ADB:Stevin, Simon
Prinz Moritz von Oranien (s. A. D. B. XXII, 283–293) stand, der auf seinen Rath in vielen Dingen hörte, daß er auch amtliche Stellungen einnahm, und zwar die eines Vorstandes des Waterstaet (Oberwasserbaumeister) und zuletzt eines Generalquartiermeisters. Ueber die Frage, ob St., gleich den meisten Niederländern seiner Zeit, der kirchlichen Reform angehörte oder nicht, ist volle Gewißheit nicht vorhanden. Auf der einen Seite ist es kaum glaublich, daß er als Katholik so hohe amtliche Stellungen hätte bekleiden können, als die sind, welche wir nannten. Dazu stimmt die jeglichem Autoritätsglauben abgeneigte Forschungsweise Stevin’s, welche an Aristoteles, an Euklid, an Vitruvius Zweifel zuläßt, so hoch er diese Männer auch stellt. Dazu kann in Einklang stehen, daß St. in einer politischen Broschüre von sich rühmte, er habe sich immer mit den bestehenden staatlichen Autoritäten in Einvernehmen zu halten gewußt. Dagegen könnte man gerade die letztere Aeußerung, verbunden mit dem in der gleichen Broschüre ertheilten Rathe an Personen, welche zu der durchaus nothwendigen Staatsreligion sich nicht zu bekennen vermögen, sie sollten wenigstens nicht gegen die eingeführten Gebräuche Widerstand versuchen und lieber das Land verlassen als der Staatsgewalt entgegentreten, auch im entgegengesetzten Sinne deuten, als Selbstvertheidigung eines Katholiken, der öffentlich von seiner religiösen Ueberzeugung schwieg, wenn er sie auch nicht verleugnete. Damit wäre alsdann die, wie es scheint, gut beglaubigte Thatsache in Uebereinstimmung, daß St. etwa ein Jahr vor seinem Tode eine Stiftung vollzog, aus deren Ertrag in der Kirche des flandrischen Dorfes Westkerke eine gewisse Anzahl von Messen gelesen werden sollte. Große Wichtigkeit hat die endgültige Entscheidung der Frage keinesfalls, da Stevin’s Bedeutung weder auf religiösem noch auf politischem Gebiete zu suchen ist.
Stevin: Simon St., Mathematiker, geboren 1548 in Brügge, wo ein nach ihm benannter öffentlicher Platz sein von H. Eug. Simonis gefertigtes Denkmal trägt, † 1620 in Leiden oder im Haag. Ueber seine Lebensschicksale ist, wie schon aus unserem ersten Satze ersichtlich, nur weniges bekannt. Angaben über Geburts- und Todestag, ja sogar über den Ort seines Hinscheidens fehlen, was bei der hohen Stellung, die er zuletzt einnahm, überraschen darf. Eine Wittwe und zwei Kinder überlebten ihn. Aus einzelnen in Stevin’s Schriften zerstreut vorkommenden Bemerkungen weiß man überdies, daß er in Antwerpen kaufmännisch beschäftigt war, daß er Reisen durch Polen, Dänemark, überhaupt durch das nördliche Europa gemacht hat, daß er in Privatbeziehungen zuSt. war Mathematiker, allerdings ein solcher, dem die praktische Ueberführung seiner Wissenschaft ins Leben am Herzen lag, und dem entsprechend wäre beinahe ein Zwiespalt zwischen den Grundlagen seines Ruhmes bei den Zeitgenossen und den bleibenden an seinen Namen sich knüpfenden Errungenschaften bemerklich zu machen. Die Zeitgenossen bewunderten in St. den Erfinder eines mit Segeln versehenen Wagens, der um das Jahr 1600 auf dem Strande zwischen Scheveningen und Petten eine Probefahrt machte. Der Wagen, dessen kleines Modell man 1802 in Scheveningen noch aufbewahrte, war mit 28 Personen [159] besetzt. Prinz Moritz selbst lenkte, und die alleinige Kraft des Windes trieb das Fahrwerk 14 Wegstunden weit mit solcher Geschwindigkeit, daß kein Pferd mitkommen konnte. Die Zeitgenossen staunten über Stevin’s Muthmaßung eines „weisen Jahrhunderts“. Diese sogar von einem Hugo Grotius gebilligte Ansicht gipfelt darin, in unvordenklichen Zeiten habe das Menschengeschlecht ein allumfassendes Wissen besessen, von welchem mehr und mehr verloren ging, und welches erst allmählich mühsam zurückerworben werden muß, damit dereinst ein zweites weises Jahrhundert erscheine. Die Zeit- und Landesgenossen freuten sich des Gelehrten, der es nicht verschmähte, in der Landessprache zu schreiben, der sogar das Niederdeutsche als die Sprache pries, welche vermöge ihres Reichthums an einsilbigen, leicht zusammensetzbaren Stämmen sich vorzugsweise zur Weltsprache eigne. Unzweifelhaft ist daher Stevin’s Name von ihm selbst deutsch ausgesprochen worden und nicht französisch, wie es meistens in irriger Weise geschieht. Die wirkliche Benutzung des Niederdeutschen als Weltsprache sah St. allerdings erst für eine späte Zukunft voraus, und er entschloß sich, um seinen Schriften Verbreitung zu verschaffen, dazu, sie theils selbst ins Französische zu übersetzen, theils ihre Uebersetzung ins Lateinische zu gestatten.
Die Nachwelt sieht kühl oder lächelnd auf die erwähnten Ruhmestitel herab. Ihr stehen andere Entdeckungen im Vordergrunde, welche das gleichaltrige Geschlecht kaum beachtete. St. lehrte zuerst den größten Gemeintheiler algebraischer Ausdrücke (Multinomien nennt er sie) finden. Er zeigte wie man die Wurzel einer Gleichung näherungsweise berechnen könne, indem man von der dem Range nach höchsten Ziffer zu der niedrigeren fortschreitend dieselben der Reihe nach ermittle. Er unterschied das stabile von dem labilen Gleichgewichte, wenn auch diese Namen ihm noch fremd sind. Er führte einen anschaulichen und geistreichen Beweis für das Gleichgewichtsgesetz der schiefen Ebene. Er stellte Größe und Richtung einer Kraft durch eine gerade Linie dar. Er entdeckte das hydrostatische Paradoxon, daß eine wie immer begrenzte Flüssigkeitssäule auf die Grundfläche den gleichen Druck ausübt wie ein Cylinder von gleicher Höhe und gleicher Basis. Er hat auch den seitlichen Wasserdruck zu messen gewußt. Er hat Ebbe und Fluth durch Mondanziehung zu erklären gesucht.
Dieses dürften die wichtigsten erst von einer verhältnißmäßig späten Nachkommenschaft richtig gewürdigten Verdienste sein, welche St. um die mathematischen Wissenschaften sich erwarb. Allerdings bleiben einige und bedeutsame Dinge zu erwähnen, in deren Hochschätzung Zeitgenossen und Geschichte einig gingen, und welche gerade deshalb als die unzweifelhaftesten Grundlagen von Stevin’s Ruhm zuletzt genannt werden sollen. Wir meinen seine militärischen Schriften, seine Schrift über Buchhaltung, seine Anleitung zum Rechnen mit Decimalbrüchen.
Ein Mann, der Generalquartiermeister des Prinzen Moritz von Oranien war, besitzt in dieser Stellung, die er einnahm, das unzweifelhafteste Zeugniß kriegerischer Tüchtigkeit, und es läßt zum voraus sich erwarten, daß seine kriegswissenschaftlichen Aufzeichnungen mehr als nur vorübergehenden Werth besitzen mußten. Fachmänner bestätigen diese Erwartung. War Prinz Moritz Meister in der Berennung von Festungen, so suchte sein Rathgeber die Vertheidigung derselben zu vervollkommnen. St. scheint zuerst die Artillerie als einzig wirksame Vertheidigungswaffe einer Festung erkannt zu haben, während man vorher der groben Geschütze sich nur nebenbei bediente und das Hauptgewicht auf den Gebrauch der Handgewehre legte. St. schrieb ferner über die Anlage vorübergehender Befestigungen, deren Werth erst langsam sich geltend machte. Für die Niederlande von besonderer Wichtigkeit endlich war seine Erfindung der Vertheidigung mittels eines Schleusensystems. St. verlangte, die Befestigungskunde [160] solle an den Universitäten gelehrt werden, wie es thatsächlich in Leiden der Fall war. Man hat hieraus schließen wollen, St. sei selbst mit jener Professur in Leiden betraut gewesen, doch ist diese Vermuthung unbegründet. St. stand vielmehr niemals zur Leidener Hochschule in unmittelbarer Beziehung, wenn er auch an deren Sitze wohnte.
Die Buchhaltung, und zwar die sogenannte doppelte Buchhaltung der Italiener, mag St. entweder in seiner Antwerpener Zeit praktisch oder aus den Schriften italienischer Gelehrten, eines Luca Paciuolo, eines Geronimo Cardano, kennen gelernt haben. Von ihm stammt jedenfalls die Anwendung dieser Buchhaltung und insbesondere der unpersönlichen Conti, welche das eigentlich Unterscheidende an ihr bilden, auf die Staatshaushaltung. Zu diesem Zwecke empfiehlt er die italienische Buchhaltung Sully, dem französischen Staatsmanne, nachdem er sie im Dienste des eigenen Fürsten erprobt hatte, und wenn die moderne Finanzwissenschaft unpersönliche Conti als etwas Selbstverständliches und zur Durchsichtigkeit einer Rechnung Unentbehrliches betrachtet, so ist dieses gewiß zum großen Theil das Verdienst von St.
Aber weitaus am bedeutsamsten entwickelten sich die Segnungen einer kleinen, in der französischen Uebersetzung 7 Folioseiten füllenden Schrift: „La Disme, enseignant facilement expedier par nombres entiers sans rompuz, tous comptes se rencontrans aux affaires des Hommes“, welche ursprünglich 1586 in niederdeutscher Sprache erschien. Die Rechnung mit Decimalbrüchen war damit für die menschliche Gesellschaft gewonnen, und wenn auch das Auftreten des Begriffes der Decimalbrüche, insbesondere in Verbindung mit Quadratwurzelausziehungen, um mehr als ein halbes Jahrtausend weiter nach rückwärts zu verfolgen ist, die Einführung in das Leben gehört unbedingt St. an. Er wußte so genau die Wichtigkeit decimaler Rechnung zu übersehen, daß er es nur für eine Frage der Zeit erklärte, bis wann die decimale Eintheilung von Münzen, Maaßen und Gewichten aller Orten eingeführt sein werde. Stevin’s Bezeichnung ist noch etwas schwerfällig. Er schreibt 237 ⓪ 5 ① 7 ② 8 ③ um 2375781000 zu bezeichnen, aber so umständlich seine Schreibweise war, so lag ihr der theoretisch außerordentlich richtige Gedanke der Potenzerhebung von 110 zu Grunde. Das geht unzweifelhaft daraus hervor, daß St., und zwar in Anlehnung an Rafaele Bombelli, die gleichen eingeringelten Zahlen algebraisch benutzt, um Potenzen der unbekannten Größe darzustellen. Er bedient sich dabei des Namens „Potence“ und schreckt auch vor der Anwendung gebrochener Exponenten nicht zurück [„Racine cubique de ② serait 23 en circle“]. Jener Zusammenhang zwischen Decimalbrüchen und Potenzen einer Grundzahl war ihm also wirklich bereits vollkommen klar.
- Vgl. Kästner, Geschichte der Mathematik III, 392–418. – Steichen, Mémoire sur la vie et les travaux de Simon Stevin (Bruxelles 1846). – Quételet, Histoire des sciences mathématiques et physiques chez les Belges (Bruxelles 1864), pag. 144–167. – Oeuvres de Stevin editées par Albert Girard Samielois (Leyden 1634).