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ADB:Stephan (Dichter)

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Artikel „Stephan“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 81–83, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stephan_(Dichter)&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 19:11 Uhr UTC)
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Stephan, Dichter des 14. Jahrhunderts, war (geistlicher [?] und) Schulmeister zu Dorpat oder doch im dörptischen Bisthum, dessen Bischofe Johannes von Fyffhusen er zwischen 1357 und 1375 sein Schachgedicht in mittelniederdeutschen Reimen darbrachte. Er bekennt uns selbst, daß seine Begabung ihm das Dichten nicht leicht machte, daß zumal die Fülle der Amtsgeschäfte, im Bunde mit körperlicher Schwäche, ihm für die poetische Nebenarbeit nur wenig Kraft und Zeit ließ. Aber diese Beengung zeigt sich wesentlich und nicht ungünstig darin, daß er sich möglichst kurz faßte. Weder Reime und Verse, unter [82] denen ein vereinzelter Dreireim vielleicht nur der Ueberlieferung zur Last fällt, noch die Sprache, die sich der estnischen Localfärbung mit einer Ausnahme sorgfältig enthält, noch die Behandlung des Inhalts verräth Nachlässigkeit. Auch St. bearbeitet lediglich und meist in engem Anschluß an die Vorlage das allegorische lateinische Schachbuch des lombardischen Dominicaners Jacob v. Cessolis, das ihm in einer der Wolfenbüttler Handschrift 42. 3. Aug. (K) – und dem Drucke der Berner Stadtbibl. Inc. III, 109 – nahestehenden Ueberlieferung vorgelegen haben muß. Das vielgelesene Buch, das an der Hand der Schachfiguren die verschiedenen menschlichen Stände und ihr Verhältniß zu einander durchmustert, hatte schon vor St. mehrere deutsche Reimfassungen erlebt; St. hat schwerlich eine von ihnen gekannt; gewisse Anklänge an das Gedicht des Pfarrers zum Hechte erklären sich sehr einfach aus der gleichen Quelle und der ähnlichen Gegend. Alle seine Vorgänger überbietet St. nun weit durch seine Kürze, der zumal bei Konrad von Ammenhausen mehr als der dreifache Umfang gegenüber steht. Der erfahrene Pädagoge weiß eben sehr wol, daß Länge und Eindruck einer Lehre im umgekehrten Verhältniß zu stehn pflegen. St. ist dabei keineswegs wortkarg, sondern er erreicht das geringere Maaß seines Gedichtes durch entschlossenes Ausscheiden zahlreicher Beispiele und Belegstellen, mit denen der gelehrte Lateiner sein Werkchen allzu üppig ausstaffirt hatte. Wo Jacob eine Lehre durch 4 oder 5 Exempel erläutert, begnügt sich St. mit einem oder zwein, die biblischen, legendarischen und antiken bevorzugend, die moderneren Schwänke und die Anecdoten aus der lombardischen Geschichte, überhaupt die bedenklichen Erzählungen einschränkend. Mit Gelehrsamkeit prunkt er nie, wenn der gebildete Mann es in einem Excurs auch ausdrücklich betont, daß erst die ‚Kunst‘, im Sinne des Mittelalters vor allem das Wissen, aus dem von der Natur gelieferten Rohstoff das Rechte mache; so verzichtet er auf die gelehrten Details über Babylon, auf das Rechenexempel von den Hirsekörnern, die in geometrischer Progression die Felder des Schachbretts bedecken; so läßt er die glänzenden Namen der Gewährsmänner gerne bei Seite, wie er denn nicht einmal Jacob v. Cessolis selbst nennt, und fügt aus eignem neben einer Berufung auf Paulus und Boethius lediglich ein Citat aus dem Keiserbôke (dem Sachsenspiegel oder einem andern volksthümlichen Rechtsbuche) bei. Daß seine Kenntnisse Lücken hatten, verrathen manche Mißverständnisse: so macht er den Stier des Phalaris zu einem Mann, die den Curius bestechenden Beneventaner zu einem gewissen Bonaventura u. ähnl.; die groben Namensentstellungen fallen meist schon der Handschrift des lateinischen Buches, die er benutzte, zur Last. Aber das sind doch nur vereinzelte Mängel, die nicht schwer wiegen. St. ist im besten Sinne schlicht und populär. Vortrefflich versteht er es, schwierigere Partien der Vorlage, zumal das vierte, von den Spielregeln handelnde Buch, klar verständlich darzulegen und die moralischen Grundgedanken herauszuarbeiten. Er befreit den Gedankengang von überflüssigen Excursen und von Details, die den Lombarden, aber nicht den Dörpter interessiren konnten. Ohne unnöthig abzuweichen, behandelt er die Quelle doch mit einer wachsenden Freiheit, die ihm gestattete, die eigene Weltanschauung und Erfahrung gelegentlich bei der Lehre zu verwerthen, die ihm ebenso sehr die breit ausgeführte Hauptsache ist, wie für Jacob v. Cessolis die Erzählungen und Citate voranstehn. Man hat St. eine bürgerliche Gesinnung nachgerühmt. Nicht mit Unrecht. Der Sohn der Hansestadt, der bei den Gefahren der Schifffahrt gern verweilt, stimmt nicht ein in die Mißachtung, die seine Quelle den Kaufleuten zollt; er sieht die Hauptaufgabe der custodes darin, die Unruhstifter unschädlich zu machen, die den bürgerlichen Frieden gefährden, und er warnt die höhern Stände noch nachdrücklicher als seine Quelle davor, die populares gering zu schätzen. Aber [83] andererseits betont der Sohn des Ordenslandes ebenso nachdrücklich, daß es besser sei, 10 Bauern fallen als ein Ritter; von der Feigheit, vor der Jacob die milites warnt, weiß er gar nichts; von socialer Polemik keine Spur. Er nimmt das Leben wie es ist. Verwirft Jacob alles Würfelspiel als Sünde, so ist St. überzeugt, daß das doch nichts hilft und warnt dann wenigstens vor falschem Spiel. Unbefangen veranschaulicht er sich die Situationen: der Praetor avancirt bei ihm zum König; Kaiser Vespasian läßt er von seinen Kriegern tô latîne un tô dûde begrüßen, schwerlich an besondere germanische Truppen dabei denkend. Ein rechter Vertreter des deute- und bilderlustigsten Jahrhunderts fließt er über von einer Bildlichkeit, zu der ihm die Quelle kaum einen Anlaß gab. Beim kaiserlichen Reichsapfel fällt ihm das Ballspiel seiner Schulkinder ein und er deutet ihn auf ein kindlich Gemüth. Als Scipio die Ehre einer gefangenen Jungfrau schont, läßt St. ihn das so sehr hübsch begründen: ‚Warum sollte ich die Rose welk machen?‘ Der listige, der den Schuft betrügt, fängt den Fuchs mit dem Fuchs. Meint Jacob, daß die Frauen secreta male celant, so sagt St. ihnen nach, daß se werpen ut mit molden, dat se hemeliken holden scholden. Sprichwörter und Bilder des täglichen Lebens beherrschen Stephan’s Sprache. Besonders charakteristisch aber ist seine Neigung, das abstracte Adjectiv der Vorlage durch ein concretes Substantiv mit dem Genitiv eines Abstractums wieder zu geben: ist der Arzt bei Jacob castus, so nennt ihn St. ein hemede der kûscheit; der Tugendhafte wird der doghet en lampe oder aller dogheden en gulden lade, der Böse aller bôsheit en rôder u. s. w. Auch diese bildliche Bereicherung war zugleich poetisch und volksthümlich. Es darf St. nachgerühmt werden, daß es seiner schlichten und naiven Art besser als allen seinen Vorgängern gelungen ist, Jacob’s v. Cessolis Schachbuch dem deutschen Volke so mundgerecht zu machen, wie das bei diesem Thema möglich war. Aber freilich, das gilt wesentlich von Detail und Sprache: auch St. will nur Uebersetzer sein; er tastet die Anlage seiner Quelle nirgend an und folgt ihr im Grunde, nicht sklavisch, aber doch mit großer Treue, bald paraphrasirend, bald einfach übertragend. Es sind Vorzüge der unbefangenen Natur, nicht der sicheren Kunst oder des überlegenen Geistes, die ihm in unseren Augen einen kleinen Vorsprung vor dem talentvollen Beringen, vor Ammenhausen und dem Pfarrer zum Hechte geben.

Stephan’s Gedicht ist lediglich erhalten in einem lübischen Drucke etwa aus d. J. 1498 und wurde danach herausgegeben in den Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat Bd. XI (1883); dazu ein gutes Glossar von W. Schlüter, ebenda Bd. XIV (1889; auch Norden und Leipzig 1889); abschließende Untersuchungen über den Verfasser und sein Werk sind in nahe Aussicht gestellt. Vgl. vorläufig P. Zimmermann, Meister Stephans Schachbuch, im Korrespondenzblatt des Vereins f. niederd. Sprachforschung IX, S. 22–32.