen Bericht, welcher gedruckt wurde und als eine der ersten deutschen Darstellungen des englischen Processes die Grundlage bildete für die Einführung des Juryverfahrens im eidgenössischen bürgerlichen und militärischen und im zürcherischen Strafproceß. Auf Keller’s Veranlassung publicirte er 1839 in dessen Monatschronik der zürcherischen Rechtspflege, Bd. VIII, S. 1 ff. eine Abhandlung über die Definition des Betruges. Ferner gab er in diesem Jahre eine kleine Monographie heraus „Ueber einige weder in Verträgen noch in Verbrechen liegende Gründe von Obligationen“, die mit rechtsphilosophischen Betrachtungen über die Natur des Rechtes beginnt, von dem großen Werthe des römischen Rechtes für das zürcherische spricht, und mit Berücksichtigung beider hauptsächlich auf die negotiorum gestio und die condictio indebiti eintritt. Am 6. September führten die im zürcherischen Volke vorhandenen Gegensätze politischer und religiöser Natur anläßlich der Berufung von D. F. Strauß an die zürcherische theologische Facultät, zu einem Aufruhr, der nur mit Blutvergießen unterdrückt werden konnte und darum die erschreckte Regierung zur Abdankung veranlaßte. R. hatte auf Seite der freisinnigen Regierungspartei, Prof. Keller’s und des nachmaligen Bundespräsidenten Dr. Jonas Furrer, an dem geistigen Ringen theilgenommen und theilte nun auch ihre Niederlage. In den nächsten Jahren widmete er sich hauptsächlich der Advocatur, bis im J. 1844 ein neuer Umschwung stattfand, infolge dessen er zum Mitgliede des Großen Rathes, und noch im nämlichen Jahre zum Mitgliede des Regierungsrathes gewählt wurde. Er fand in letzterer Behörde unter seinen Collegen Bluntschli und Furrer. Mittlerweile hatte er sich 1843 mit einer Verwandten Hans Caspar Orelli’s, Luise Bächlin von Brugg, verheirathet. Im Laufe der Jahre schenkte sie ihm einen Sohn und eine Tochter, die ihn überlebten, starb aber schon 1865. Mit dem Jahre 1845 begann seine Thätigkeit in eidgenössischen Angelegenheiten. Er wurde am 6. Februar vom Großen Rathe neben Furrer zum zweiten Gesandten Zürichs an die eidgenössische Tagsatzung gewählt, und 1846 von der Tagsatzung zum eidgenössischen Militärjustizbeamten für die Jahre 1847–50 mit dem Range eines Obersten bezeichnet. Als kantonaler Justizdirector stellte er eine Reihe von Gesetzesentwürfen (über Zunftgerichte, Armenpolizei, Ordnungs- und Polizeistrafen u. a.) her. 1847–51 schrieb er sein Buch „Der englische Civilproceß, mit besonderer Berücksichtigung des Verfahrens der Westminster-Rechtshöfe“, welches Keller als „ebenso klar und übersichtlich wie des Verfassers Darstellung des englischen Criminalprocesses“ lobte. Im Anhange des Buches finden sich Formulare und eine Uebersetzung des englischen Gesetzes über die Execution kleiner Guthaben (9 & 10 Vict. chapt. 95). Die staatswissenschaftliche Facultät zu Zürich verlieh ihm in Anerkennung der Arbeit den Doctortitel honoris causa. Im J. 1845 stifteten sieben ultramontan gesinnte Kantone der Schweiz einen Sonderbund zur gemeinsamen Wahrung namentlich ihrer confessionellen Interessen. Die Tagsatzung jedoch beschloß dessen Auflösung; und als dem Beschlusse nicht Folge geleistet wurde, erfolgte hauptsächlich auf Betreiben der zürcherischen Abgeordneten Furrer und R. am 4. November 1847 der Auftrag der Tagsatzung an den General Dufour, jene Auflösung mit Hülfe der bewaffneten Macht zu vollziehen. Mit ebenso großer Energie wie Schonung wurde der Auftrag ausgeführt. Indessen hatte dieses Ereigniß überall die Ueberzeugung hervorgerufen, daß der Bundesvertrag von 1815 mit seinem schwerfälligen Bundestage, der Tagsatzung, nicht länger fortbestehen könne. Verschiedene Vorschläge der Reorganisation wurden gemacht. Da führten Bluntschli [55] in einer Broschüre und R. in einer Reihe von Artikeln der Neuen Zürcher Zeitung den ganz neuen Gedanken ins Feld, das amerikanische Zweikammersystem auf die schweizerische Eidgenossenschaft zu übertragen, und R. verfocht denselben auch in den Räthen. Grundsätzlich ging sein Antrag durch, es wurde ihm nur ein Amendement beigefügt, welches den Kantonen ein gewisses Vetorecht einräumte. Damit war eine fruchtbare Thätigkeit Rüttimann’s auf dem Gebiete der eidgenössischen Gesetzgebung eröffnet. In den Jahren 1848–1854 und 1862–1868 war er Mitglied des schweizerischen Ständerathes und zweimal, vom 1. Juli bis 21. December 1850 und vom 3. Juli 1865 bis 24. Februar 1866 Präsident dieser Behörde. Sein Werk ist die eidgenössische Bundesstrafproceßordnung vom 23. Juli 1849, die Civilproceßordnung vom 22. November 1850, das Militärstrafgesetz vom 27. August 1851 und wohl auch das Gesetz über das materielle Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853. Durch das erste dieser vier Gesetze wurde das englische Geschwornenverfahren seinen wesentlichen Bestimmungen nach in die eidgenössische Strafrechtspflege eingeführt, und es folgten dem Beispiele bald eine Reihe von Kantonen. Die Civilproceßordnung führte für das Bundesgericht die Proceßinstruction durch ein einzelnes Mitglied des Gerichtes und die öffentliche Berathung der Richter ein, beseitigte die Beweisinterlocute und zeichnete sich durch eine zu damaliger Zeit ungewohnte Freiheit der Beweistheorie aus. Die neuen Ideen schienen manchem Mitgliede der Bundesversammlung gefährlich, und so wurde denn das Gesetz mit der Bezeichnung „Provisorisches Bundesgesetz“ in die Gesetzsammlung aufgenommen und in den Einführungsbestimmungen gesagt, daß es vor Ablauf von zwei Jahren „zum Behufe der definitiven Aufnahme einer einläßlichen Berathung in beiden Räthen unterstellt werden solle“. Merkwürdiger Weise besteht das Gesetz auch bei dem seither in seiner Organisation und seinen Competenzen völlig veränderten Bundesgerichte noch heute (1888) in Kraft. R. war auch Mitglied des Bundesgerichtes seit der Begründung dieses Tribunals und blieb es bis zum 13. Juli 1854, in der letzten Zeit als Präsident desselben. Mit dem Momente aber, in welchem er seine Professuren übernahm, legte er seine sämmtlichen eidgenössischen Aemter nieder. Auch bei der infolge der neuen Bundesverfassung nothwendig gewordenen Revision des zürcherischen Verfassungsgesetzes war R. in hervorragender Weise thätig. Er trat bei der Reorganisation des Regierungsrathes gegenüber dem bisherigen Collegialsystem mit Erfolg für das Directorialsystem in die Schranken. Bei der Neubestellung der Behörde erhielt er wiederum das Justizwesen, während seinem Busenfreunde Dr. Alfred Escher das Präsidium und die Direction des Erziehungswesens zu Theil wurde. In dieser Stellung brachte er das Gesetz betr. die Organisation der zürcherischen Rechtspflege vom 29. September 1852 und das Gesetz betr. das Strafverfahren vom folgenden Tage zu Stande, durch welche er auch auf kantonal zürcherischem Boden die Criminaljury einführte; ferner das Sportelngesetz vom 28. December 1853. Er war auch Mitglied der Commission, welche den von Bluntschli verfaßten Entwurf eines privatrechtlichen Gesetzbuches für den Kanton Zürich zu prüfen hatte. Mit dem Jahre 1853 trat R. auch an wirthschaftliche Aufgaben heran. Er war einer der Schöpfer der Zürich-Bodenseebahn, der ersten großen Eisenbahn der Ostschweiz. Die Unternehmung ging später in der schweizerischen Nordostbahn auf, deren Verwaltungsrath er angehörte. Gleichen Antheil hatte er 1857 an der Gründung der schweizerischen Creditanstalt zu Zürich, einem großen und bald blühenden Bankinstitut auf Actien. In diesen beiden Stellungen hauptsächlich wirkte er Hand in Hand mit Dr. A. Escher, den er hoch über sich stellte. Im Jahre 1857 erklärte er seinen Austritt aus dem Regierungsrathe, nicht nur um sich [56] in privater Stellung diesen wirthschaftlichen Aufgaben besser widmen zu können, sondern hauptsächlich mit Rücksicht auf seine lehrende und schriftstellerische Thätigkeit. Dagegen blieb er in der gesetzgebenden Behörde, dem Großen Rathe des Kantons Zürich, und wurde zweimal, nämlich für die Jahre 1858 und 1866 zum Präsidenten dieser Behörde gewählt. Als im Jahre 1868 eine neue Revision der zürcherischen Kantonalverfassung stattfand, nahm er als Mitglied des Verfassungsrathes lebhaften Antheil an den Berathungen. Nach Annahme des neuen Verfassungsentwurfes wurde er wiederum in die gesetzgebende Behörde des Kantons, die nun Kantonsrath hieß, gewählt. Schon 1872 aber trat er wieder aus, zwar ohne Bitterkeit, aber doch immerhin in dem Gefühl, daß die Mehrheit des Rathes nicht mehr mit seinen Ansichten übereinstimme. Von den neuen Volksrechten schien ihm das obligatorische Referendum ein frommer idealistischer Selbstbetrug und die Initiative eine Gefahr für den Staat zu sein. Dagegen sprach er in diesem nämlichen Jahre in mehreren Versammlungen mit aller Entschiedenheit für die Annahme des neuen Entwurfes einer schweizerischen Bundesverfassung, namentlich gegenüber einer Broschüre von Dr. J. Dubs, die dann freilich dennoch bei der Volksabstimmung den Sieg davontrug. Mit Beginn des Jahres 1875 trat das Cassationsgericht des Kantons Zürich ins Leben und R. war von Anfang an Mitglied desselben. In dieser Stellung hat er seinen letzten Staatsdienst geleistet. Was seine akademische Lehrthätigkeit betrifft, so hatte er sich schon Mitte der vierziger Jahre als Privatdocent an der staatswissenschaftlichrn Facultät der zürcherischen Hochschule habilitirt, und seither verschiedene kleinere Collegien, z. B. über Wechselrecht, gelesen. 1854 wurde er an Stelle von Fr. v. Wyß zum Professor für zürcherisches Privatrecht von der genannten Universität gewählt; und zugleich wurde ihm die Professur für Verwaltungs- und Staatsrecht am eidgenössischen Polytechnicum übertragen. Die erstere dieser beiden Lehrstellen behielt er bis 1872, die letztere bis zu seinem Tode bei. Sein Vortrag war klar, anregend, geistreich, aber nicht fließend; es schien, als ob die Fülle der Ideen, welche sich ihm auf die Lippen drängten, deren Aussprechen hinderte. Die Muße, welche seine akademische Thätigkeit ihm übrig ließ, benutzte er zunächst zu einer Reihe kleinerer Publicationen. Er gab warm empfundene Nekrologe über Dr. Fr. L. v. Keller und Dr. Jonas Furrer heraus, ferner 1855 einen populären Vortrag „Zur Geschichte und Fortbildung der zürcherischen Rechtspflege“, einen Abriß zürcherischer Rechtsgeschichte mit Vergleichung des englischen Rechtes, 1858 einen solchen über das Verhältniß der Staatsgewalt zur Gesellschaft, und einen andern 1862 über die Geschichte des schweizerischen Gemeindebürgerrechtes. Civilistischer Natur ist seine Abhandlung über „Die Lehre von dem Besitze nach den privatrechtlichen Gesetzbüchern der Schweiz“, welche eine ziemlich scharfe und wohl nicht immer zutreffende Kritik der diesfälligen Bestimmungen des zürcherischen privatrechtlichen Gesetzbuches enthält. Alle diese Arbeiten sind nach seinem Tode gesammelt und unter dem Titel „Kleine vermischte Schriften juristischen und biographischen Inhalts von Prof. Dr. J. J. Rüttimann nebst seiner Biographie“, Zürich 1876, herausgegeben worden. Im Programm der eidgenössischen polytechnischen Schule für das Jahr 1862/63 publicirte er eine Abhandlung „Ueber die der schweizerischen Eidgenossensschaft für Realisirung des Bundesrechts zu Gebote stehenden Organe und Zwangsmittel“, in welcher er eine Menge Vergleichungen mit amerikanischen Institutionen anstellte. Es folgte im Jahre 1870 eine Broschüre „Ueber die Frage, in wie weit durch die Eisenbahn-Concessionen der Schweiz. Kantone und die Beschlüsse der Schweiz. Bundesversammlung betreffend die Genehmigung derselben für die betheiligten Gesellschaften Privatrechte begründet worden seien“, in welcher er [57] an der Hand einer reichen Litteratur den Standpunkt vertritt, daß die aus den genannten staatsrechtlichen Acten herfließenden Befugnisse und Verbindlichkeiten der Eisenbahngesellschaften in der That privatrechtlicher Natur seien. 1871 schrieb er eine Gratulationsschrift zum Jubiläum von Professor Mohl, betitelt: „Kirche und Staat in Nordamerika“, welche in lebendiger Darstellung über das Verhältniß der beiden genannten Gewalten zu einander ganz neue Gesichtspunkte eröffnete. Häufig gab er auch Rechtsgutachten ab; von diesen sind die zwei in weiten Kreisen bekannt geworden, mit denen er in dem berühmten Streit von 1860 über die Basler Festungswerke seinem Lehrer und Freunde Keller entgegentrat. Sein Hauptwerk aber ist das Buch, betitelt: „Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht, verglichen mit den politischen Einrichtungen der Schweiz“, welches in 3 Abtheilungen, 1867, 1872 und 1876 kurz vor seinem Tode erschien. Er hatte es mit dem Anfang der sechziger Jahre begonnen und einen unsäglichen Fleiß auf das Studium der amerikanischen Quellen verwendet. Da er das Land selbst nie gesehen hat, mußten ihm außer den wissenschaftlichen Werken die Tagesblätter und Zeitschriften, Protocolle, Commissionalberichte und andere Imprimate des parlamentarischen Geschäftslebens die Unmittelbarkeit der Anschauung verschaffen, und die frische lebendige Darstellung zeigt, wie wohl ihm das gelungen ist. Er stellt in dem Buche immer die schweizerischen und die amerikanischen Bestimmungen über eine Materie neben einander und wirft damit oft überraschende Lichter auf die Institutionen seines Heimathlandes. R. rühmt seinem Vater einen klaren Geist, ein warmschlagendes Herz und einen heitern Sinn nach; diese Gaben hat der Vater dem Sohne in die Wiege gelegt. Dabei war R. von großer Herzensgüte: er that viel Gutes im Stillen und mit ungewöhnlichem Zartgefühl. Er war voller Rücksicht für die Andern, voll liebenswürdiger Bescheidenheit, aber ebenso fern von jeder Selbsterniedrigung wie von jeder Selbstüberschätzung.

Dr. A. Schneider, Dr. J. J. Rüttimann in den Kleinen verm. Schriften von Prof. Dr. J. J. R., Zürich 1876.