ADB:Schulze-Gaevernitz, Hermann von
Friedr. Gottlob S. (s. A. D. B. XXXII, 769), dessen Leben er in eingehender, pietätvoller Darstellung 1867 geschrieben hat. Zweifellos von dem Vater erhielt der Jüngling, welcher mit achtzehn Jahren die Universität Jena bezog und sodann in Leipzig bis 1864 studirte, die Anregung, mit dem Berufsfache der Jurisprudenz eingehende nationalökonomische Beschäftigung zu verbinden. Diesem Umstande verdankt nicht nur eine der ersten Schriften Hermann Schulze’s, die 1853 erschienenen „Nationalökonomischen Bilder aus Englands Volksleben“ ihre Entstehung, sondern es liegt auch auf der Hand, wie fördersam die auf diesem Gebiet erworbenen Kenntnisse gerade für den Zweig der Rechtswissenschaft werden mußten, welchem sich S. dauernd zuwandte, nämlich das Staats- und Völkerrecht. Er habilitirte sich in Jena als Privatdocent im Jahre 1848, wurde dort 1850 außerordentlicher Professor und erhielt 1857, wohl nicht ohne Zusammenhang mit der in Preußen angenehm berührenden Tendenz seiner staatsrechtlichen Studien über die Stellung Neuenburgs, den Ruf als ordentlicher Professor nach Breslau. An dieser Universität war er, 1869 zum Geheimen Justizrath und Kronsyndikus ernannt, zwanzig Jahre unausgesetzt thätig, bis er sich 1878 bestimmen ließ, den Lehrstuhl für Reichs- und Staats- sowie Verwaltungsrecht in Heidelberg anzunehmen; auch deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte hat er dort gelehrt. Wie er in Preußen als lebenslängliches Mitglied dem Herrenhause angehört hatte, so vertrat er seit dem Aufenthaltswechsel die Universität Heidelberg in der badischen ersten Kammer. Er ist, 65 Jahre alt, zu Heidelberg am 27. October 1888 gestorben. – S. gehört zu den fruchtbarsten, bedeutendsten und wirksamsten neuesten deutschen Staatsrechtslehrern und war zugleich einer der tiefsten Kenner des deutschen Privat-Fürstenrechts.[1] Das Programm seiner Thätigkeit hat er selbst 1867 in einem in Aegidi’s Archiv für Deutsches Staatsrecht erschienenen Aufsatze „Ueber Princip, Methode und System des Deutschen Staatsrechtes“ formulirt, indem er dort vor allem betonte, daß es sich um juristische Durcharbeitung dieser bis dahin so gerne einseitig philosophisch oder historisch behandelten Stoffe handele. Die Möglichkeit die so gestellte Aufgabe zu lösen, gewann S. damit, daß es ihm gelang, unter gänzlichem Bruch [2] mit damals immer noch vorhandenen Anklängen an die alte privatrechtliche Behandlungsweise eine rein publicistische juristische Methode sich klarzustellen und unbeirrt von allen geschichtlichen Verquickungen der Privatberechtigungen und des öffentlichen Rechts durchzuführen. Eben indem er so sein wesentliches Theil dazu beitrug, mit dem Vorurtheil aufzuräumen, daß juristische und privatrechtliche Methode mit einander identisch seien, hat er der Wissenschaft einen bedeutenden Dienst geleistet. Darüber hat jedoch S., wie für einen Rechtsgelehrten unserer Tage selbstverständlich, keineswegs die historische Grundlegung vernachlässigt, deren Grundzüge in seiner „Einleitung in das Deutsche Staatsrecht“ (1865) meisterhaft, namentlich auch mit Rücksicht auf die Litterärgeschichte, klargelegt sind. Und erst recht ist seitdem Schulze’s ganze schriftstellerische Thätigkeit eine geschichtliche insofern im höchsten Sinne gewesen, als sie sich den politischen Ereignissen innigst anschließt. „Die Krisis des Deutschen Staatsrechts“ fand schon 1867 ihre Beleuchtung; von der dogmatischen Entwicklung des Deutschen Staatsrechts selbst aber in seinem damaligen Interim sah S. mit Recht einstweilen ab, um sich ganz dem Preußischen Staatsrecht zuzuwenden, welches er 1870–1877 in drei schweren Bänden zu vollständiger, auch die Grundzüge der preußischen Verwaltung einbegreifender Darstellung brachte. Der Geist, in welchem dies geschah, geht am klarsten aus dem vom Verfasser in den Titel aufgenommenen Zusatz hervor: „auf Grundlage des Deutschen Staatsrechts“: nicht um das vereinzelte Recht eines noch so großen und mächtigen Einzelstaats allein handelte es sich S., sondern um dessen Darstellung als Erscheinungsform allgemein deutsch-rechtlicher Staatsrechts-Grundsätze. Das Buch ist ins Italienische und Japanische übersetzt worden und hat eine zweite Auflage erfahren, deren zweiter Band jedoch nicht mehr von dem Verfasser besorgt werden konnte; nur ein kürzerer Auszug aus demselben ist das von S. in Marquardsen’s Handbuch gegebene „Staatsrecht des Königreichs Preußen“. Inzwischen waren die deutschen Verhältnisse im neuen Deutschen Reiche consolidirt; S. war es gegönnt, an der juristischen Verarbeitung auch des neuen Deutschen Reichsrechtes seine wohl geschulte und vorbereitete Kraft zu bethätigen, in den durch dasselbe sich ergebenden, wennschon von Anderen angeregten und zugespitzten Controversen Stellung zu nehmen und sein Lebenswerk zu krönen durch die Vollendung des großen Gebäudes, welches er in seinem „Lehrbuche des Deutschen Staatsrechts (I 1881, II 1886) unter Einschluß eines sogenannten, aus den einzelnen Territorial-Staatsrechten abstrahirten „Deutschen Landes-Staatsrechts“ aufführte. Trotz der aus letzterem Umstande für unsere Anschauungen sich ergebenden Schwäche und selbst neben unbedingt geistreicheren Leistungen Mitstrebender wird dies Werk gewiß auf lange hinaus durch Sicherheit und Solidität gerechten Urtheiles hohen Werth behaupten. – Auf dem Gebiet des Privat-Fürstenrechts hat sich S. namentlich durch die grundlegende Veröffentlichung der Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, mit geschichtlich-staatsrechtlicher Einleitung, ausgezeichnet; außerdem rühren hier von ihm zahlreiche Einzeluntersuchungen und geschichtliche Zusammenstellungen her; ausgewählte Rechtsgutachten und Denkschriften aus seiner verbreiteten und einflußreichen Praxis hat er 1876 herausgegeben, während es scheint, als ob eine zweite Sammlung, welche sich bei seinem Tode gesichtet und vorbereitet vorfand, unveröffentlicht bleiben sollte. Jedenfalls geht schon aus dem Veröffentlichten genugsam hervor, welche reiche Anerkennung und Werthschätzung die Ausgeglichenheit seines lauteren Charakters und seines gediegenen Wissens ihm verschafft haben. So ist er denn auch in weiteren Kreisen bekannt geworden durch seine Bemühungen um den Rechtsschutz im Oeffentlichen Rechte. Hier hat er sich bestrebt, unter völliger Wahrung der Stärke und Macht der Centralregierung, der Willkür Rechtsschranken entgegenzusetzen und dem einzelnen [3] Privaten öffentliche Rechtssicherheit zu verschaffen; nicht durch die Anwendung der Schablonen sogenannter constitutioneller Garantien, sondern durch Verwandlung der Verwaltungspraxis in wirkliches Verwaltungsrecht, mit festen juristischen Grund- und Einzelsätzen sowie namentlich mit der Möglichkeit richterlicher Entscheidung. Der letzte Theil des Preußischen Staatsrechts, welcher diesen Fragen gewidmet ist, hat deshalb mit Recht vor allen übrigen Werken Schulze’s allseitige Anerkennung gefunden: von Seiten der Juristen wegen der so gelehrten, methodisch glänzenden und in den Einzelheiten feinen Durchführung; von Seiten aller politisch Interessirten wegen der darin zur Geltung gebrachten, für Regierungen und Regierte gleich annehmbaren und erfreulichen, den neueren Strebungen der Verwaltungsgesetzgebung entsprechenden Gesammtauffassung.
Schulze: Hermann S., Jurist, kurz vor seinem Tode von dem Großherzog von Baden geadelt unter Beilegung des Namens des väterlichen Gutes „Gävernitz“, ist geboren zu Jena am 23. Sept. 1824 als Sohn des berühmten Nationalökonomen- Münchener Allgemeine Zeitung vom 31. Oct. 1888, Nr. 303, S. 4454. – v. Bulmerincq (Uebersetzung von E. Rolin), Nekrolog in der Revue de Droit international et de Législation comparée, XXI. Jahrg. 1889, S. 464 bis 475.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 1. Z. 7 v. u.: Es sind hier noch einige seiner frühesten Arbeiten nachzutragen, nämlich „Diss. de jurisdictione principum, praesertim comitis palatini in imperatorem exercita“ (Jena 1847); „Der Staatshaushalt des neuen deutschen Reiches (Jena 1848); „Der Freiherr vom Stein und seine Bedeutung für Deutschlands Wiedergeburt“ (Jena 1850); „Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern und seine Bedeutung für die deutsche Staatsentwicklung“ (Jena 1851). Letzteres Werk soll nach einer gefl. Mittheilung des Herrn Prof. F. Frensdorff seine ‚vielleicht originellste Schrift‘ sein. [Bd. 36, S. 791]