ADB:Rather
König Berengar war es nun, der ihn erst gefangen nahm, dann aber wieder frei ließ und ihn an Stelle des verdächtig gewordenen Besitzers des Bischofsstuhles von Verona zum Bischofe dieser Stadt machte. Es war im Jahre 946, daß R. zum zweiten Male auf diesen Platz gelangte. Er konnte ihn diesmal nicht volle zwei Jahre behaupten. Verachtet und verhöhnt, sehnte er sich selbst wieder hinweg. König Lothar befahl, daß er sein Bisthum zum zweiten Male demselben dort einheimischen Nachfolger überlassen sollte, und R. verschwand im Jahre 948 eilends aus Italien, wohin er freilich sehr bald mit Liutolf, dem Sohne Otto’s des Großen, zurückkehrte, um sich durch ihn an seinen Feinden zu rächen. Aber Liutolf’s Zug schlug fehl, und der ihm nachfolgende König Otto ließ sich nicht bewegen, die Veroneser durch die Wiedereinsetzung Rather’s gegen sich aufzubringen. Tief gedemüthigt durch diese [351] factische Gutheißung seiner früheren zweimaligen Absetzung kehrte er im J. 951 nach Deutschland zurück. Er schrieb zwar heftige Protestationen an den Papst, an alle Gläubigen und an seine Mitbischöfe, aber unterdrückte sie wieder und zog in der Absicht, da bis zum Tode auszuharren, wieder in Lobach als Mönch ein. Um ihn als politisches Werkzeug zu gebrauchen, rief ihn schon im Jahre 952 König Otto an seinen Hof unter die gelehrten Kleriker, welche um seinen Bruder Bruno versammelt waren, und schon 953 wurde Bruno Erzbischof von Köln und R. Bischof von Lüttich. Er sollte die Stürme beschwichtigen helfen, welche damals Lothringen verwüsteten, aber er war dazu durchaus ungeschickt. Er gerieth bei Freunden und Feinden in Verachtung. Beide ihm befreundete Erzbischöfe von Köln und Trier gaben ihn auf. Ostern 955 nahm ein anderer seinen Bischofsstuhl ein. R. gerieth in die heftigste Aufregung und verfaßte wieder leidenschaftliche Protestationen, von welchen neuerdings Dümmler ein Stück aus einem Berliner Codex veröffentlicht hat (Neues Archiv IV, 177). Erzbischof Wilhelm von Mainz bewog ihn endlich, sich zu beruhigen und sich der Stelle des Abts von Alna, einem kleinen von Lobach abhängigen Klosters, zu begnügen. In der Meinung, nun auf alle Macht und Ehre in der Welt auf immer verzichtet zu haben, gab er sich geistlichen Studien hin. Er beschäftigte sich mit dem Buche des Paschasius Radbertus de corpore et sanguine Domini und machte die Lehre von der Wandlung der Abendmahlselemente von neuem zum Streitgegenstand. Dahin gehört seine epistola ad Patricum und seine confessio, in welcher es ihm natürlich wieder hauptsächlich um seine eigene Selbstdarstellung zu thun ist. Nur zu bald dachte er wieder an Glanz und Herrschaft. Er wollte wieder in Lüttich eingesetzt oder doch zum Abte von Lobach erhoben werden. Er wurde aber bei der neuen Besetzung dieser Aemter unbeachtet gelassen und durfte dafür dem König Otto im Jahre 961 nach Italien folgen, wo er zum dritten Male auf den Bischofsstuhl von Verona erhoben worden ist. Da blieb er bis 968. Bis dahin hatte er außerordentlich viel Feindschaft, Haß, Verfolgung und Verachtung zu erfahren. Zur Herstellung seines Ansehens, aber auch zur Verbesserung der Lage der niederen Kleriker und zur Reformation kirchlicher Verderbniß schrieb R. damals die größere Zahl seiner Schriften, deren Manuscripte noch in Verona zu finden sind, nämlich Qualitatis conjectura, Synodica, Itinerarium, Discordia, De contemtu canonum, Judicatum und andere. In Folge eines besonderen Gerichtes, welches der Kaiser durch einen Stellvertreter in Verona hatte halten lassen, mußte R. zum dritten und letzten Male weichen. Er hatte sich reich beschenken lassen, und man nahm den nun wohl 78jährigen Greis in der Heimath freundlich auf; man überließ ihm nun von neuem das Kloster Alna; aber das Alles genügte ihm nicht, er verschaffte sich um Geld andere Abteien und bemächtigte sich des Klosters Lobach mit Gewalt. Von da wieder vertrieben, begab er sich zum Grafen von Namur, bei welchem er am 25. April 974 starb. Man hätte unsern R. niemals in den Catalogus testium veritatis aufnehmen sollen. Sein kirchlicher Eifer hat wenig zu bedeuten gehabt und ist durch die auffallenden Mängel seines eigenen Wesens ganz werthlos geworden. Aber wegen seines mehrfachen, freilich sehr unwichtigen Auftretens in der Geschichte Deutschlands und Italiens im zehnten Jahrhundert und auch wegen seiner Beiträge zur Litteratur dieser Zeit wird man sich wieder und wieder mit ihm beschäftigen müssen. Das haben die Historiker und Dogmenhistoriker auch immer gethan, die wir hier nicht nennen wollen. Seine Werke sind von den Brüdern Petrus und Hieronymus Ballerini (Verona 1765, 1 Band in Folio) in ganz vorzüglicher Weise herausgegeben worden. Ein Abdruck davon steht in Migne’s Cursus Patrologiae T. CXXXVI. Ueber ihn schrieb [352] der Unterzeichnete: R. von Verona und das zehnte Jahrhundert (2 Theile. Jena 1854) und den betreffenden Artikel in Herzog’s protestantischer Realencyklopädie.
Ratherius. Obgleich er gewöhnlich nach dem von ihm mehrmals eingenommenen Bischofssitze R. von Verona genannt wird, war er auch ein Deutscher. Er wird im Jahre 890 oder bald darauf in oder bei der Stadt Lüttich geboren sein und gehörte einem edlen Geschlechte an. Als Kind schon wurde er dem Kloster Lobach an der Sambre im Hennegau übergeben. Da fand und benutzte er die Gelegenheit, sich anzueignen, was noch von Gelehrsamkeit aus der karolingischen Zeit übrig geblieben war. Darin erwarb er sich bald einen guten Ruf; er fühlte sich aber überhaupt zu Glanz und Ehren berufen und ließ sich im Jahre 926 verleiten, auf Abenteuer auszugehn. Hilduin, ein unglücklicher Prätendent des Lütticher Bisthums, der sich eine Zeitlang wenigstens in Lobach als Abt zu erhalten gesucht hatte, nahm ihn mit sich nach Italien. König Hugo, ein Vetter Hilduin’s, machte diesen zum Bischof von Verona und später zum Erzbischof von Mailand. R. hatte das Versprechen erhalten, er sollte dem Hilduin im Bisthum von Verona nachfolgen; es ist ihm aber schwer geworden, sich diese Nachfolge gegen den Willen des Königs zu ertrotzen. Er wurde 931 wirklich Bischof von Verona. Da verfeindete er sich aber alsbald seine Umgebung, besonders die gesammte Geistlichkeit, und seine Theilnahme an einem Treubruche gegen den König machte ihn seines Bischofsstuhles wieder verlustig. Er wurde nach Pavia gebracht und dort in einem Thurme in strenger Haft gehalten. Tief gedemüthigt verließ er nach einigen Jahren sein Gefängniß, um nach Como überzusiedeln, wo er vom Bischofe überwacht wurde. Von da ist er im Jahre 939 nach Südfrankreich entwichen. Voraus hatte er eine in der Gefangenschaft verfaßte Schrift geschickt. Sie ist in sechs Bücher getheilt und führt den Namen Praeloquia. Sie bespricht mit gelehrter Benutzung kirchlicher Schriftsteller die Christenpflichten eines jeden Standes, aber erzählt auch von dem traurigen Geschick ihres Verfassers und von der Bosheit seiner Feinde. R. hatte gehofft, sich dadurch die Zuneigung und die Hochachtung mancher einflußreicher Männer in Frankreich und in Lothringen zu erwerben; aber er hatte sich darin getäuscht. Er kam in eine sehr elende Lage und mußte dankbar dafür sein, daß ihn ein reicher Mann in der Provence zum Lehrer seines Sohnes bestellte. Für ihn schrieb er das verloren gegangene Buch, welches er Sparadorsum betitelte und welches grammatische Regeln enthalten zu haben scheint. Derselbe Wohlthäter verschaffte ihm auch eine kirchliche Pfründe; aber er sehnte sich wieder nach seiner Heimath, wo er sich gewiß auf ein höheres Ansehen, als er früher gehabt hatte, Rechnung machte. Er kündigte sich den Mönchen seines Stammkloster durch eine ihnen gewidmete Heiligenlegende „Vita Sancti Ursmari“ an und erklärte, bei ihnen sein Leben in Ascese beschließen zu wollen. Etwa im Jahre 944 war er wirklich wieder daheim. Da behagte es ihm aber gar nicht und, als man ihm Kunde davon brachte, daß König Hugo ihn jetzt gern bei sich haben möchte, um ihm Gutes widerfahren zu lassen, reiste er alsbald wieder nach Italien.