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ADB:Veghe, Johann

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Artikel „Veghe, Johann“ von Philipp Strauch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 525–528, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Veghe,_Johann&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 07:35 Uhr UTC)
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Veghe: Johannes V., niederdeutscher Prediger des ausgehenden Mittelalters. Im Anfang der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts als Sohn eines bemittelten münsterischen Bürgers (Arztes oder Handwerkers) geboren, wurde [526] der nach dem Vater benannte Johannes V. im J. 1451 in das Fraterhaus der Brüder vom gemeinsamen Leben in seiner Vaterstadt aufgenommen. Gegen Ende der sechziger Jahre nach Rostock geschickt, trat er vorläufig an die Spitze der dort von Münster aus vor längerer Zeit gegründeten neuen Niederlassung, kehrte jedoch bald nach seiner Heimath zurück, wo er 1472 als clericus Monasteriensis publicus imperiali auctoritate notarius urkundet und seit c. 1475 die Stelle eines Rectors des dortigen Fraterhauses versah. Kränklichkeit halber vertauschte er im J. 1481 dies Amt mit dem leichteren eines Rectors an dem 1444 gegründeten münsterischen Schwesterhause Niesink, das unter Veghe’s Leitung seine Blüthezeit erreichte. In dieser Stellung ist V. am 21. September 1504 gestorben. ‘Die letzten Jahrzehnte seines Lebens fallen mit den ersten der geistigen Blüthe Münsters zusammen’. Das münsterische Fraterhaus war ein Lieblingsaufenthalt der holländischen und westfälischen Humanisten und auch der alte V. ist noch mit manchem von ihnen in freundschaftliche Berührung getreten, so mit Jakob Montanus, dem späteren Rector des Herforder Fraterhauses und Freunde Melanchthon’s (s. A. D. B. XXII, 176), mit Hermann v. d. Busche (s. A. D. B. III, 637) und Murmellius (s. A. D. B. XXIII, 65). V. hat uns mancherlei suverlike leer unde schrift hinterlassen. Einblick in seine Thätigkeit als Prediger gewährt eine umfangreiche Sammlung von Predigten, die V. höchst wahrscheinlich im J. 1492 vor den Schwestern in Niesink gehalten hat, einige davon mögen einer früheren oder späteren Zeit angehören und in den nach dem Kalenderjahre geordneten Jahrgang eingeschaltet sein. Veghe’s Predigten sind keine schulgerechten, nach einer bestimmten Schablone verfaßten Sermone, sondern Collazien, d. h. im 15. Jahrhundert so viel wie erbauliche Anreden in freierer, ungezwungener Form, und dadurch tritt die Predigtweise eines V. und verallgemeinert die der Brüder vom gemeinsamen Leben in Gegensatz zu der scholastischen. Während letztere die Kunst in systematischem Aufbau, im Anbringen schulmäßiger Gelehrsamkeit und einer oft bis ins Geschraubte sich versteigenden Spitzfindigkeit sucht, entbehrt Veghe’s Predigt nicht selten einer genaueren Eintheilung, ohne jedoch deshalb weniger durchdacht zu sein. Sie zeichnet sich durch praktischen Sinn, durch Einfachheit, Natürlichkeit und große Klarheit aus, sie will allen verständlich sein, trägt also einen volksthümlichen Charakter. Damit ist nun nicht gesagt, daß V. die scholastische Philosophie verachtet, er zeigt sich vielmehr wohl mit ihr vertraut, aber er prunkt nicht mit seinem Wissen. Er citirt zahlreich Autoren, am häufigsten Augustinus ‘unsern heiligen Vater und Patron’, Bernhardus und Gregorius, demnächst Gerson, Ambrosius, Seneca, Hieronymus, Beda, Bonaventura, Thomas v. Aquin u. s. w., je einmal auch Gerhard Groote und Ruysbroek. Im Gegensatz zu sonstigem Gebrauch beruft er sich auf seine Gewährsmänner ausschließlich in deutscher Sprache, wie er denn überhaupt bestrebt ist, Fremdwörter möglichst zu meiden. Daneben verweist er auf das boick eghener undervyndinge oder eghener consciencien, auf das boick des levens und ganz besonders aus diesem hat V. geschöpft. Nicht minder aber unterscheidet sich V. und mit ihm die Brüder vom gemeinsamen Leben von den eigentlichen Mystikern, indem jene in ihren Predigten und Tractaten das Gefühl nicht bis übers Maaß steigern, sondern die Mittelstraße einzuhalten suchen. Einem V. waren bei aller geistigen Verwandtschaft die deutschen Mystiker doch zu speculativ, zu dunkel, zu wenig durchsichtig und selbst Ruysbroek, der Vermittler mystischer Ideen zwischen den oberdeutschen Mystikern und den Brüdern vom gemeinsamen Leben, wird V. zu wenig allgemein verständlich, zu abstract erschienen sein. Die kirchlichen Dogmen, zu denen sich V. mit einer einzigen Ausnahme gläubig bekennt, werden von ihm nicht speculativ, sondern durch Beispiele allgemeinster Art, die dem Leben entnommen sind, erläutert. Nur so konnte er mit seiner Lehre auf [527] die Schwestern, denen er predigte, wirken und aus demselben Grunde begreift es sich, wenn die Moral von V. überhaupt mehr berührt wird als die Dogmatik.

Man muß bedauern, daß Veghe’s Predigt innerhalb des Niesinker Schwesterhauses verhallen sollte. V. war wie Berthold von Regensburg und Geiler von Kaisersberg eine Persönlichkeit ganz dazu geschaffen, auf weite Kreise zu wirken. Er war ein Mann, der die Welt und die Menschen genau kannte, ausgestattet mit einer feinen Beobachtungsgabe, vor allem aber mit reichem Gemüth und warmem Herzen, das für die, welche seiner Obhut anvertraut waren, um so inniger empfinden konnte, als ihm selbst Kummer und Schmerz, ja schwere Seelenkämpfe nicht erspart geblieben zu sein scheinen. V. ist kein strenger Sittenrichter, kein Eiferer wie Berthold, sondern mild, ruhig, freundlich und nachsichtig, ein Prediger, der lieber die Pfade zu Gott schildert als den Weg zur Hölle, der auf strenge Befolgung der Satzungen für das äußere christliche Leben weniger hält als auf Innerlichkeit und Christenthum der Seele. Und so schlicht und anspruchslos der Mann, so einfach, natürlich, schmucklos auch seine Redeweise. Schmucklos, aber durchaus nicht trocken und unpoetisch. Während die zeitgenössische insbesondere oberdeutsche Predigt den Mangel an Tiefe durch Einflechten von Märchen, Schwänken und Anecdoten, oft recht derben Inhalts, ersetzen zu können meinte, verzichtet V. auf alles Beiwerk, ja die Heiligenlegende wird nur äußerst selten von ihm herangezogen. Trotzdem weiß er zu fesseln, indem er an die Natur, auch an die heimathliche, anknüpft, bei den Menschen und ihren verschiedenen Berufsarten Einkehr hält, auf Dinge des täglichen Lebens hinweist oder aus dem alten Volksschatze der Sprüchwörter und Rechtsgebräuche schöpft. Dies alles ist die Stoffquelle für seine zahlreichen, oft bis ins kleinste ausgeführten Bilder und Vergleiche, durch die die seelischen Zustände des Menschen veranschaulicht werden sollen. Dabei ist das Maaß des Erlaubten und Geschmackvollen meistens gewahrt geblieben. Das tertium comparationis erscheint in Veghe’s Bildern viel weniger verdunkelt als das sonst gerade in der scholastischen Predigt des 15. Jahrhunderts der Fall ist, die den Vergleich um so höher schätzte, je gesuchter er war, vorausgesetzt, daß er sich nur in ein scheinbar spitzfindig gelehrtes Gewand hüllte. V. verwendet seine mannigfachen Kenntnisse nicht, um mit ihnen zu glänzen oder seinen Zuhörerinnen zu imponiren, sie sind ihm lediglich Mittel, seine Gedanken gemeinverständlich zum Ausdruck zu bringen. Vom Aeußeren ausgehend versucht er die Deutung aufs Innere. Bei aller Volksthümlichkeit seiner Redeweise – auch der heitere, liebenswürdige Humor des Mannes kommt hierfür in Betracht – ist V. ‘ein warmer Freund feiner äußerer Bildung und Gesittung’, er wird nie derb und roh und auch das unterscheidet ihn vortheilhaft von den Berufsgenossen seiner Zeit. Mit Recht nennt Jostes Veghe’s Predigten ‘Zierden unserer alten Prosa und zum großen Theile wahre Perlen der Kanzelberedsamkeit’. Indem die Sammlung durch und durch heimathliche Luft ausströmt, erinnert sie in etwas an die alte Helianddichtung, andererseits muthet sie uns wegen des Reichthums schöner, wahrhaft christlich-humaner Gedanken wie eine deutsche Imitatio Christi an, die jedenfalls das vor ihrer berühmteren lateinischen Namensschwester voraus hat, daß sie in deutscher Sprache zur Nachfolge Christi begeistern will.

Wenn auch gelegentlich in münsterländischen Litteratur- und Geschichtsdenkmälern auf V. aufmerksam gemacht worden war, so hat doch erst Franz Jostes durch die Veröffentlichung der Predigten diesen vorzüglichen Kanzelredner zu neuem Leben wieder erweckt. Demselben Forscher sowie Prof. Schulze in Rostock verdanken wir sodann die Auffindung weiterer suverliker leer unde schrift [528] Veghe’s, dessen litterarhistorische Bedeutung dadurch von der des Predigers zu der des Schriftstellers emporsteigt. Von lateinischen Gedichten ist freilich bis jetzt nichts bekannt geworden und auch für zwei deutsche Gedichte geistlichen Inhalts steht seine Autorschaft nicht völlig fest, wol sicher aber dürfen ihm vier zum Theil umfangreiche Prosaschriften zugesprochen werden. Unter diesen bietet nur geringes Interesse der ‘Marientrost’, ein gewöhnliches Betrachtungsbuch, ‘gut geschrieben, auch nicht ohne treffende Bilder und Vergleiche, aber doch im ganzen ohne den Stempel besonderer Originalität’. Während V. sein Publicum auch hier in Klosterkreisen sucht, wendet sich die ‘geistliche Jagd’ an eine den höchsten Kreisen entstammende Persönlichkeit, an einen jungen jagdliebenden Fürsten, den man auf Herzog Magnus II. von Mecklenburg gedeutet hat. Es ist eine mit trefflicher Sachkenntniß geschriebene Allegorie, in die viele geistliche Erzählungen und weltliche Fabeln eingeflochten sind, um das Interesse des hohen Lesers, dem V. freimüthige Lebensregeln giebt, nicht erkalten zu lassen. Gegen Schluß wird die Allegorie gesuchter und man fühlt sich an Geiler’s ‘Hasen im Pfeffer’ erinnert. Beide Tractate werden an Werth weit überragt durch den vor 1486 verfaßten ‘Geistlichen Weingarten’ (auch Wyngarde der zele), eine umfangreiche Allegorie in 107 Capiteln, die unter Zugrundelegung einer Stelle des Hohenliedes: 7, 13 Mane surgamus ad vineas in drei Hauptabschnitten das Leben des beginnenden, fortschreitenden und vollkommenen Menschen schildert. Die Berührungen mit Ruysbroek’s Chierheit der gheesteleker brulocht sowie mit der dem h. Bernhard fälschlich zugeschriebenen Vitis mystica sind durchaus äußerlicher und untergeordneter Art. Der dritte Haupttheil nimmt die Worte ad vineas zum Ausgangspunkt und behandelt den Weinberg des Judenthums, dem Maria entsprossen ist, den Weinberg Christi, den Weinberg der Kirche (die unwürdigen hierarchischen Zustände, die ‘bösen Prälaten’ werden mit scharfen Worten gegeißelt) und den Weinberg des geistlichen Lebens. V. zeigt sich hier auf das genaueste vertraut mit dem Weinbau, der damals noch in Westfalen betrieben wurde. Verführt ihn zuweilen auch diese seine Detailkenntniß zu allzu ausgeführten und dadurch gezwungenen Vergleichen und Bildern, so versteht er es andererseits die durch das Thema veranlaßten Wiederholungen geschickt zu verdecken, ‘indem er bisweilen das Bild ganz verläßt und zu einer schlichten und einfachen Darstellung übergeht, oder, was in einem fort geschieht, andere höchst gelungene, kleinere Bildchen und Vergleiche einflicht. Daher freuen wir uns doch stets über das einzelne an sich, wo uns auch sein Verhältniß zum ganzen weniger ansprechend erscheint‘. Wie seine Predigten so ist auch dieser Tractat reich an Betrachtungen von rührender Innigkeit und es ist dringend zu wünschen, daß der ‘geistliche Weingarten‘ recht bald vollständig herausgegeben werde: sein erbaulicher Inhalt verdient es nicht minder als seine hervorragend lexikographische Bedeutung. Endlich ist noch das ‘Geistliche Blumenbett‘ (een bloemich beddiken) zu nennen, eine sich an die Worte des Hohenliedes: 1, 16 Lectulus noster floridus anlehnende Allegorie von den drei Betten, die Maria, die Synagoge der Juden und die minnende Seele Christo bereitet haben.

Johannes Veghe. Ein deutscher Prediger des 15. Jahrhunderts. Zum ersten Male herausgegeben von Franz Jostes. Halle 1883; vgl. Strauch, Anzeiger für deutsches Alterthum X, 202 ff., Schröder, Göttinger Gelehrte Anzeigen 1883 Nr. 42. – F. Jostes, Drei unbekannte deutsche Schriften von Johannes Veghe, Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft VI (1885), 345 ff. – L. Schulze, Bisher unbekannte Schriften des Johannes Veghe, Zeitschrift für Kirchengeschichte XI, 596 ff. – Krause, Rostocker Zeitung 1885 Nr. 296.