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ADB:Ulrich (Züricher Familie)

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Artikel „Ulrich, Zürcherische bürgerliche Familie“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 248–252, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ulrich_(Z%C3%BCricher_Familie)&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 13:10 Uhr UTC)
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Band 39 (1895), S. 248–252 (Quelle).
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Ulrich: Zürcherische bürgerliche Familie, von Gelehrten, Theologen, Staatsmännern. Von Waltalingen bei Stammheim, wo noch jetzt der Name erscheint, kamen vier Söhne des dortigen Untervogtes Nikolaus U. im 16. Jahrhundert nach Zürich, wo sie das Bürgerrecht erwarben. Von dem zweiten dieser Brüder, Ulrich U., stammen die Träger des Namens ab, die [249] in den folgenden drei Jahrhunderten ganz besonders in der Zürcherischen Kirche und Schule, im Chorherrenstifte zum Großmünster, theilweise in sehr hohen Stellungen, daneben – doch in geringerem Grade – in politischen und militärischen Aemtern sich bethätigten. Der Sohn des Ulrich U., Jakob († 1605), hatte vier Söhne, von deren Nachkommen mehrere hier zu erwähnen sind.

Ein erster litterarisch nachdrücklicher hervortretender Theologe des Namens war Hans Jakob U., der Sohn des zweiten der eben genannten vier Brüder. Geboren 1569, † 1638, zuletzt Professor der Theologie und Verwalter des Großmünsterstiftes, war er als Zeitgenosse der ersten hundertjährigen Jubelfeier der Reformation ein eifriger Lobredner und damit auch ein lebhafter Polemiker. Dahin gehören die Orationes duae von 1619, wovon die erste: commemorans reformationis ecclesiae Tigurinae annis abhinc centenis elapsis institutae beneficium divinum; andere spätere Schriften, von 1626 und folgenden Jahren, beleuchten und vertheidigen einige der Capitel der Confessio Helvetica. Unter den Streitschriften ist erstlich diejenige gegen den Jesuiten Gretser (A. D. B. IX, 644) zu nennen: Vindiciae pro Bibliorum Tigurinorum translatione Tigurina, von 1616, wo der Verfasser, allerdings in den heftigsten Ausfällen gegen den Angreifer, Zürichs, Zwingli’s, Leo Jud’s Ehre verficht. Eigenthümlich war der 1628 lateinisch – De religione antiqua et catholica S. Felicis et S. Regulae protomartyrum Tigurinorum, reliquorum item Legionis Thebaeae Sociorum –, dann auch mit Zusätzen in deutscher Sprache, angestellte Versuch, zu beweisen, der Glaube dieser Schutzheiligen Zürichs sei kein anderer gewesen als derjenige, dem das reformirte Zürich jetzt beipflichte, selbstverständlich mit vielen Aeußerungen gegen den römischen Katholicismus. In den nachher zu erwähnenden Miscellanea Tigurina ist in Band II, 551–574, eine Biographie dieses Hans Jakob U. enthalten.

Ein Vetter dieses Theologen war der 1602 geborene Hans Jakob, Sohn des vierten Bruders – Professor und Schulherr Heinrich – unter den Söhnen des Jakob U. Nach Studienreisen im Auslande, auf denen er sich Sprachfertigkeit und gewandte Umgangsformen erworben, stieg er von 1626 an durch verschiedene Pfarrstellen und Professuren zur höchsten Stelle der Zürcherischen Kirche empor; 1649 als Antistes erwählt, starb er am 22. Februar 1668. Selbst litterarisch in geringerem Umfange thätig – doch sind von ihm religiöse Tractate für die im venetianischen Kriegsdienste stehenden Soldaten in das Italienische übersetzt, und ebenso ist eine Beschreibung des Vesuv von U. genannt –, war er dagegen ein eifriger und verständnißvoller Förderer der 1629 ins Leben gerufenen Zürcherischen Bürgerbibliothek, zu deren ersten Gründern ein naher Verwandter, Johann Ulrich U. – mit drei jungen Freunden – gezählt hatte, ermuntert ganz besonders durch Hans Jakob’s eigenen Vater, dessen eigenes Haus – bis zu dem allerdings schon 1630 eintretenden Tode – für die gesammelten Bücher zuerst eingeräumt wurde. Ebenso half U. als Antistes mit Eifer, daß zuerst einem convertirten italienischen gelehrten Mönche Costa zu italienischen, später einem jüngeren zürcherischen Geistlichen Brennwald zu französischen Lehrvorträgen der untere als akademische Aula dienende Raum der Wasserkirche – in den oberen Theilen stand nun jene Stadtbibliothek – eingeräumt wurde. Aber auch sonst stand U. schon früher, noch als Diakon beim Fraumünster, mit angesehenen Persönlichkeiten des Auslandes in Verbindung. So schenkte ihm Herzog Heinrich von Rohan für die Bibliothek eine hebräische Bibel, die er mit einem verbindlichen Schreiben aus Cur 1632 begleitete, hernach die schöne Pariser Ausgabe seines Parfait Capitaine, und nach Rohan’s Tode versah U. 1638 bei der feierlichen Beisetzung im Chore der Kirche zu Königsfelden das Amt des Geistlichen. Der von dem Schotten Duraeus mit [250] großer Beharrlichkeit gemachte Versuch einer zu erstellenden Union, Confessionum harmonia, einer Beseitigung der zwischen den verschiedenen reformirten Kirchen vorliegenden Trennung, welcher mehrmals, 1654 und 1655, 1662, 1666, auch Conferenzen der evangelischen eidgenössischen Orte beschäftigte, wurde von U. mit Zustimmung begleitet. Persönlich war U. ein Mann von großer Unerschrockenheit, was er besonders 1652 bei einer furchtbar zerstörenden Pulverexplosion infolge Blitzstrahls in Zürich bewies. Seine Leitung der Zürcherischen Kirche zeigt, der damaligen Zeitströmung entsprechend, eine weiter gehende Versteifung der Orthodoxie und eine größere Verstärkung des Consistorialregimentes. Zur Signatur der Zeit zählen im Weiteren die von einem Geistlichen des 19. Jahrhunderts – O. A. Werdmüller, 1845 – als „Glaubenszwang“ charakterisirten Maßregeln von 1659 gegen den wegen leichtfertiger und lästerlicher Aeußerungen angeklagten General Johann Rudolf Werdmüller, aber noch mehr die Verfolgung des wegen heterodoxer Ansichten angeklagten Pfarrers Michael Zingg 1660 und 1661.

Im 18. Jahrhundert stieg ein Nachkomme des Jakob in vierter Generation, Urenkel des unter den vier Söhnen ältesten Bruders Hans Georg, Hans Jakob, geboren 1665, zum Bürgermeisteramte empor. Anfangs ebenfalls für den geistlichen Stand bestimmt, arbeitete sich U. durch verschiedene Beamtungen bis 1719 zu dieser höchsten Würde auf, starb aber schon am 26. Februar 1723. Seit 1701 erscheint U. als zürcherischer Abgeordneter auf zahlreichen gemeineidgenössischen, evangelischörtischen Versammlungen, besonders auch als Betheiligter an diplomatischen Verhandlungen. Eine bemerkenswerthe theoretische Auffassung schweizerischer Politik hatte U. 1694 in einem Vortrage: „Axioma paradoxum“ dargelegt, den er im sogenannten Collegium Insulanum, einer nach ihrem Sitzungslocale auf der Wasserkirche bezeichneten Gesellschaft, hielt, des Inhalts, daß die Einigkeit in der Eidgenossenschaft schädlich, deren Zweiung – auch in Confessionen – oft nützlich, zu ihrer Erhaltung vortheilhaft gewesen sei. Allein gerade seine Mitwirkung wurde nachher in der Zeit tieferer Entzweiung voran für Friedensstiftung erfordert. Nachdem er schon 1707 in den inneren Unruhen der verbündeten Stadt Genf vermittelt hatte, war er nach dem blutigen Kriege Zürichs und Berns gegen die katholischen fünf Orte 1712 bei Errichtung des Friedensschlusses, ebenso 1718 bei der endlich erzielten Beilegung des bis dahin noch immer fortdauernden Gegensatzes gegenüber dem Fürstabt von St. Gallen betheiligt.

Des Antistes U. gleichnamiger Urenkel, Hans Jakob U., geboren 1683, † am 25. Mai 1731, war wieder theils praktischer Theologe, theils nach einander in der Bekleidung mehrerer Professuren. Berufungen nach Heidelberg und Groningen hatte er abgelehnt. Neben zahlreichen, überwiegend homiletischen litterarischen Hervorbringungen steht als eine höchst lobenswürdige Leistung seine 1722 bis 1724 in drei Bänden herausgegebene Sammlung: „Miscellanea Tigurina, edita, inedita, vetera, nova, theologica, historica“, welche besonders wichtige biographische Stücke zur Reformationsgeschichte, beispielsweise zuerst vollständig, wenn auch keineswegs genügend, Thomas Platter’s Selbstbiographie, dann die lateinische Autobiographie des Rudolf Collinus, sowie manches andere bemerkenswerthe Stück enthält, ferner zahlreiche Beiträge zur Geschichte des Antistes Breitinger. Ulrich’s Tod gab zu einer für die Zeit ganz bezeichnenden voluminösen Kundgebung Anlaß, zur Veröffentlichung seines „Schwanengesanges“, der letzten „geistreichen Oration“ des Gestorbenen, mit angehängtem Commentar der „Lebens- und Sterbens-Geschichte“ des sichtlich sehr geschätzten Mannes, lateinisch, durch Professor Joh. Jak. Zimmermann, ebenso in deutscher Uebersetzung. Daß übrigens U. auch außerhalb Zürich’s, wo er als vom deutschen Pietismus [251] angehauchter Kanzelredner Anklang und Anfechtung zugleich fand, als solcher in weiterem Umkreise Geltung hatte, geht daraus hervor, daß Predigten von ihm durch den damals in Utrecht lehrenden Theologen Lampe (s. A. D. B. XVII, 579 u. 580) ins Holländische übersetzt wurden.

Der gleichen theologischen Richtung, doch in ausgeprägterer Form, gehörte Hans Kaspar U., geboren 1705, † am 27. Februar 1768, an, die längste Zeit – von 1745 an – Pfarrer am Fraumünster, ein Nachkomme des vorher erwähnten Hans Georg in vierter Generation. Eben bei Lampe, dem er von Utrecht nach Bremen folgte, dann auf längeren Reisen hatte er reiche Anregung empfangen, deren Wirkung sich in seinem höchst erfolgreichen Auftreten als Prediger erwies; daneben wandte er dem geistlichen Gesange seine Aufmerksamkeit zu. Neben zahlreichen gedruckten Predigten steht die 1755 von ihm edirte, weit verbreitete Biblia, eine mit Vorreden, Uebersichten, Auslegungen. Nutzanwendungen versehene Bibelübersetzung. Ein noch heute ganz werthvolles Werk Ulrich’s ist seine 1768 erschienene „Sammlung jüdischer Geschichten, welche sich mit diesem Volk in dem 13. und folgenden Jahrhunderten bis auf 1760 in der Schweiz von Zeit zu Zeit zugetragen“. U. hatte schon auf seinen Studienreisen mit gelehrten Juden sich in Verbindung gesetzt; ein Rabbiner las mit ihm den Talmud und jüdische Autoren. Stets beschäftigte er sich eifrig mit dem Hebräischen, wurde viel von Juden besucht und hatte für solche Gäste in seinem Pfarrhause eigenes Küchengeräth in Bereitschaft. In seinem mit reichlichen urkundlichen Beilagen ausgestatteten, ein großes Material bewältigenden Werke ist besonders der Theil II, über Zürich, von Bedeutung. Am Schlusse zog U. die neueren preußischen gesetzlichen Bestimmungen über die Juden herbei. Dann beantwortete er, als reformirter Geistlicher, die Frage, ob eine christliche Obrigkeit mit gutem Gewissen Juden in ihrem Lande dulden und schützen möge, entschieden, zwar mit gewissen Einschränkungen, bejahend. Aber weiter fragt er noch in einem angehängten Abschnitte: „Beten die Christen auch für die Bekehrung der Juden?“ – Ferner erwarb sich U. ein Verdienst um seine Familie durch die Anlage eines großen Buches in gewaltigstem Folioformat über den Stamm der „Ulrich von Waltelingen“ in Zürich, 1767, nebst Auskunft über die Errichtung des 1741 und 1742 gestifteten Familienfond. In ganzer Vollständigkeit verfolgt er da, Blatt für Blatt, die Filiationen bis auf seine eigene Zeit, mit Wappen, Bildern hervorragenderer Persönlichkeiten, Beifügung biographischer Notizen, die zum Theil größeren Umfang annahmen. Den einläßlichsten Aufschluß bietet er über sich selbst und schildert vorzüglich darin seinen Studienaufenthalt und seine Reisen von 1727 an in Holland, dann in Deutschland, wo er nach dem Aufenthalte bei Lampe in Bremen namentlich Berlin und mehrere deutsche Universitäten berührte. (Vgl. Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1895, S. 195–245.)

Ein Urgroßneffe des Antistes Hans Jakob, Nachkomme des dort genannten Professors und Schulherrn Heinrich in vierter Generation, wurde wieder Antistes: Hans Rudolf, geboren 1728, † am 8. Februar 1795. Durch Reisen gewandt geworden, ein Mann von gründlicher vielseitiger Bildung, neben seinem Pfarramte – am Waisenhause – Professor der Beredsamkeit, war U. in seinen formal schönen, auch freimüthigen Predigten, die ihren Eindruck nicht verfehlten, ein Repräsentant der rationalistischen Richtung in geistvoll förderlicher Weise. In seinem Amte als Antistes, das er 1769 antrat, bewies er die gleiche Unermüdlichkeit der Arbeit, das einfache Auftreten, das ihn schon vorher beliebt gemacht hatte. Besonders aber wandte er ferner der Schule, und zwar vorzüglich auch den vernachlässigten Landschulen, seine eifrige Thätigkeit zu. Ulrich’s Stellung an der Spitze der zürcherischen Kirche hatte in der Zeit seines Waltens, [252] in der Betonung der Unparteilichkeit, um so mehr Schwierigkeit, je ausgeprägter, in sehr bedeutenden Persönlichkeiten, die verschiedenen Richtungen in Zürich einander entgegentraten, je entschiedener voran Lavater dem immer stärker eindringenden Rationalismus sich entgegenstellte. Doch erhielt sich U. im Ansehen. Ein neuerer Zürcher Theologe sagt von U.: „Sein Bild hat etwas Einnehmendes, Liebliches, Geistreiches; Denkkraft wölbt die hohe Stirne. Güte leuchtet aus dem Auge und mildert den etwas satirischen Zug, der um den Mund des Menschenbeobachters und Sittenrichters spielt“.

Von dem einen Sohne dieses Antistes, Friedrich Salomon, der als philologischer Lehrer bis zur Umgestaltung der zürcherischen Schulen nach Aufhebung des Chorherrenstiftes, dem auch er angehörte, im Amte stand († 1848), stammt der Jurist David U. (s. u. S. 253). Vom jüngeren Sohne ist sein Enkel Melchior U., geboren 1802, † am 22. Juli 1893. Auch dieser hatte sich, den Traditionen getreu, dem theologischen Studium zugewandt, und er bekleidete an der 1833 eröffneten neuen Universität längere Zeit ein Extraordinariat. Allein immer mehr wandte er sein Augenmerk anderen Dingen zu. 1832 war er mit F. Keller (s. A. D. B. XV, 565) einer der Gründer der antiquarischen Gesellschaft. Doch ganz besonders nahm er sich, der Mann festen Ordnungssinns und durchgreifenden Wollens, gemeinnütziger Fragen an; bis kurz vor seinem Ende leitete er mit sicherer Hand die umfangreichen wohlthuenden Anstalten der Zürcher Hülfsgesellschaft. Daneben ging U. als einer der ersten mit wissenschaftlichen Gesichtspunkten wandernden energischen Bergsteiger in den abgelegenen Theilen der Schweizeralpen, vor allem seit 1847 im südlichen Wallis – nach ihm heißt das Ulrichshorn im Saasthal –, bahnbrechend vor. Die in den Mittheilungen der naturforschenden Gesellschaft in Zürich niedergelegten, hernach die in der Sammlung „Berg- und Gletscherfahrten“ (1859, 1863) – besonders in Gemeinschaft mit dem Berner Gottlieb Studer († 1890) – niedergelegten Berichterstattungen sind in ihrer präcisen einfach schlichten Darlegung geradezu classisch. So war U. 1863 einer der Gründer des Schweizer Alpenclubs, den er noch in seinen höheren Jahren hernach drei Jahre hindurch als Centralpräsident leitete, dessen Publicationen er wieder werthvolle Arbeiten zur Verfügung stellte.

Aus einer Linie, die von einem Sohne des oben erwähnten Hans Georg stammt, folgte, in siebenter Generation nach demselben, der Maler Joh. Jakob U. (s. u. S. 256).

Vgl. über die Theologen, besonders die beiden Antistes: G. R. Zimmermann, Die Zürcher Kirche 1519 bis 1819 nach der Reihenfolge der Zürcherischen Antistes (1878), besonders S. 194 ff., 323 ff., über Melchior Ulrich: E. Walder, im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, XXIX. Jahrg. (1894), S. 203–227, und (G. Finsler) Neujahrsblatt der Zürcher Hülfsgesellschaft für 1895.