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ADB:Tillier, Johann Anton von

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Artikel „Tillier, Johann Anton v.“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 310–313, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tillier,_Johann_Anton_von&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 15:40 Uhr UTC)
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Tillier: Johann Anton v. T., Landammann von Bern und Geschichtsschreiber, wurde am 24. Januar 1792 getauft (der Tag der Geburt findet sich nirgends angegeben, Bernischer Sitte entsprechend). Seine Familie, die seit 1415 in Bern niedergelassen war und vom Anfang des 16. Jahrhunderts an unter die Junkergeschlechter gezählt wurde, hat dem Lande eine lange Reihe bedeutender und verdienter Männer geliefert. Samuel Tillier wurde 1715 vom Kaiser in den Reichsritterstand erhoben und Johann Anton (1705–1771) gelangte 1754 zur Würde eines Schultheißen der Republik. Mehrere Tillier haben sich im Dienste des österreichischen Hauses ehrenvoll hervorgethan, so besonders der Freiherr Johann Franz (1662–1739), k. k. Feldmarschall-Lieutenant, Festungscommandant von Peterwardein und Obercommandant von Freiburg im Breisgau, und dessen zwei Söhne, (s. S. 309 f. S. 312) die Freiherren Johann Anton (geboren in Bern 1721, † in Padua 1761) und Joseph Maximilian (1727–1788), welche beide ebenfalls zum Rang eines Feldmarschall-Lieutenants gestiegen und zu Rittern des Maria-Theresien-Ordens ernannt worden sind. Ein anderes Mitglied der Familie, Anton Ludwig (geb. 1750), galt als ein Anhänger der französischen Revolutionsgrundsätze und wurde, nach einer erfolglosen diplomatischen Sendung nach Paris, im J. 1798 von den Räthen der helvetischen Republik zum ersten Regierungsstatthalter des Kantons Bern ernannt. Der Vater unseres Johann Anton, die nämlichen in der Familie üblichen Vornamen tragend (geb. 1759), war erst im Dienste der Niederlande und stand beim Einfall der Franzosen in die Schweiz an der Spitze eines Bernischen Milizregiments. Johann Anton empfing die gewöhnliche Bildung der Bernischen Jugend, indem er theils häuslichen Unterricht erhielt, theils [311] die öffentlichen Erziehungsanstalten besuchte. Nach einem Aufenthalt in Genf ging er indessen noch nach Deutschland, wo er an der Universität Jena historischen und juridischen Fachstudien oblag, nach seiner eigenen Erklärung insbesondere von dem Historiker Luden angezogen und angeregt wurde, aber auch nicht unterließ, sich in Weimar für die Heroen der deutschen Litteratur zu begeistern. Vermöge seiner Abstammung zum Staatsdienste bestimmt, wurde er 1823 Mitglied des Großen Rathes und im folgenden Jahre Appellationsrichter, das heißt Beisitzer im obersten Gerichtshofe. Als erste Frucht seiner Studien erschien 1829 und 1830 seine „Geschichte der europäischen Menschheit im Mittelalter“ (Frankfurt a. M.) in 4 Bänden, ein Werk, das damals gerühmt, heute aber unbekannt geworden ist. Durch die politischen Ereignisse des Jahres 1830 wurde er jetzt der Aufgabe des Geschichtsschreibers entzogen. In seinen Ansichten der aristokratischen Regierungsform durchaus abgeneigt, sah T. in dem Sturz des Patriciats und der Einsetzung einer volksthümlichen Verfassung einen nothwendigen und berechtigten Fortschritt. Als Vorstand der städtischen Polizei widersetzte er sich im December 1830, freilich erfolglos, der aus Mißtrauen gegen die Bewegung hervorgegangenen Errichtung einer Bürgerwehr. Er wurde in den neuen Großen Rath gewählt und nahm diese Wahl an, wodurch er sich von der Mehrheit seiner Standesgenossen trennte. Unter seiner nunmehrigen Umgebung ebenso durch gesellschaftliche, wie durch wissenschaftliche Bildung hervorragend, erlangte er rasch eine gewisse Bedeutung. Schon im März 1831 hatte er wegen der sogenannten Militärcapitulationen mit dem Gesandten Frankreichs zu unterhandeln und erreichte dabei einige nicht unwichtige Zugeständnisse; im September gleichen Jahres, als in Neuenburg ein gegen die preußische Herrschaft gerichteter Aufstand ausbrach, wurde T. mit dem Graubündner Bundeslandammann Joh. Ulrich Sprecher als „eidgenössischer Commissär“ abgeordnet. Von Truppen unterstützt, gelang es ihnen, einen Vertrag zu Stande zu bringen, laut welchem der frühere Rechtszustand hergestellt wurde, die Aufrührer aber straflos blieben. Gleich darauf, im October 1831, berief ihn nun der Große Rath von Bern zum Mitgliede des Regierungsrathes. Als solches erhielt er eine neue Sendung zur Beschwichtigung der immer noch aufgeregten Bevölkerung der Jurabezirke. Allein bereits drohte überhaupt die Bewegung die Grenze zu überschreiten, die dem vorsichtigen Mann als die richtige erschien; umsonst bekämpfte er die Trennung des Kantons Basel in zwei Theile, als die Landschaft eine demokratische Verfassung verlangte, die bisher herrschende Stadt aber eine solche nicht gewähren wollte. Im April 1832 trat er aus der Regierungsbehörde aus. Man bedurfte bald neuerdings seiner Dienste. Am 9. April 1833 kamen 380 polnische Flüchtlinge von Frankreich her auf Bernisches Gebiet, in der Absicht, in ihr Vaterland zurückzukehren. Allein Baden und Württemberg verwahrten sich kräftig gegen das Betreten ihrer Länder, Frankreich wollte sie nicht wieder aufnehmen, und der Kanton Bern sah sich genöthigt, sie einstweilen selbst zu unterhalten. Man wünschte die Polen den Rhein hinunter nach Amerika zu bringen und T. wurde nach Frankfurt an den deutschen Bundestag gesandt und von dort in den Haag an den niederländischen Hof, um die Erlaubniß zum Durchzug auszuwirken. Hier zogen sich indessen die Verhandlungen so sehr in die Länge, daß im November das Ministerium in Paris sich doch entschloß, den Flüchtlingen die Reise durch Frankreich zu gestatten, so daß Bern sich endlich von der bedenklichen Verwicklung erledigt sah. Im J. 1837 wurde T. vom Großen Rathe zu seinem Präsidenten, d. h. zum Landammann erwählt, und 1840 trat er von neuem in den Regierungsrath ein, vermochte aber auch jetzt nicht, das Ziel seines nicht unberechtigten Ehrgeizes zu erlangen, nämlich die Schultheißenstelle. Bei der Wahl für 1841 fielen 60 Stimmen [312] auf ihn, aber sein Rivale Karl Neuhaus (s. A. D. B. XXIII, 498) erhielt mit 108 Stimmen die Mehrheit, und dieses Verhältniß wiederholte sich später, als ihm, nach des Schultheißen Tscharner Tode Karl v. Tavel (s. den Artikel) vorgezogen wurde. T. hatte zu wenig Leidenschaft, um Einfluß zu üben, er war zu kühl, zu gemäßigt. Er hatte Ehrgeiz, aber auch so viel Selbstgefühl, daß er die höchsten Auszeichnungen von der gerechten Würdigung seiner Tüchtigkeit und Einsicht erwartete und sie nicht demagogischen Kunstgriffen verdanken wollte. Er war unabhängig genug, um seinen Freunden unbequem, aber nie energisch genug, um seinen Gegnern gefährlich zu werden; so blieb er isolirt und vermochte nicht, die Stellung zu erlangen, die ihm vor vielen Andern gebührte. Umsonst widersetzte er sich im Anfang 1845 den gesetzlosen Gelüsten, die in mehreren Kantonen sich regten, um in Luzern und der innern Schweiz gewaltsam eine Staatsveränderung herbeizuführen; umsonst war sein Bemühen, seine Miträthe von der Gefährlichkeit solcher Stimmung zu überzeugen und von geheimer Mitwirkung zurückzuhalten. Der Freischaarenzug vom 1. April 1845 mißlang; er stürzte nicht die Luzerner Regierung, wohl aber fiel die Bernische der unvorsichtig genährten Aufregung zum Opfer. Eine Verfassungsveränderung erfolgte im J. 1846, verbunden mit einem Wechsel der regierenden Männer. Befremdlich war es, daß T. sich auch mit dieser neuen Strömung rasch befreundete. Zwar aus dem Regierungsrathe verdrängt, wurde er noch 1846 und dann wieder 1848 zum Präsidenten des Großen Rathes erwählt, ohne freilich unter den einmal herrschenden Zuständen seine Grundsätze zur Geltung bringen zu können. Nachdem durch die glückliche Beendigung des Sonderbundskrieges und die Unterdrückung des bisherigen Widerstandes auch die Verbesserung der Einrichtungen für die Gesammtschweiz ermöglicht, und die neue Bundesverfassung von 1848 in Kraft getreten war, wurde T. von seinem Heimathskanton zum Mitglied des Schweizerischen Nationalrathes ernannt und suchte auch hier im Sinne der Mäßigung und Gerechtigkeit zu wirken. Mit Eifer, aber vergeblich, hatte er schon zuvor im Bernischen Rathe den Antrag verfochten, daß den im Bürgerkrieg Besiegten gegenüber volle Amnestie verkündigt werden sollte, indem er mit großem Ernste sich auf die geschichtlichen Beispiele berief für die unheilvollen Folgen der Proscriptionslisten und politischen Processe. Die Leidenschaften gingen zu hoch und gingen schließlich über ihn hinweg. Hatte er sich, seiner wirklichen Denkungsart zuwider, durch eine Scheinwürde für die junge radicale Schule von 1846 gewinnen lassen, so stand er nun, zum Unglück für ihn, vielleicht auch für seinen Kanton, mißtrauisch bei Seite, als im J. 1850 die Volksstimmung sich wieder in entgegengesetzter Richtung bewegte. Es trat ein neuer Wechsel in der Regierung ein; seine wahren Gesinnungsgenossen, die er freilich nicht als solche erkannte, und die ihn nicht mehr als solchen anerkennen wollten, kamen zur Herrschaft; aber von T. war jetzt gar nicht die Rede: die politische Laufbahn des von allen Seiten verkannten Mannes in seiner engeren Heimath hatte vor der Zeit ihr Ende erreicht. Nur im schweizerischen Nationalrathe hatte er noch einmal Gelegenheit, in einer höchst bemerkenswerthen Weise von seiner staatsmännischen Einsicht und seiner rednerischen Begabung Zeugniß zu geben. Am 13. December 1850 trat er für die Rechte des freiburgischen Volkes ein, dessen übergroße, streng katholisch gesinnte Mehrheit von einer anders denkenden, durch eidgenössische Gewalt eingesetzten und nur durch diese gehaltenen Partei regiert wurde. Alle Beschwerden der also Unterdrückten blieben ungehört. Mit großer Kraft verlangte T. Abhülfe gegen einen solchen, allen Grundsätzen der Demokratie, ja der einfachsten Klugheit widerstreitenden Zustand. Die Rede, die man „ein parlamentarisches Meisterstück“ genannt hat, wurde nachher in deutscher und in französischer Sprache gedruckt und verbreitet. Sie machte, [313] wenn sie auch für den Augenblick nicht durchzudringen vermochte, doch gewaltigen Eindruck und stellte T. nach allgemeinem Urtheil in die Reihe der ersten Redner der Schweiz. Ein sonst nicht übermäßig günstig lautender Nekrolog in der „Allgemeinen (Augsburger) Zeitung“ bezeichnet sie als einen „schönen Schlußstein seines öffentlichen Wirkens“. Ein Schlußstein ist sie gewesen; denn bei der Neuwahl im J. 1851 wurde T. auch aus dem Nationalrathe verdrängt. Seine Stellung zwischen den Parteien mußte ihm fast unvermeidlich den Schein der Charakterschwäche zuziehen, und dies um so leichter, weil er das Bedürfniß, um jeden Preis am politischen Leben theilzunehmen, nur allzu deutlich sichtbar werden ließ. Wenn somit diese Thätigkeit als Staatsmann schließlich ebensowenig für das Land ersprießlich, als für ihn selbst befriedigend war, so ist es um so mehr zu bedauern, daß sie ihn in der Erfüllung seiner Aufgabe als Geschichtsschreiber gehemmt hat. Dem früher erwähnten historischen Werke folgte erst in den Jahren 1838 und 1839 ein zweites, seine „Geschichte des Freistaates Bern“ in 5 Bänden, mit eigenem Registerbande, eine Arbeit, die trotz außerordentlichen Fleißes doch der vollen Gründlichkeit und Durcharbeitung ermangelt. Die Zeiten des 13. und 14. Jahrhunderts sind ungenügend behandelt und längst durch bessere Darstellungen ersetzt. Vollständiger und zuverlässiger sind die spätern Bände, für welche dem Verfasser das Material leichter zugänglich war; sie geben bis zur Stunde noch die beste Berner Geschichte. 1843 erschien die „Geschichte der Helvetischen Republik“ (1798–1803) in 3 Bänden; 1845 und 1846 die „Geschichte der Eidgenossenschaft unter der Herrschaft der Vermittlungsacte“ (1803–1813) in 2 Bänden; 1848–1850 die „Geschichte der Eidgenossenschaft während der sogenannten Restaurationsepoche“ (1814–1830) in 3 Bänden, und endlich 1854 und 1855 die „Geschichte der Eidgenossenschaft während der Zeit des sogeheißenen Fortschritts“ (1830–1848) in 3 Bänden. Die Veröffentlichung des letzten Werkes sollte T. nicht mehr erleben. Er starb am 16. Februar 1854 in München, wohin er in den letzten Jahren übergesiedelt war. Nach dem Tode seiner ersten Gattin, Philippine v. Tscharner (1841), hatte er sich zum zweiten Male verehelicht mit der Freifrau Josephine v. Weiler aus Mannheim, der Tochter des gewesenen badischen Ministers. Diese machte er nun, da beide Ehen kinderlos geblieben, und er selbst der letzte seines Geschlechtes war, auch zur Erbin seines sehr ansehnlichen Vermögens, ein Resultat, das in seiner Vaterstadt eine gewisse Enttäuschung hervorrief und nicht dazu angethan war, die vorhandene Verstimmung gegen den trotz allem doch wohlbegabten, edeldenkenden und hochverdienten Mann verschwinden zu machen. Nur die Handschriften seiner Werke, seine zahlreichen historischen Auszüge und Vorarbeiten und seine Sammlung von Flugschriften und Actenstücken übergab er der Bernischen Stadtbibliothek. Es befindet sich darunter auch eine Jugendarbeit, ein gar nicht übel gelungenes Lustspiel, das im Berner Taschenbuch, Jahrgang 1881, abgedruckt worden ist.

Quellen: v. Tillier, Geschichte der Eidgenossenschaft während der Zeit des sogeheißenen Fortschritts, wo nicht ohne eine gewisse Eitelkeit von der Person des Verfassers viel erzählt wird. – Blösch, Ed. Blösch und dreißig Jahre Bernischer Geschichte, 1872. – v. Mülinen, Prodromus einer Schweizerischen Historiographie. Bern 1874. – Allgem. (Augsb.) Zeitung 1854, Beil. zu Nr. 60 und 272. – Verhandlungen des Großen Rathes des Kantons Bern, Jahrgänge 1831–1849.