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ADB:Usinger, Rudolf

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Artikel „Usinger, Rudolf“ von Ferdinand Frensdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 378–381, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Usinger,_Rudolf&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 03:04 Uhr UTC)
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Band 39 (1895), S. 378–381 (Quelle).
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Usinger: Rudolf U., Historiker, geboren am 7. Juni 1835 zu Nienburg an der Weser, † am 31. Mai 1874 zu Bremen. Sein Vater war der Medicinalrath U., ein beschäftigter und angesehener Arzt in Nienburg († 1849), seine Mutter eine geborne Freiin Grote. Von Geburt an lungenkrank, hat U. den größten Theil seiner jungen Jahre auf dem Krankenlager verlebt, bald im elterlichen Hause, bald in ländlichen Pfarrhäusern, wo er theils zur Pflege, theils um Unterricht zu empfangen untergebracht war, vorübergehend auch einmal auf einem Gute, wo er die Landwirthschaft erlernen sollte. Immer wieder machte sich die Krankheit mit ihren Ansprüchen geltend; wiederholt trat sie so drohend auf, daß sein Ende erwartet wurde, und er hat selbst wohl gehört, wie sich seine Umgebung von seinem Tode unterhielt. Da seine Tage gezählt schienen, hielt man es nicht für räthlich, ihn dem Zwange einer öffentlichen Schule zu unterwerfen. Nachdem aber der Besuch des Bades Lippspringe im Sommer 1855 eine günstige Wendung herbeigeführt hatte, suchte U. durch den Privatunterricht des Conrectors Fromme in Nienburg, der ihn in Latein und in den modernen Sprachen vorbereitete, und durch eifriges Selbststudium nachzuholen, was andern die Schule bot. Früh erwachte seine Vorliebe für Geschichte, zumal die seiner niedersächsischen Heimath. Schon im J. 1856 brachte die Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (Jg. für 1853) zwei Aufsätze von ihm: die Grabsteine der Grafen von Hoya in der Kirche zu Nienburg und das Steinlager beim Geweckensteine in der Nähe von Wölpe. Im October 1857 bezog er die Universität Göttingen und wurde auf Grund eines Zeugnisses seines Lehrers Fromme als stud. philos. immatriculirt. So vielseitig er sich auszubilden suchte, daß deutsche Geschichte der Mittelpunkt seiner Studien und seiner Lebensarbeit wurde, stand für ihn fest, nachdem er Georg Waitz kennen gelernt hatte. An den von Waitz geleiteten historischen Uebungen nahm er seit seinem zweiten Semester theil und legte hier im Winter 1859/60 die Arbeit vor, aus der später seine Deutsch-dänische Geschichte erwuchs. Im December 1860 promovirte er mit der quellenkritischen Abhandlung: „Die dänischen Annalen und Chroniken des Mittelalters“ (Hannover 1861). Im Herbst 1861 ging er auf ein Jahr nach Berlin, machte sich mit den Historikern der Universität [379] bekannt und arbeitete an der Fertigstellung der Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich II., die Hirsch (s. A. D. B. XII, 469) unvollendet hinterlassen hatte. Je mehr er sich in die Aufgabe vertiefte, desto weniger sagte es ihm zu, die unfertige Arbeit eines andern, dessen Grundanschauung er nicht theilen konnte, zu vollenden. Nach Veröffentlichung des ersten bis zum Jahre 1006 reichenden Bandes, der im Sommer 1862 mit einer Vorrede von Waitz erschien, gab er die Weiterführung des Werks auf. Nach Göttingen zurückgekehrt, war er bereit für die Sammlung der Städtechroniken Ostern 1863 nach Augsburg zu gehen, als der Arzt das Klima dieser Stadt für Usinger’s Gesundheitszustand bedenklich erklärte. Er gab daher den Plan auf – der Referent trat an seine Stelle – und bereitete seine Habilitation als Docent der Geschichte in Göttingen vor. Im Sommer 1863 erschien sein Buch „Deutsch-dänische Geschichte 1189–1227“, und im Juli erhielt er die venia docendi für mittlere und neuere Geschichte. Bis Ostern 1865 lehrte U. in Göttingen, sein Interesse mehr und mehr der neuern Geschichte zuwendend, wie auch seine Vorlesungen überwiegend diesem Gebiete galten. Zugleich betheiligte er sich lebhaft an den politischen Bewegungen der Zeit. Er kam in nahe Beziehungen zu Miquel [WS 1], der damals als Rechtsanwalt in Göttingen lebte, trat dem Nationalverein bei, auch dem Protestantenverein, und nahm sich der Göttinger Zeitung insoweit an, als er die Thätigkeit des Unternehmers, der zugleich Drucker und Redacteur war, überwachte, mitunter, jedoch selten, das Wort ergriff. Zu Ostern 1865 erhielt U. einen Ruf als Extraordinarius nach Greifswald und wurde nach Jahresfrist Ordinarius. Ostern 1868 ging er als Nachfolger Treitschke’s nach Kiel. So schwer auch der Anfang in Kiel war, allmählich gestalteten sich die akademischen und persönlichen Verhältnisse sehr befriedigend. Im Frühjahr 1868 hatte er sich mit Fräulein v. Bardeleben in Kassel verheirathet. Seine Gesundheit hatte sich leidlich befestigt, wenn auch einzelne Rückfälle nicht ausblieben. Ein solcher trat ein, während er an der Versammlung des Hansischen Geschichtsvereins zu Bremen in der Pfingstwoche 1874 theilnahm. Am Mittwoch mußte er sich in Hillmann’s Hotel, wo er wohnte, niederlegen. Am Sonntage darauf starb er. Seine Leiche wurde nach Nienburg gebracht und in dem Familienbegräbniß beigesetzt. Es war ein kurzes, durch Krankheit noch verkürztes und gehemmtes, aber von einer rastlosen Thätigkeit erfülltes und geistig bewegtes Leben. In einer ununterbrochenen Folge von seiner Doctordissertation an bis in sein Todesjahr liegt die Reihe größerer und kleinerer Arbeiten vor, in denen er, auf eine umfassende Quellenkenntniß gestützt, in scharf eindringender kritischer Forschung seine Aufgaben erfaßt und zugleich darnach strebt, das Erforschte geschickt und anschaulich darzustellen. Bald sind es allgemeinere, die Zeit beschäftigende Probleme, wie die von Buckle vorgetragenen Ideen über Geschichte oder die an die Magdeburger Katastrophe sich knüpfende historische Controverse (Histor. Zeitschr. Bd. 19 v. J. 1868; 13 v. J. 1865), bald die detaillirtesten Forschungen zur Staats- und Territorialgeschichte, die er sich auswählt. Er weiß immer den Einzelpublicationen, den localen urkundlichen Veröffentlichungen interessante allgemeine Gesichtspunkte abzugewinnnen: so wenn er das Erscheinen der Hamburger Kämmereirechnungen dazu benutzt, den Haushalt einer mittelalterlichen Stadt (ebd. Bd. 24, 1870) oder die ersten Bände der Hanserecesse dazu, die Anfänge der Hanse in ihrem historischen Zusammenhange darzustellen (Preuß. Jahrb. 28 v. J. 1871). Seine Forschungen gelten den verschiedensten Zeiten deutscher Geschichte. Lange hat ihn die ältere Stammes- und Territorialgeschichte angezogen. Seine „Forschungen zur lex Saxonum“ (Berlin 1867), mögen sie auch in einem wichtigen Punkte fehlgreifen, haben doch einen bedeutsamen Beitrag zur Datirung dieses Volksrechts geliefert. Noch aus seinem [380] Nachlaß hat Waitz: „Die Anfänge der deutschen Geschichte“ (Hannover 1875) veröffentlicht, ein Bruchstück aus umfangreichen Arbeitsplänen, zu denen er immer wieder zurückgekehrt war. Noch lieber würde man ihn Studien haben ausführen sehen, wie sie in einem Aufsatze: „Das deutsche Staatsgebiet bis zu Ende des 11. Jahrh.“ (Histor. Ztschr. 27, 1872) niedergelegt sind: vorzügliche Beiträge zu dem litterarisch noch so wenig angebauten Gebiete der Geschichte der politischen Geographie. Im Zusammenhang mit seinen Arbeiten an den Jahrbüchern des deutschen Reichs steht sein Aufsatz über Kaiser Heinrich II., bestimmt, sein von Giesebrecht und Hirsch abweichendes Urtheil über diesen Herrscher zu begründen (Hist. Ztschr. 8, 1862); die Kieler Festrede zum 22. März 1870 über das Königthum der Ottonen und Salier, der Aufsatz in Westermann’s Monatsheften: „Ein deutscher Bischof“, ein Lebensbild Thietmar’s von Merseburg (Mai 1868). Der Geschichte der letzten salischen Kaiser, deren Bearbeitung U. für die Jahrbücher des deutschen Reichs übernommen hatte, gehört an, was er über eine Sibylle des Mittelalters aus einer Berner Hs. in den Forschungen Bd. X und XI (1870 u. 71) veröffentlichte. Gleich seinen Vorlesungen haben sich auch seine Aufsätze stets in Beziehung zur neueren Geschichte gehalten. 1863 schrieb er gelegentlich der fünfzigjährigen Feier der Leipziger Schlacht eine kurze „Geschichte der Freiheitskriege“ (Cob. 1863); „Napoleon, der rheinische und der nordische Bund“ (Preuß. Jahrb. Bd. 14 v. 1865) ist durch das Erscheinen der Memoiren des Grafen v. Senft (1863) und der gleichzeitig publicirten Bände der Correspondenz Napoleon’s I. veranlaßt. Pertzens Gneisenau begleitete er mit einer die Mängel des lange erwarteten Werkes beleuchtenden Kritik, die zugleich eine eigene Skizze von Gneisenau’s Leben bis Ende des Jahres 1806 vorlegte (Histor. Zeitschr. Bd. 14, 1864). Wer an den politischen Vorgängen einen so lebhaften Antheil nahm wie U., wie hätten dem nicht die großen Zeitereignisse seit 1866 die Feder in die Hand drücken sollen! Während des deutsch-französischen Krieges erschien von ihm in den Preußischen Jahrbüchern der Aufsatz: „Der politische Zustand Frankreichs“ und die kleine, seinem Lieblingsgebiete historisch-geographischer Forschung angehörige Schrift: „Die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich“ (Berlin 1870). Die Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark im Mittelalter hatten ihn von jeher beschäftigt; ihnen galt sein wichtigstes Werk; einem oft schon bearbeiteten Gebiete hatte er es verstanden neue Ergebnisse abzugewinnen; nirgends war, wie ein Essay Sybel’s (Hist. Ztschr. 12, 1864) mit Recht rühmt, einem politisch-nationalen Gesichtspunkt zu Liebe das Ergebniß objectiver Forschung willkürlich erweitert oder gefärbt. Die Kieler Professur legte ihm die Pflicht auf, sich der Landesgeschichte anzunehmen. Als Secretär der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Landeskunde hatte er die Redaction der Zeitschrift zu besorgen und die Quellenpublicationen der Gesellschaft fortzuführen. Mit Eifer und raschem Erfolge griff er zu, überall selbst thätig und dadurch andere zur Nacheiferung anspornend. Auch hier begegnet man einer lehrreichen Studie historisch-geographischer Art: „Übersicht der territorialen und staatsrechtlichen Entwicklung Nordalbingiens“. Der Aufsatz: „Uwe Jens Lornsen“ knüpft an das 1872 erschienene Buch von K. Jansen an, gibt aber auf Grund der neu durchforschten und ergänzten Quellen einen selbständigen Entwurf zu einer Biographie Lornsen’s. Erst aus dem Nachlasse Usinger’s konnte in einem seinem Andenken gewidmeten Bande der von der Schleswig-holstein-lauenburg. Gesellschaft edirten Quellensammlung seine Ausgabe des Officium sancti Kanuti veröffentlicht werden (1874). Lieber noch als an Usinger’s Bücher und Schriften möchte man die Erinnerung an seine Persönlichkeit erhalten, an diesen lebendigen Geist in einem schwächlichen Körper, an diese zähe und kraftvolle Natur, die durch alle Leiden sich [381] nicht von ihren Wegen abbringen ließ, an diesen lautern Menschen, der für das Gute und Wahre, seine Wissenschaft, das Vaterland glühte. Bei alledem eine zurückhaltende niederdeutsche Natur, die manchem kühl und zugeknöpft erscheinen mochte. Die ihn näher kannten, waren ihm alle von Herzen zugethan. Seine Schüler wußte er mit der Liebe zur Wissenschaft zu erfüllen, die ihn selbst belebte. Ein rascher, federgewandter Arbeiter; auf die Bemerkung Miquel’s im Herbst 1863, daß es an einer kurzen volksthümlichen Darstellung der Freiheitskriege fehle, schrieb er sofort die oben genannte Darstellung. Ein packender Redner ungeachtet seiner hohen, in der Erregung leicht umschlagenden Stimme; denn er verstand es plastisch zu schildern, seine reichen Kenntnisse zu verwerthen und die Zuhörer zu erwärmen.

K. Weinhold, Dr. Rudolf Usinger. Kiel 1874. – Derselbe in der Zeitschr. d. schlesw-holst. Gesellsch. V (1875), 390 ff. – Eigene Erinnerungen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johannes von Miquel (1828–1901), preußischer Finanzminister.