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ADB:Reicha, Anton

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Artikel „Reicha, Anton“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 614–617, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reicha,_Anton&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 01:44 Uhr UTC)
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Band 27 (1888), S. 614–617 (Quelle).
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Reicha: Anton R. (Neffe von Joseph R., s. u.), geb. am 27.[WS 1] Februar 1770 in Prag, † am 28. Mai 1836 in Paris. Im Alter von 9 Jahren wurde er unter die Chorknaben der Prager Kreuzkirche aufgenommen und erhielt als solcher Unterricht in den musikalischen Elementen und im Lateinischen. 12 Jahre alt ließ ihn sein Onkel nach Bonn kommen, um einen tüchtigen praktischen Musiker aus ihm zu bilden. Er erwarb sich nach dreijährigen Studien das nöthige Geschick auf der Violine, Flöte und dem Clavier, um zunächst als Flötist Anstellung im Theaterorchester zu finden. Er dürfte wohl gleichzeitig mit dem jungen Beethoven in dasselbe eingetreten sein; beide wurden eng befreundet und wetteiferten bald in ihren Compositionsarbeiten mit einander. Von dem Augenblicke an, da R. im ersten Ensemblestücke mitwirkte, erwachte die Lust zu eigenem Schaffen in ihm. Er sagt selbst: „Bis dahin war ich nur ein ganz gewöhnlicher Musiker; plötzlich aber bemächtigte sich meiner die Leidenschaft zur Composition; es war ein glühendes Fieber!!“ Da es durchaus nicht in des Onkels Absicht [615] lag, einen Tonsetzer aus seinem Neffen heranzuziehen, legte er diesem alle möglichen Hindernisse in der Verfolgung seiner diesbezüglichen Studien in den Weg, ja verbot ihm strengstens jede derartige Beschäftigung. Von erspartem Gelde aber kaufte sich Anton heimlich die besten Lehrbücher und begann nun mit eisernem Fleiße, die Nächte zu Hülfe nehmend, seine Compositionsübungen. Als 1788 Max Franz die Bonner Universität gründete, besuchte er die für ihn wichtigen Curse an derselben und eignete sich dadurch eine bei Musikern selten vorhandene wissenschaftliche Bildung an. Endlich gelang es dem jungen Mann durch eine von ihm componirte Arie den Onkel für seine Pläne zu gewinnen und nun erst begann das eigentliche Leben für ihn. Eine Sinfonie und einige italienische Scenen von ihm wurden aufgeführt und hatten Erfolg. Als sich 1794 die Franzosen Bonn näherten, ward R. abgedankt und siedelte nun nach Hamburg über, wo er durch 5 Jahre Clavier- und Gesangunterricht gab und 2 französische Opern „Godefroid de Montfort“ und „Obaldi ou les François en Egypte“ componirte. Als erstere einst in einem Privatkreise aufgeführt wurde, gefiel sie den anwesenden französischen Künstlern P. Rode (dem berühmten Geiger) und P. J. Garat (Concertsänger) so sehr, daß sie in den jungen Mann drangen, sie in Paris hören zu lassen. Unausgesetzte Arbeit und Sparsamkeit setzten R. 1799 in die Lage, die lang gehegte Sehnsucht nach der französischen Hauptstadt befriedigen zu können. In einem der damals berühmten Concerte der Rue de Cléry wurde eine seiner Sinfonien aufgeführt; das Théâtre Feydeau vertraute ihm einen Text zur Composition an (vielleicht die erst 1810 zur Aufführung gelangte komische Oper: „Cagliostro ou La séduction“ von St. Cyr und Dupaty), aber die Zeitverhältnisse erwiesen sich jetzt in Paris so ungünstig, daß die meisten Bühnen geschlossen werden mußten und R. es vorzog, zunächst in Wien Aufenthalt zu nehmen. Er erneuerte hier die freundschaftlichen Beziehungen zu Beethoven und trat in Verkehr mit Haydn, Albrechtsberger, Salieri u. A. Sein Compositionstalent gelangte jetzt zu voller Reife und wenn seine Werke sich auch nicht durch geniale Erfindung auszeichnen, bekunden sie doch große Gewandtheit in der Kunst des musikalischen Satzes. R. zeichnete sich in der Folge als fruchtbarer Tonsetzer aus, obwohl seine Compositionen nie eine durchschlagende und zündende Wirkung übten. Hervorragend wurde er auf dem Gebiete der musikalischen Theorie. Schon in Wien trat er 1800 und 1802 und später noch mit einigen Werken hervor, die in dies Fach einschlugen: „Études ou Théories p. l. piano-forte, dirigées d’une manière nouvelle“, op. 30, Paris; „Étude de Transitions et 2 Fantaisies p. l. P.“; „36 Fugen nach einem neuen System“ (Haydn gewidmet); „L’art de varier ou 57 variations sur un thême d’invention“, op. 57. Bezüglich des neuen Systemes seines Fugenwerkes, das darin bestand, das Thema auf allen Stufen der Tonleiter zu beantworten, irrte sich jedoch R. Schon im 17. Jahrhundert hatte man in Italien ähnliche Versuche, Ricercare di Fantasia genannt, gemacht. R. glaubte das Princip einer reicheren Modulation gefunden zu haben, gerieth aber durch seine Lehre in Widerspruch mit dem Princip der Tonalität, auf dem die ganze moderne Musik beruht. Seine Stellung in Wien gab ihm die gewünschten Mittel, seine bescheidenen Bedürfnisse zu befriedigen; aber seine Lage verschlechterte sich, als die Franzosen im Kriege 1805 Wien besetzten und 1808 ein neuer Krieg drohte. Er beschloß nun nach Paris zurückzukehren und traf dort im October ein, es fortan zu seinem dauernden Wohnsitze machend. Cherubini wurde sein treuer Freund und Rathgeber, der Ruf seiner großen Technik auf dem Clavier und seiner gründlichen Kenntnisse in der Harmonie verbreitete sich und einige aufgeführte Sinfonien und Quartette machten ihn auch bald als Tonsetzer berühmt. Die Zahl seiner Schüler (unter denen in der Folge Jelensperger, Dancla, [616] Elwart, Onslow, Berlioz u. v. a. sich besonders herrvorthaten) erweiterte sich so, daß in Frankreich kaum irgend eine bedeutende Stadt zu finden sein dürfte, in denen nicht einer oder mehrere von ihnen thätig waren. Vorläufig lebte er, ein zufriedenes und behagliches Leben führend, nur als Privatmann. Allein tief im Herzen beherrschte ihn ein unersättliches Verlangen nach künstlerischem Ansehen. Im J. 1814 ließ er seine erste Aufsehen machende Arbeit erscheinen: „Traité de mélodie, abstraction faite de ses rapports avec l’harmonie, suivi d’un supplément sur l’art, d’accompagner la mélodie par l’harmonie“ etc. – 2. Aufl. 1832, ins Deutsche von J. Spech übersetzt. Auch jetzt wieder wähnte R. etwas ganz Neues zu bringen, während er doch nur einen bereits vielfach abgehandelten Gegenstand und zwar mit den Mängeln seiner Mitarbeiter aufwärmte. Anwendbar waren nur die Abschnitte „über den Vortrag der Melodie“ und „über die Art und Weise, sich in ihr zu üben“, am ausführlichsten aber auch nichts neues bietend war das Capitel über Rhythmopöie behandelt. Dieses im Grunde noch unreife Werk verblüffte die Franzosen und hatte wenigstens das Verdienst, die Theilnahme musikalischer Kreise für theoretische Fragen neu zu beleben. Sein Name gewann dadurch einen solch guten Klang, daß er die nach Mehul’s Tode 1817 freigewordene Stelle eines Lehrers des Contrapunktes, in der Folge auch die eines Inspectors am Conservatorium erhielt. Jetzt erst holte er das bisher versäumte Studium der musikalischen Litteratur nach Kräften nach. Glänzende Beweise seiner unermüdlichen Ausdauer und scharfsinnigen Logik gab er nun in einer ganzen Reihe von Epoche machenden Werken: „Cours de composition musicale ou Traité complet et raisonné d’harmonie pratique“ (1818); „Traité de haute composition musicale, faisant suite au Cours d’harmonie pratique et au Traité de mélodie“, II. (1824–26). Dies Werk erschien in einer Uebersetzung von C. Czerny: Vollständiges Lehrbuch der Composition, bei Diabelli in Wien, 1834, auch deutsch; „Art du compositeur dramatique, ou Cours complet de composition vocale, divisé en quatre parties, et accompagné d’un volume de planches“, 1833; „Petit Traité d’harmonie pratique à deux parties, suivi d’exemples en contrepoint double, et de douze duos pour violon et violoncelle, pouvant se jouer aussi sur le piano“, op. 84. Außer diesen größeren Werken schrieb R. zahlreiche Artikel in die Encyclopédie des gens du monde. Im genannten Werke: „Cours de Composition“ schließt sich der Verfasser im allgemeinen der Rameau’schen Theorie an, aber statt zwei Fundamentalaccorde (Dur und Moll) anzunehmen, nimmt er 13 consonirende und dissonirende an, und indem er den in ihnen ausgesprochenen Charakter der Alternation, Ableitung und Umkehrung nicht beachtet, kehrt er, das einfache System Rameau’s verwirrend, zu den oberflächlichen Versuchen des vorausgegangenen Jahrhunderts zurück. Im „Traité de haute composition“, einem Werke, in dem er die Lehre vom Contrapunkt aufs gründlichste und ausführlichste zu behandeln beabsichtigte, beschäftigte er sich fast nur mit dem doppelten Contrapunkt und läßt den einfachen nahezu unberücksichtigt. In dem Anhange „Traité de mélodie“ begegnet man demselben sorglosen Kenntnißmangel der musikalischen Satzkunst, wie in dem „Traité de mélodie“. Es läßt sich nicht leugnen, daß er dem Lehrsysteme der Harmonie in Frankreich einen gewaltigen Stoß versetzt und eine Revolution auf diesem Gebiete hervorgerufen hat. Weniger geniale Größe und Kraft des Geistes als eiserner Freiß und beharrlicher Wille hatten ihn auf eine Bahn gedrängt, die seinem ursprünglichen Beruf fern lag und ihn große Erfolge erringen lassen. Was seinen Schriften zu besonderem Vortheile gereicht, ist der Umstand, daß darin nur solche Dinge zur Sprache kommen, welche directen Einfluß auf die Praxis haben. Nur Technisches, aber bis aufs kleinste ihn, wird in ihnen gelehrt. Im J. 1835 ward ihm nach Boieldieu’s Tode [617] die langerstrebte Würde eines Akademikers zu Theil, deren er sich aber nicht lange zu erfreuen hatte, da er bereits im folgenden Jahre an einer Lungenentzündung starb. Auch zum Ritter der Ehrenlegion war er ernannt worden. Die Achtung, die er als Künstler und Mensch genossen, gelangte bei seiner Beerdigung am 30. Mai 1836 zum Ausdruck. Die Leichenfeier, bei der Cherubini, Paër, Auber und alle Conservatoireprofessoren anwesend waren, fand in der St. Rochuskirche statt. Die Sänger der großen Oper, des Feydeau und Conservatoriums führten den musikalischen Theil derselben aus. Beigesetzt wurde der Sarg auf dem Kirchhofe Père Lachaise. R., dieser Contrapunktist durch und durch, ließ sich an dem Rufe, der beste Theoretiker Frankreichs zu sein, nicht genügen; er wollte auch einen Ehrenplatz unter den dramatischen und Instrumentalcomponisten seiner Zeit einnehmen und dies veranlaßte ihn auch hier zu unermüdlicher Thätigkeit, obgleich der Erfolg den aufgebotenen Bemühungen nicht entsprach. Zählt er nun auch mehr zu den reflectirenden, mit dem Verstande schaffenden Talenten, als zu den genialen Meistern der Kunst, so ist es doch zu bedauern, daß er als Componist ganz vergessen ist; wie alle Tonsetzer, deren Hervorbringungen mehr Resultate des Nachsinnens als der genialen Eingebung sind, hat er sich gefallen, in schwierigen Instrumentalcombinationen Bestes zu leisten, und so ein Feld zu bebauen, das seine Nachfolger wieder brach liegen ließen. Außer den schon angeführten beiden Opern wurden in der Académie royale noch gegeben: „Natalie ou la Famille russe“, von Guy, 1816 und „Sappho“ von Empis und Cournol, 1822. Noch während seines Wiener Aufenthaltes hatte er die Oper: „Argina, regina di Granata“ auf die Bühne gebracht. Allen diesen Werken blieb jeder Erfolg versagt. Gute Theoretiker sind in der Musik oft unglückliche Praktiker. Die steife Rechenkunst eines gründlichen Musikers verdrängt häufig den freien, unabhängigen Aufschwung des dichterischen Geistes. Von seinen Instrumentalwerken sind gedruckt: 2 Sinfonien (op. 41 und 42) und eine Ouvertüre (op. 24); ein Decett für 5 Streich- und 5 Blasinstrumente, ein Octett für 4 Streich- und 4 Blasinstrumente, op. 96; 3 Streichquintette, op. 92; Streichquartette, op. 48, 49, 52, 58, 90, 94 und 95; 6 Streichtrios; Trio für 3 Celli; 6 Duette für 2 Violinen, op. 45 und 53; Flötenquintett, op. 105; 6 Flötenquartette, op. 98; Quartette für 4 Flöten, op. 12, 18, 19 u. 27; Flötentrios, op. 26; 18 Variationen für Flöte, Violine und Cello, op. 51; 22 Flötenduette, op. 20, 21, 22 und 25; Clarinettquintett, op. 89; Hornquintett, op. 106; 24 Trios für 3 Hörner, op. 82 und 93; 4 Quintette für Flöte, Oboe, Clarinette, Horn und Fagott, op. 88, 91, 99 und 100 (sehr schätzbare Compositionen); Clavierquartett, op. 104; Claviertrios, op. 47 und 101; Sonaten für Clavier und Violine (od. Flöte), op. 44, 54, 55, 62; Etuden und Fugen, op. 32, 81, 86 und 97; Claviersonaten, op. 40, 43 und 46; Phantasien, op. 59 und 61; Variationen, op. 83, 85 und 87. Vorstehende Aufzählung kann auf Vollständigkeit keinen Anspruch erheben. Reicha’s Werke sind merkwürdiger Weise vollständig vergriffen.

Eine Biographie Reicha’s erschien im Journal des Artistes; dann in einem Separatabdruck: Notice sur Reicha, musicien, compositeur et théoriste, Paris 1837.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. recte: 26. Februar