ADB:Ullher, Konrad

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Artikel „Ullher, Konrad“ von Karl Maximilian von Bauernfeind in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 189–196, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ullher,_Konrad&oldid=- (Version vom 16. April 2024, 12:53 Uhr UTC)
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Ullherr: Johann Konrad U., Mathematiker, geboren am 8. Juni 1820 zu Happurg im bairischen Kreise Mittelfranken und † am 27. September 1887 in der Kreisirrenanstalt zu Kaufbeuren. Sein Vater war Zimmermeister und beschäftigte sich nebenbei mit Feldmessungen für Bauern, welche Zweifel in die Richtigkeit der von Geometern festgestellten Flächeninhalte ihrer Grundstücke hegten. Dieser schickte seinen einzigen Sohn Konrad in die Dorfschule zu Happurg, welche damals von einem sehr tüchtigen Lehrer geleitet wurde, und in der sich der Zögling durch Fleiß und Wohlverhalten vor seinen Mitschülern so hervorthat, daß nach seiner an Pfingsten 1834 erfolgten Confirmation Pfarrer und Lehrer des Ortes den Eltern dringend riethen, den fähigen Knaben in die Kreisgewerbschule nach Nürnberg zu schicken. Infolge dieses Rathes fand zu Anfang des Schuljahres 1834/35 Konrad’s Aufnahme in den ersten oder untersten Cursus der genannten Lehranstalt statt, und da die Eltern nicht bemittelt waren, so fiel es ihnen schwer, die Kosten seines Unterhalts zu bestreiten. Als überdies am 7. Mai 1837 der Vater in einem Alter von 47 Jahren starb und seine Frau und drei Kinder (Sohn und 2 Töchter) fast ohne alle Mittel hinterließ, wollte die Mutter den Knaben, der im August jenes Jahres die Kreisgewerbschule absolvirt hatte, von Nürnberg zurückholen. Hievon hielt sie jedoch der Rector der Anstalt, Kaufmann und Bürgermeister Scharrer ab, der [190] die Begabung des Schülers erkannt hatte und entschlossen war, ihn theils selbst zu unterstützen, theils ihm Unterstützung von Anderen zu verschaffen. Dazu hatte er in erster Linie den damals in Nürnberg lebenden begüterten Privatgelehrten Professor Leo aus Frankfurt a. M. in Aussicht genommen, der sich mit Phrenologie abgab und infolge hievon und wegen seiner gesellschaftlichen Bildung einen großen Kreis von Bekannten und Schülern um sich sammelte, von denen sich mehrere von dem Schüler U. im Rechnen und den Elementen der Geometrie Privatunterricht geben ließen. Dieser Unterricht, dessen Umfang sich vom nächsten Jahre an, wo U. den mathematischen Unterricht von dem berühmten Professor Dr. G. S. Ohm empfing, sehr erweiterte, lieferte zu den übrigen in Natur empfangenen Unterstützungen die geringen Baarmittel, welche noch nöthig waren, um während eines dreijährigen Aufenthaltes an der polytechnischen Schule nicht bloß Ullherr’s eigene geringe Bedürfnisse zu bestreiten, sondern auch noch etwas davon an seine Mutter und zwei Schwestern abzugeben.

Wer es, wie der Schreiber dieser Zeilen, an sich selbst erfahren hat, wie himmelweit Ohm’s mathematischer Unterricht von dem des zweiten Lehrers, Prof. R., verschieden war, findet es sehr begreiflich, daß in dieser Schule Ullherr’s reiche Anlage für Mathematik in kurzer Zeit sich so entwickelte, daß er bei den öffentlichen Prüfungen der Schüler, die damals noch ebenso wie Vertheilungen von Preisen üblich waren, nicht bloß die Bewunderung des zuhörenden Publikums, sondern auch der sachverständigen Schüler und Professoren, sowie des mathematisch gebildeten k. Ministerialprüfungscommissärs (Universitätsprofessors und späteren Staatsrathes v. Hermann) erregte. Nach der im August 1840 glänzend bestandenen Absolutorialprüfung der polytechnischen Schule stand U. vor der Wahl eines Lebensberufes. Bei ihm handelte es sich allerdings nicht mehr um die Frage, welches Fach er studiren solle, da er schon bei seinem Eintritte in die polytechnische Schule entschlossen war, dem Lehramte für Mathematik und Physik an technischen Schulen sein Leben zu weihen; die zu überwindenden Schwierigkeiten betrafen einerseits die Beschaffung der Geldmittel für das vorgeschriebene einjährige Universitätsstudium und andererseits, wenn er ein Lehramt an der polytechnischen Schule anstrebte, die nachträgliche Erwerbung des Absolutoriums einer vollständigen vierclassigen Lateinschule. Da nun aber weder das eine noch das andere für den Augenblick zu erreichen war, der damalige bereits genannte k. Ministerialreferent aber die hohe Begabung und umfassende fachliche Ausbildung des Absolventen U. aus dessen Absolutorial- und Schlußprüfungen genau kannte und nicht abgeneigt war, sich seiner Zeit für ihn bei der höchsten Stelle zu verwenden, so wurde in dem Familienrathe, der in der Eile aus einigen guten Freunden Ullherr’s gebildet worden war, beschlossen, U. solle den Besuch der Universität unterlassen, wie bisher unter Anleitung seines berühmten Lehrers Ohm privatim weiter studiren und sich im nächsten Jahre unter Anführung der Gründe, welche ihn von dem einjährigen Besuche der Technischen Hochschule an der Universität zu München abgehalten hatten, zur Lehramtsprüfung für Mathematik, Physik und Mechanik an Gewerbschulen, wofür damals humanistische Vorbildung nicht gefordert wurde, bei dem k. Unterrichtsministerium des Innern melden. Dieses Gesuch wurde zur freudigen Ueberraschung des Bittstellers und seiner Freunde durch hohe Ministerialentschließung vom 18. November 1841 gewährt, und schon am 3. Decbr. darauf erhielt der Geprüfte drei einzelne Zeugnisse, welche das Bestehen der genannten Prüfungen bestätigten und ihm in Mathematik und Mechanik die Note „vorzüglich“ und in Physik die Note „sehr gut“ ertheilten.

Infolge Ablebens des Prof. Dr. Ahrens zu Augsburg wurde U. von dem k. Ministerialreferrnten selbst aufgefordert, sich um dessen beide Lehrstellen, [191] Mathematik und theoretische Mechanik, zu melden. Schon am 28. Januar 1842 wurde ihm die Verwesung der genannten Lehrstellen gegen eine jährliche Remuneration von 500 fl. und mit der Auflage übertragen, den von Prof. Ahrens besorgten Unterricht in der Vermessungskunde mit zu übernehmen und die für das Lehramt an polytechnischen Schulen vorgeschriebenen weiteren Prüfungen an der Universität München bald nachzuholen.

Die letztere Auflage wurde, nach erlangter Dispensation vom Lateinischen bereits im Frühjahr 1842 für die Lehrfächer der Mathematik und theoretischen Mechanik, für das Lehrfach der Physik aber erst im J. 1851, als es sich um die Uebernahme dieses durch die Berufung des Physikers Dr. G. S. Ohm an die Akademie und die Universität München an der polytechnischen Schule zu Nürnberg erledigten Faches handelte, geleistet. Behufs dieser von der staatswirthschaftlichen Facultät der Universität München vorzunehmenden Prüfung berief dieselbe aus der philosophischen Facultät den Professor Ohm als Examinator in die Prüfungscommission und dieser stellte als Thema für den zu haltenden Probevortrag auf: „Die der Wellentheorie des Lichtes eigenthümlichen Erklärungsweisen.“ Nach einem über eine Stunde in Anspruch nehmenden freien Vortrag erhielt der Candidat sowol inbezug auf Kenntnisse als Lehrfähigkeit die Note „ausgezeichnet“.

Da am Ende des Jahres 1842 auch in Nürnberg der Professor der theoretischen Mechanik starb, so war es verzeihlich, daß sich U. noch vor Ablauf des ersten Dienstjahres um die in Nürnberg erledigte Lehrstelle bewarb, wobei er sich erbot, einen Theil des Unterrichts in der höheren Mathematik mit zu übernehmen. Als wesentlichen Grund dieser Bewerbung führte er an, daß es für ihn, der seine ganze fachliche Ausbildung den technischen Lehranstalten in Nürnberg verdanke, die größte Aneiferung gewähren müßte, denselben durch Verwendung an ihnen einen Theil seiner Dankesschuld abzutragen und neben seinem hochverehrten Lehrer Ohm unterrichten zu dürfen, wodurch er in seiner eigenen Fortbildung mächtig gefördert werden würde. Der Erfolg dieser Bewerbung war, daß U. bereits am 24. December 1842 unter dem Titel eines Professors (den er in Augsburg nicht hatte) und mit einem Gehaltsbezuge von jährlich 700 fl. das Lehramt der theoretischen Mechanik und der praktischen Geometrie, sowie eines Theils der Differential- und Integralrechnung in Nürnberg übertragen erhielt.

Nach der zu Ende des Jahres 1849 erfolgten Berufung Ohm’s nach München lag es in dessen Wunsche, daß nicht bloß das von ihm in Nürnberg vertretene Hauptfach, die Physik, sondern auch die Differential- und Integralrechnung in die Hände seines ausgezeichneten Schülers U. übergehen möchten, und es wurde diesem Wunsche auch unter dem 18. März 1850 entsprochen, obgleich der neue Professor das Collegium über Physik erst ein Jahr hernach hielt. U. hat elf Jahre lang mit dem denkbar besten Erfolge anfangs als Professor der theoretischen Mechanik und eines Theils der Mathematik und später als Professor der Physik und der höheren Analysis in Nürnberg gewirkt. An jener Anstalt, wo er einst ein bewunderter Schüler war, erhob er sich zu einem gefeierten Lehrer, indem er durch seine lichtvollen und lebendigen Vorträge die ihm übertragenen Gebiete der Mathematik und Physik, insbesondere aber der analytischen Mechanik, dem Verständnisse seiner Schüler erschloß. Während des Unterrichts blitzte die ihn erfüllende Begeisterung aus seinen Augen, welche auch die minder begabten Schüler mit sich fortriß und für die Wissenschaft erwärmte. In Nürnberg hat U., der sonst wenig schrieb, auch einige gewichtige mathematische Abhandlungen verfaßt, die er meist als Programme zu den Jahresberichten der polytechnischen Schule drucken ließ, von wo aus sie [192] theilweise auch in mathematische Zeitschriften, wie z. B. das Crelle’sche Journal für reine und angewandte Mathematik, übergingen. Im J. 1845 veröffentlichte er: „Zwei Beweise für die Existenz der Wurzeln der höheren algebraischen Gleichungen.“ Im J. 1847: „Einiges über die Theorie der Gewölbe.“ Im J. 1851 „Ueber die Bestimmung der Maxima und Minima der Funktionen mit einer oder mehreren Veränderlichen.“ Im J. 1853: „Die Substitutionsformel bei ein- oder mehrfachen Integralen.“ Namentlich diese letzte Arbeit wird nach der Meinung Ohm’s später von dem rechten Manne aus dem mathematischen Archive, worin sie aufbewahrt ist, hervorgezogen und in das rechte Licht gestellt werden, da sie nur für wenige Denker geschrieben ist.

Durch Ohm war sein Schüler U., auf den er stolz war, mit an der Herausgabe des ersten Bandes seiner „Beiträge zur Molekular-Physik“ (enthaltend einen Grundriß der analytischen Geometrie des Raumes am schiefwinkligen Coordinatensystem) betheiligt, indem er mit großer Mühe und Sorgfalt den Druck dieses Bandes überwachte und dessen musterhafte Correctheit zu Stande brachte, was der Verfasser in der im Juli 1849 geschriebenen Vorrede dankbar anerkannte. Auch um den Druck der Ohm’schen akademischen Abhandlung aus dem Jahre 1852: „Erklärung aller in einaxigen Krystallplatten zwischen gradlinig polarisirtem Lichte wahrnehmbaren Interferenz-Erscheinungen“ hat sich U. insofern verdient gemacht, als er mit anderen gelehrten Freunden des Verfassers die zahlreichen Druck- und Rechnungsfehler der beiden Hälften dieser Schrift, namentlich der ersten, feststellte. Diese Mitwirkung an der Herausgabe Ohmscher Schriften bestimmten nach dessen am 6. Juli 1854 erfolgten Tode den Staatsrath Dr. v. Hermann, welcher soeben von König Ludwig I. die Aufstellung der Ohm’schen Marmorbüste in der bairischen Ruhmeshalle zu München erwirkt hatte, mit Erlaubniß des regierenden Königs Maximilian II. den bis auf den letzten Abschnitt ausgearbeiteten zweiten Band der „Beiträge zur Molekular-Physik“ (enthaltend die analytische Mechanik am beliebigen Coordinatensystem) von Prof. U. durchsehen, vollenden und im Drucke überwachen zu lassen, der sich erboten hatte, diese mühsamen Arbeiten bloß aus Dankbarkeit für seinen verstorbenen großen Lehrer ohne Entgelt zu besorgen. Er bat nur um 250 fl. Vergütung an die Schwester Ohm’s (Frau Füchtbauer in Erlangen) für Ueberlassung der in ihrem Besitze befindlichen Ohm’schen Manuscripte und um einen Zuschuß zu den Druckkosten des 2. Bandes in dem Falle, daß der von ihm in Aussicht genommene Nürnberger Verleger einen solchen verlangen sollte. Am 29. März 1856 schrieb Staatsrath v. Hermann an U., daß S. M. der König Max 250 fl. für Erwerbung der Ohm’schen Mechanik genehmigt und ihn beauftragt habe, die Herausgabe des Werkes zu leiten und gleichzeitig für die von U. zu besorgende Ergänzung und die Correctur ein weiteres Honorar in Aussicht zu stellen. Auf die unter dem 5. December 1857 von Hermann an U. gerichtete Anfrage über den Stand der Herausgabe der Mechanik von Ohm mußte der Gefragte leider berichten, in wie hohem Grade schmerzlich es für ihn sei, über diese Angelegenheit nur Unerfreuliches berichten zu können. Er sei nämlich zu der Ueberzeugung gelangt, daß das in Rede stehende Werk ohne tiefgreifende Veränderungen, die ihm das die Arbeiten Ohm’s auszeichnende eigenthümliche Gepräge rauben würden, nicht veröffentlicht werden dürfe. Seine große und nie erlöschende Begeisterung für Ohm habe ihm die Mängel des im vorigen Jahre angekauften Manuscripts nicht sogleich bei der ersten Durchsicht erkennen lassen, zumal er zu jener Zeit von einem bösartigen Nervenfieber befallen wurde, das ihn an den Rand des Grabes brachte und für lange Zeit unfähig machte, anstrengenden Arbeiten obzuliegen. Dazu kommt noch, daß ihm seit zwei Jahren sehr schlimme dienstliche Verhältnisse die für solche Arbeiten [193] erforderliche Ruhe und Heiterkeit des Geistes vielfach raubten. Man habe es ihm sehr übel genommen, daß er die in seine Berufspflichten fallenden Schritte gethan habe, der an der polytechnischen Schule in München herrschenden Unordnung zu begegnen. Er sei ganz abscheulich angegriffen worden und war nahe daran, aus seiner Stellung vertrieben zu werden; übrigens konnte man ihm bloß Dinge zur Last legen, die in den Augen einsichtiger und unbefangener Männer als das größte Lob gelten, welches einem Lehrer ertheilt werden kann. Es müsse dieses auch dem damaligen Ministerpräsidenten v. d. Pfordten aufgefallen sein, da er dem Vernehmen nach dem auf falschen Berichten beruhenden unbilligen Vorgehen einiger Referenten des Handelsministeriums entschieden Einhalt gethan habe.

Nach dieser Mittheilung hatte U. einen ostensiblen Brief an den Staatsrath v. Hermann zu schreiben, in welchem die Unausführbarkeit der Herausgabe der Ohm’schen Mechanik gründlich erörtert wurde. Gleichzeitig wurde ein anderer zu hohem Ansehen und Ruf gelangter ehemaliger Gymnasialschüler Ohm’s aus Köln a. Rh., der an der Universität Berlin weilende Professor Lejeune-Dirichlet veranlaßt, sein Gutachten über das fragliche Manuscript abzugeben, und da dieses im wesentlichen mit dem Ullherr’schen Ausspruche übereinstimmte, so unterblieb der Druck des zweiten Bandes der Ohm’schen Molekular-Physik und es wurde derselbe in der königl. Cabinetsregistratur bis zu der Zeit (3. Juli 1882) aufbewahrt, wo auf Ansuchen des Verfassers dieser Biographie König Ludwig II. von Baiern bestimmte, das in Rede stehende Manuscript nebst zwei darüber sich aussprechenden Briefen Ullherr’s solle der kgl. Hof- und Staatsbibliothek zu München einverleibt werden, was auch sofort geschah.

Trotz dieser anstrengenden Nebenarbeiten und der überstandenen schweren Krankheit, von der er sich eigentlich nicht mehr ganz erholte, bemühte sich U. nach seiner Uebersiedelung nach München vom Studienjahre 1853/54 an dieselben Unterrichtserfolge wie in Nürnberg zu erzielen, es gelang ihm dieses jedoch nicht, weil der damalige Rector der hiesigen alten polytechnischen Schule, welcher einen Theil der Mathematik zu lehren hatte, auf dem die Entwicklungen der Differential- und Integralrechnung beruhen, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Hieraus entstanden jene ernsten Mißhelligkeiten zwischen diesen beiden Lehrern, über die sich U. so bitter aussprach, und die nicht beigelegt werden konnten, so lange die Ursache des Zwistes bestehen blieb. Zur Entfernung dieser Ursache fand sich aber das vorgesetzte kgl. Staatsministerium nicht veranlaßt, ja es verschärfte sogar, ohne es zu wollen, den bestehenden Gegensatz durch die Art der Zusammensetzung einer großen Berathungscommission von Beamten und Professoren, welche um Ostern 1857 im kgl. Handelsministerium über die Umgestaltung der technischen Schulen Baierns zu berathen hatte. Dank dieser Zusammensetzung waren in sechs Jahren nicht weniger als vier Commissionen zu bilden, wovon jede folgende die Beschlüsse der vorausgegangenen wieder aufhob.

Als endlich im J. 1864 eine Schulordnung zu Stande kam, nach welcher die neugestaltete Gewerbschule des Realgymnasiums noch im October des gleichen Jahres, die neue polytechnische Schule aber im October 1868 ins Leben treten sollte, da wuchs der Widerstand gegen solches Plänemachen auch in Beamtenkreisen so an, daß sich der Handelsminister v. Schlör veranlaßt sah, die von dem Verfasser dieses Artikels auf Grund seiner Sachkenntniß aufgestellten Reformvorschläge, namentlich für die Organisation der technischen Hochschule, von einer engeren Ministerialcommission im Winter 1867/68 prüfen zu lassen. So kamen die „Organischen Bestimmungen für die Polytechnische Schule in München“ [194] vom 12. April 1868 zu Stande, auf denen die mit Beginn des Studienjahres 1868/69 eröffnete und seitdem zur schönsten Blüthe entfaltete bairische technische Hochschule beruht. Wenn auch die Professoren U. und Decher einer amtlichen Berathungscommission nicht angehörten, so haben sie doch durch ihre einsichtsvolle und lebendige Theilnahme an der technischen Unterrichtsfrage in der Presse und im persönlichen Verkehre mit einflußreichen Conferenzmitgliedern wesentlich mit zur Erreichung des von diesen letzteren angestrebten Ziels beigetragen. Leider mußte U. für seine wenigen hierauf bezüglichen freimüthigen Aeußerungen insofern schwer büßen, als er am 10. März 1859 an die polytechnische Schule nach Augsburg und der dortige Professor der gleichen mathematischen Fächer an die hiesige Lehranstalt versetzt wurde. Von diesem Zeitpunkte an bemächtigte sich Ullherr’s ein großer Unmuth und dieser wurde noch durch seinen Umgang mit dem ihm gleichgesinnten und befreundeten Professor Decher gesteigert. Unter solchen Umständen konnte von einem gedeihlichen Unterrichte Ullherr’s keine Rede mehr sein; denn mit Mißmuth ging er in die Schule, mit Verdruß sprach er von der ihm aufgedrungenen Stellung, und es war ihm schließlich ganz recht, daß er bei der Aufhebung der alten polytechnischen Schule zu Augsburg vom 1. October 1864 an in den zeitlichen Ruhestand zu treten hatte.

Man hätte glauben sollen, daß U. von nun an wirklich der Ruhe genießen und sich ganz ungestört seinen wissenschaftlichen Studien hingeben könnte. Dem war aber nicht so. Denn mit der allerhöchsten Entschließung vom 21. September 1864, welche die Ruhestandsversetzung Ullherr’s aussprach, wurde dessen Quiscenzgehalt aus dem 1350 fl. betragenden jährlichen Activitätsgehalte infolge falscher Auffassung der Zahl seiner Dienstjahre nur zu 1080 fl. berechnet, während nach richtiger Zählung dieser Jahre die Summe 1215 fl. betrug. U. ließ deshalb seine Forderung durch einen Advocaten bei Gericht einklagen und gegen die Entscheidungen der Untergerichte, welche die Anschauung des Ministerialreferenten bezüglich des Anfanges der Ullherr’schen Dienstzeit theilten, Berufungen einlegen, worauf endlich am 28. Juli 1866 der oberste Gerichtshof in München, der Klagebitte entsprechend, den kgl. Fiscus für schuldig erkannte, dem Professor J. C. Ullherr vom 1. October 1864 an aus seinem Activitätsgehalte neun Zehntel desselben und somit jährlich die Summe von 1215 fl. zu verabreichen.

Als im Herbste 1864 dem Prof. U. seine zeitliche Ruhestandsversetzung bekannt gegeben wurde, erging an ihn wie an andere Collegen die Aufforderung, seine Wünsche bezüglich einer allenfallsigen Wiederverwendung bekannt zu geben. Darauf hin hat er sofort erklärt, daß er den bleibenden Ruhestand vorziehe und zwar wegen des unglücklichen Ausgangs, den der über anderthalb Jahrzehnte sich erstreckende Versuch, das technische Schulwesen in Baiern umzugestalten, durch die damals eben veröffentlichte Schulordnung vom 14. Mai 1864 genommen habe. Diese Erklärung hat er am 19. Juli 1868 schriftlich wiederholt, als das kgl. Handelsministerium durch die kgl. Kreisregierung zu Augsburg seinen Antrag auf Versetzung in den bleibenden Ruhestand nach den Vorschriften der Verfassungsurkunde untersuchen ließ. Die hierüber vernommenen zwei ehemaligen Collegen Ullherr’s und zwei Augsburger Gerichtsärzte gaben vor dem kgl. Regierungspräsidenten die Erklärung ab, daß die Gesundheitsverhältnisse des Prof. U. zwar nicht ungünstig gelagert, aber doch auch in Verbindung mit seiner gedrückten Gemüthsstimmung nicht so beschaffen seien, daß er bei der Wiederübernahme einer Lehrstelle Ersprießliches zu leisten im Stande sei; worauf er mittelst höchster Entschließung vom 31. August 1868 bis auf weiteres in dem zeitlichen Ruhestande belassen wurde. Auf Grund seiner Gesundheitsverhältnisse und der traurigen Erfahrungen, die er seit seinem Abgange von Nürnberg im Schuldienste hat machen müssen, lehnte er auch entschieden [195] das ehrenvolle Anerbieten einer mathematischen Professur an der neuen technischen Hochschule zu München ab, welches ihm der Verfasser dieser Zeilen im Auftrage des kgl. Staatsministers v. Schlör zu machen hatte. Von da ab blieb er wirklich mit weiteren Anträgen verschont und er führte in Augsburg sein gewohntes einfaches Leben fort, indem er sich täglich am Vormittage einige Stunden mit mathematischen Studien beschäftigte und Nachmittags einige Stunden spazieren ging. Er konnte sich nicht länger als angegeben geistig beschäftigen, „weil er sich sonst zu sehr abstumpfen und infolge dessen noch weniger vom Fleck kommen würde“. So schrieb er am 28. December 1874 seinem Freunde, dem Professor der Mathematik Dr. J. N. Bischoff an der technischen Hochschule zu München, wobei er die Hoffnung aussprach, daß es ihm trotz der sehr beschränkten Arbeitszeit doch bis Ostern 1875 möglich sein werde, die Ergebnisse seiner synthetisch-geometrischen Studien zur Lösung der bekannten Malfatti’schen Aufgabe, der er, nachdem Affolter’s Abhandlung im 6. Bande der Mathematischen Annalen erschienen sei, ein erweitertes Ziel geben mußte, zum Drucke befördern zu können. Diese seine Hoffnung ist nicht erfüllt worden, da weder seine hinterlassenen Manuscripte noch die genannten Annalen, in denen er sicherlich seine Forschungen veröffentlicht hätte, einen auf die Malfatti’sche Aufgabe bezüglichen Artikel von Prof. U. erhalten. Wäre eine solche Abhandlung erschienen, so würde sie gewiß wie seine oben bezeichneten Druckschriften eine mathematische Leistung ersten Ranges gewesen sein.

Wahrscheinlich hat das von U. in seinem Briefe an Prof. Bischoff selbst angedeutete Hirnleiden raschere Fortschritte gemacht als er fürchtete. Es dürfte dies auch daraus hervorgehen, daß er in seinen letzten Lebensjahren, wie andere mit gleichem Leiden behaftete Genossen, ohne allen Grund besorgte, seine Einnahmen reichten zur Deckung seiner Verpflegungskosten nicht mehr aus, und er müsse letztere deshalb vermindern. Infolge dessen suchte er nun seine fast ärmliche Nahrung in den billigsten Speisehäusern, wo er natürlich auch nur mit Leuten von geringer Bildung zusammentraf, die seine geistige Stimmung nicht zu heben vermochten. So fiel nach und nach sein sonst so gesundes und scharfes Urtheil über Menschen und Dinge rasch ab, und seine Augsburger Freunde erkannten schon im Frühjahr 1886 ziemlich sicher, daß sich sein Geisteszustand merklich getrübt hatte. Gleichwol machte er im darauffolgenden Monat August seine gewohnte Ferienreise, dieses Mal nach Innsbruck. Daselbst brach der gefürchtete Wahnsinn in der erschreckenden Form von Tobsucht aus und es mußte der davon Ergriffene zuerst in das Krankenhaus zu Augsburg und von da in die Kreisirrenanstalt zu Kaufbeuren verbracht werden. Hier verblieb U. unter der von seinen Freunden ins Werk gesetzten sorgfältigsten Pflege ein ganzes Jahr lang bis zu seinem am 27. September 1887 erfolgten Tode. Während dieser ganzen Zeit kehrte das Bewußtsein keinen Augenblick zurück, und so endigte der Arme, welcher sich als Jüngling und Mann durch lichten Geist und geordnetes Denken so ausgezeichnet hatte, in völliger geistiger Umnachtung. Am folgenden Tage wurde die Section der Leiche vorgenommen, welche neben verschiedenen Mißbildungen und Fehlern an einzelnen Körpertheilen im Stirnlappen auffallend zahlreiche und sehr gut ausgebildete, stark geschlängelte Gehirnwindungen erkennen ließ. Bei der am 30. September vorgenommenen Beerdigung sprach der Rector der kgl. Industrieschule und Professor Dr. Pfeiffer, ein ehemaliger vorzüglicher Schüler des Verstorbenen, nach dem Geistlichen am Grabe. Derselbe ließ auch in der Augsburger Abendzeitung vom 29. September 1887 einen hier theilweise mit benutzten warmen Nachruf an seinen Lehrer drucken, worin er dessen einfaches Wesen und sein lauteres Streben hervorhob, das keinen anderen Antrieb hatte als die Liebe zur Wissenschaft.

[196] Nach eigenen Erlebnissen und mit Benützung von Personalacten und Aufzeichnungen von Verwandten und Schülern.