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ADB:Seidel, Martin Friedrich

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Artikel „Seidel, Martin Friedrich“ von Heinrich Pröhle in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 623–625, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seidel,_Martin_Friedrich&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 04:17 Uhr UTC)
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Seidel: Martin Friedrich S., der Vater der brandenburgischen Geschichtsschreibung, besonders bekannt durch die von G. G. Küster commentirte Bildersammlung. Die Familie Siedel oder Seidel war eine alte schweizerische Adelsfamilie, ging wegen ihrer Anhänglichkeit an das Haus Habsburg nach dem Elsaß, von da aber des Bergbaus wegen nach Annaberg in Sachsen. Ihr Wappen war ursprünglich eine Lilie, dann nahm die sehr reiche Familie von den Münzmeister den halben Mond als Wappen an. Um diese Zeit kam sie aus Sachsen nach Cöln an der Spree und nach Treuenbriezen. Am letzteren Orte wurde am 29. Nov. 1594 Erasmus S. geboren. Er war der bedeutendste Staatsmann der Familie und erhielt 1655 durch seine grundlegende Schrift über Jülich eine ähnliche Bedeutung für den Großen Kurfürsten wie der Minister Hertzberg durch eine Schrift für Friedrich den Großen. Consistorialpräsident zu werden, lehnte er 1647, wahrscheinlich synkretistischer und calixtinischer Ansichten wegen, ab. Am 30. März 1655 starb er. Sein Sohn war Martin Friedrich, geb. am 18. Febr. 1621 zu Berlin. Erasmus S. gab ihn auf das damals noch in Joachimsthal selbst befindliche Joachimsthal’sche Gymnasium. Wegen der Unruhen des dreißigjährigen Krieges wurde er jedoch zurückberufen und auf das graue Kloster gebracht. Beide Gymnasien konnten ihm bedeutende geschichtliche Anregungen bieten. Seine Universitätsstudien standen mit großen Reisen und mit der amtlichen Thätigkeit seines Vaters in Verbindung. Begonnen wurden die Universitätsstudien wohl in Frankfurt an der Oder, wo wir am Schlusse unserer Darstellung die Familie S. heimisch finden werden; dann begleitete er den Vater nach Preußen, wo freilich erst später die Universität Königsberg ihre höchste Studentenzahl erreichte und ebenfalls erst später in Thorn der ältere Calixtus aus Helmstedt noch in größter Einmüthigkeit mit den brandenburgischen Reformirten den confessionellen Störenfrieden seine Hauptschlacht lieferte. Ebenso gingen Erasmus S. und Martin Friedrich S. nach Cleve, wo der Vater kurfürstlicher Minister war. Cleve wurde später für die kirchlichen Angelegenheiten unter dem Großen Kurfürsten der Ort, von welchem das Wetter herkam. Während späterhin wegen der rheinischen Reformirten in Preußen besonders der durch den kurfürstlichen Revers angestrebte vorläufige Ausgleich zwischen Lutheranern und Reformirten wünschenswerth war, stand bis zum Abschlusse des westfälischen Friedens, also auch während des damaligen Aufenthaltes der beiden S. am Rhein, noch ein Ausgleich mit den Katholiken im Vordergrunde. Damals nahm der Staat die Dienste der Familie S. auch in kirchlicher Hinsicht noch gern entgegen, wiewohl man sich in Cöln nicht zu scheuen brauchte, einem Martin Friedrich S. den Uebertritt zum Katholicismus nahe zu legen. In dieser Roma Germanorum [624] genannten Stadt verwunderte er sich nicht wenig über die vielen Inventionen, Processionen und Ceremonien der Jesuiten. Wenn aber der Jesuit Laurelius die Evangelischen durch Komödien verspottete und dann mit einem Feuerwerke schloß, so mußten doch auch in dem erst zwanzig Jahre alten jungen Manne Bedenken darüber aufsteigen, ob damit wohl dem heißersehnten Weltfrieden gedient sei. In den zerstückelten Rheinlanden machte S. seine besten geographischen Studien. Dann kehrte er nach Frankfurt a. O. zurück, wo er von 1741–1743[1] der Haus- und Tischgenosse des berühmten Juristen Brunnemann (s. A. D. B. III, 445, 446) war. Hierauf wurden ihm selbst sogleich zwei Stellen als Erzieher oder Reisebegleiter angetragen. Er wählte diejenige, welche ihm gestattete, mit den beiden Freiherrn von Strünkede in Marburg weiterzustudiren. Auf der Reise dahin stürzte er mit einem Postgaule, so daß ihm das Blut zum Halse heraussprang. Er soll aber von einem Gastwirth schnell durch Schweinsbrühe und Saffran geheilt sein. Während der Zeit seines Aufenthaltes in Marburg wurde der Synkretist S. zum ersten Male von der Gewalt des Lutherthums ergriffen. Die Stadt war von der Zeit Philipp’s des Großmüthigen bis zu ihrer Einverleibung in Preußen immer reformirt. Damals aber bekannte sich der reformirte hochbetagte Theologe Vietor zu Luther’s Lehre. Die Sommermonate brachte S. mit seinen Kameraden nicht in Marburg, sondern in Wildungen „bei dem Sauerbrunnen“ zu. Später sah er sich die Pracht an, mit welcher nun endlich von den Gesandten der Friede zu Münster berathen wurde. In Leyden bewies ihm die berühmte Schurmanin aus einem Buche, daß sie nicht die einzige Deutsche von hoher Bildung sei, verließ ihn aber bald, um in die Kirche zu eilen. In Paris kam es ihm zu statten, daß er einst auf der Durchreise durch Kassel der „verwittweten Landgräfin aufgewartet“ hatte: ihr Sohn der Landgraf, der sich in Paris befand, nahm ihn in sein Gefolge und an seinen Tisch. Nachdem er in Orleans, wahrscheinlich durch den dortigen Wein, erkrankt war, berief ihn sein Vater nach Hause. Er wurde Kammergerichtsrath, bezog jedoch durch Nebenämter ein sehr hohes Gehalt. Die Verhältnisse zwischen Lutheranern und Reformirten spitzten sich nun immer mehr zu offener Feindschaft zu. Der Consistorialrath Fromm, gleichfalls ein Calixtiner, hatte große Reisen im Auftrage des Kurfürsten für den kirchlichen Ausgleich gemacht. Es hatte noch nichts geschadet, daß er durch dieselben in den Ruf des Cryptokatholicismus gekommen war. Als er aber bei der tiefen Bewegung eines Geistlichen, den er den kurfürstlichen Revers unterschreiben lassen sollte, ausrief: vim patitur ecclesia Lutherana! mußte er fliehen. Denselben oder einen ähnlich lautenden Revers mußten auch die Juristen unterschreiben. Einige lutherische Räthe, darunter S., weigerten sich und wurden 1670 entlassen. S., der mütterlicherseits aus Pommern stammte, wurde 1671 schwedisch-pommerischer Hofgerichtsrath. Während der Schlacht bei Fehrbellin 1675 war er in Stralsund. Dem Großen Kurfürsten scheint es nicht unangenehm gewesen zu sein, daß er, nachdem er diese Stadt erobert hatte, durch Martin Friedrich S. amtlich wie von einem Schweden becomplimentirt wurde. S. kehrte nach Berlin zurück, jedoch nicht ohne mit Einziehung einer Erbschaft bedroht zu sein. Er wurde wieder Kammergerichtsrath. In den Handschriften der k. Bibliothek betreffend die unter dem Namen vaticinium Lehninense bekannte Fälschung (aus Nicolai’s Nachlasse) findet sich die Mittheilung, daß S., welcher selbst viermal verheirathet war, Beamter der letzten Gemahlin des Großen Kurfürsten wurde. Dadurch gewinnt ebensowohl die Behauptung Küster’s in seinem auctor vaticinii Lehninensis detectus, daß S. der lateinische Dichter der Weissagung sei, als auch die Behauptung, daß diese im Auftrage der letzten Gemahlin des großen Kurfürsten verfaßt sei, um die Thronbesteigung des Kurfürsten Friedrich III. [625] (König Friedrich I.) zu verhindern, von neuem einige Bedeutung. Doch kann es keine Frage sein, daß das vaticinium erst eine Reihe von Jahren nach dem Regierungsantritt Friedrich’s III. geschrieben ist. Anders würde sich die Sache gestalten, wenn man annehmen könnte, daß S., auch später noch eingenommen für die Nachkommenschaft der jesuitenfreundlichen letzten Gemahlin des Großen Kurfürsten, in der Weissagung, die nach der richtigen Interpretation keineswegs die Hohenzollern entthronen will, eben dieser Nachkommenschaft den Religionswechsel zuschieben und ihr dafür die Herrschaft über ein kirchlich und politisch geeinigtes Deutschland versprechen wolle. Offenbar hat der lateinische Dichter Frankreich vor Augen, welches trotz allen Königsmordes immer in den Händen der Bourbons verblieben und endlich durch Ludwig XIV. zu einer mehr gallicanischen als römisch-katholischen Kirche geeinigt war. Man muß gestehen, daß unter diesen Umständen doch wieder S. der einzige ist, der neben Zitzwitz als Urheber des vaticinium, das ja jedenfalls zuerst aus seinem Nachlasse bekannt geworden ist, in Betracht kommen kann. Es würde sich auch hier um eine Art von Testament des Großen Kurfürsten handeln, Fromm aber hat die Regierungszeit Friedrich’s III. gar nicht gesehen. Freilich überwiegen die für Zitzwitz sprechenden Gründe die für S. noch immer, denn der lateinische Dichter scheint kein bloßer Calixtiner, sondern ein wirklicher Katholik, zugleich Jurist und Theolog und doch noch tiefer als S. in die feudalen Verhältnisse eingeweiht gewesen zu sein. Bemerkenswerth ist es, daß für den literarischen Nachlaß von Martin Friedrich S., jedenfalls auf Anregung der Helmstedtischen Calixtiner und vielleicht auch mit Vorwissen von Zitzwitz, S. selbst vergeblich von der wolfenbüttler Bibliothek die hohe Summe von 6000 Thalern geboten wurde. Das Verzeichniß der Nachlaßgegenstände ohne die Münzen besteht bei Küster aus 51 Nummern, das der Druckschriften von S. (darunter auch das unsterbliche Märkerlob) nur aus 6. S. starb 1693 und liegt im Erbbegräbnisse der S. im Chor der Nicolaikirche begraben. Sein einziger Sohn Andreas Erasmus S. war geb. am 23. Sept. 1650, reiste nach der Levante, wurde „Dragoman der Republik Negroponte zu den Tractaten mit den Türken“ und 1692 von dem Vater, der den eignen baldigen Tod voraussah, zurückberufen. Den Titel eines Geheimen Rathes nebst Besoldung mit der Verpflichtung zu einer Beaufsichtigung der k. Bibliothek nahm er nicht an, weil er auf den Wunsch seiner Gattin sein Hauswesen in Berlin aufgelöst hatte, um die Haushaltung in Frankfurt a. O. noch reicher und angenehmer zu gestalten. Doch erscheint die Familie bald nicht mehr so reich, da der Nachlaß von S. auf eine wenig vortheilhafte Weise versteigert wurde. Er gelangte an Plotho, Ludwig u. A. Ein vorzügliches Prachtwerk daraus befindet sich in der k. Bibliothek zu Dresden.

G. G. Küster, Gesch. des altadeligen Geschlechtes derer von Seidel. Berlin 1751. – O. Schwebel, M. F. Seidel (Voss. Ztg. vom 6. u. 9. Nov. 1890). – H. Pröhle, Die Lehninsche Weissagung. Berlin 1888.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 624. Z. 7 v. o. l.: 1641–1643 (statt 1741–1743). [Bd. 55, S. 893]