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ADB:Vossius, Gerhard Johannes

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Artikel „Vossius, Gerhard Johannes“ von Friedrich Koldewey in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 40 (1896), S. 367–370, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Vossius,_Gerhard_Johannes&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 16:01 Uhr UTC)
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Vossius: Gerhard Johannes (nicht, wie er hier und da irrthümlich genannt wird, Gerardus Joannis, sc. filius) V., wurde im Frühjahr 1577 in der Nähe von Heidelberg als der Sohn eines reformirten Landpredigers, Johannes V. (Alopecius) aus Roermond, geboren. Noch ehe der Knabe sein erstes Lebensjahr vollendet hatte, verlor der Vater, da er sich nicht, wie der Kurfürst Ludwig VI. (1576–1583) es von den pfälzischen Geistlichen verlangte, der lutherischen Abendmahlslehre anschließen wollte, sein Amt und zog mit seiner Familie nach Leiden, später, nachdem er inzwischen noch an zwei anderen Orten als Prediger [368] gewirkt hatte, nach Dordrecht. Dort starb er 1585 und ließ seinen Sohn, der bereits 1584 die Mutter verloren hatte, völlig verwaist zurück. Der achtjährige Knabe fand aber an Barbara van der Mijlen, deren verstorbener Gatte, Jakob van der Mijlen, mit seinem Vater eng befreundet gewesen war, eine zweite Mutter (altera mater), die ihn in ihr Haus aufnahm und seine Erziehung mit großer Liebe und Sorgfalt leitete. Nachdem V. sich bereits zu Dordrecht in den beiden alten Sprachen vortreffliche Kenntnisse angeeignet hatte, begab er sich im September 1595 nach Leiden und studirte dort unter Bonaventura Vulcanius Griechisch, unter Robert Snellius[WS 1] Mathematik, unter Peter Bertius und Peter Molinäus Philosophie, promovirte 1598 zum Magister und Doctor der Philosophie, um sich schließlich noch unter der Führung von Lucas Trelcatius, Franz Gomarus und Franz Junius eingehend mit der Theologie zu beschäftigen. Von dem Letztgenannten lernte er auch Hebräisch. Schon dachten die Curatoren der Leidener Universität daran, dem ausgezeichneten jungen Gelehrten den Lehrstuhl der Physik zu übertragen, als ihm – es war Anfang des Jahres 1600 – die Curatoren des Gymnasiums zu Dordrecht das Rectorat dieser Anstalt anboten. V. folgte der Berufung und brachte die ihm unterstehende Anstalt bald zu hoher Blüthe. Zu gleicher Zeit nahm sein Ruhm infolge seiner schriftstellerischen Thätigkeit von Jahr zu Jahr zu, und nicht bloß aus den Niederlanden, sondern auch aus Frankreich und England strömten Scharen von lernbegierigen Jünglingen herbei, um sich seine tiefe und umfassende Gelehrsamkeit zu nutze zu machen. Im J. 1615 versuchten die Grafen von Bentheim V. für ihr Gymnasium zu Burgsteinfurt als Professor der Theologie zu gewinnen. Dieser war auch nicht abgeneigt, ihrer Einladung Folge zu geben; als ihm aber kurz danach auf Empfehlung des ihm befreundeten Hugo Grotius von den Curatoren der Universität Leiden das Directorat des Staatencollegiums, einer Bildungsanstalt für zukünftige Theologen, angetragen wurde, zog er es vor, seine Kraft in den Dienst eines Instituts zu stellen, dem er selbst in seinen jungen Jahren als Zögling angehört hatte.

Um jene Zeit wurde in Holland zwischen den Anhängern des Arminius, den sogenannten Remonstranten, einerseits und den strengen Calvinisten andererseits mit der größten Erbitterung über die absolute Prädestination gestritten. V. hatte sich infolge seines friedfertigen und allen Zänkereien abgeneigten Charakters von dem Getriebe der Parteien stets fern gehalten, aber bald nach seiner Ankunft in Leiden verbreitete sich das Gerede, daß er es mit den freisinnigen Remonstranten hielte. In den genauen Beziehungen, die ihn mit dem angesehensten Führer derselben, Hugo Grotius, verknüpften, sahen die Gegner, Gomarus und sein Anhang, eine Bestätigung des Verdachts, nahmen auch an seiner Geschichte des Pelagianismus („Historia Pelagiana s. Historiae de controversiis, quas Pelagius eiusque reliquiae moverunt, libri tres.“ Lugd. Bat. 1618. 4°) heftigen Anstoß. So kam es, daß er nach dem Siege, den die Contra-Remonstranten 1619 auf der Dordrechter Synode davontrugen, alsbald seines Lehramtes enthoben und 1620 durch die Synode zu Gouda sogar von der Communion ausgeschlossen wurde. Milder urtheilte im folgenden Jahre die Synode von Rotterdam. Sie befahl, ihn wieder zum Sacramente zuzulassen, vorausgesetzt, daß er verspräche, gegen die Dordrechter Beschlüsse weder offen noch heimlich etwas zu unternehmen und nichts ohne die Approbation der theologischen Facultät zu veröffentlichen. Unter dieser Bedingung könne man ihn dulden; aber ein kirchliches Amt, wie überhaupt eine Stellung, die zu der Theologie in Beziehung stehe, dürfe er nicht bekleiden. In der That hat V. 1624 das geforderte Versprechen abgelegt und sich 1627 in seiner Schrift über die lateinischen Historiker („De historicis latinis libri tres.“ Amstelod. 1627. 4°) [369] hinsichtlich der Prädestination für einen Anhänger Augustin’s erklärt. Inzwischen hatten ihn die Curatoren der Leidener Hochschule, die seinen Werth zu schätzen wußten, 1622 zum Professor der Eloquenz und Geschichte ernannt. Auch übertrugen sie ihm nach dem Ausscheiden von Johannes Meursius den dadurch erledigten Lehrstuhl des Griechischen. Die Stände aber von Holland und Westfriesland trafen nicht bloß die Verfügung, daß sein Abriß der Rhetorik in allen ihren Schulen eingeführt werden sollte, sondern ertheilten ihm auch den ehrenvollen und in finanzieller Hinsicht höchst vortheilhaften Auftrag, für diese Anstalten im Anschluß an die älteren Werke von Steenhauwer (Lithocomus) und Nikolaus Cleynaerts (Clenardus) eine lateinische und eine griechische Grammatik auszuarbeiten. V. entledigte sich der ihm gestellten Aufgabe in kurzer Zeit. Die lateinische Grammatik erschien 1626, die griechische 1627, beide in lateinischer Sprache. Durch diese Werke gewann er auf die Entwickelung des holländischen Schulwesens einen ähnlichen Einfluß, wie ihn vorher in Deutschland Melanchthon ausgeübt hatte. Auch diesseits des Rheins haben seine Schulbücher vielfach Beachtung und Verwendung gefunden. Vgl. z. B. die Schulordnung des Herzogs August von Braunschweig-Wolfenbüttel vom Jahre 1651, abgedr. bei Koldewey, Braunschweigische Schulordnungen, Bd. II (Berlin 1890), S. 157, 161, 163.

Eines wie hohen Ansehens sich V. nicht bloß in seiner Heimath, sondern auch im Auslande zu erfreuen hatte, zeigte sich besonders auf einer Reise, die er 1629 mit seinen Söhnen Dionysius und Matthias nach England unternahm. Gelehrte und Herren vom Adel wetteiferten mit einander, ihm ihre Huldigungen darzubringen; der König aber gewährte ihm eine Audienz und verlieh ihm ein Kanonikat zu Canterbury, mit der Bestimmung, daß ihm die Einkünfte desselben auch in Holland zufließen sollten. Bald nach seiner Rückkehr erhielt V. die Aufforderung, an dem neugegründeten Athenäum zu Amsterdam die Professur der Geschichte zu übernehmen. Er folgte der Berufung, verließ Leiden 1631 und hat in seiner neuen Stellung noch länger als siebzehn Jahre ruhmvoll gewirkt. Sein Tod erfolgte am 17./27. April 1649, nach der gewöhnlichen Erzählung in Folge eines Sturzes, den er in seiner Bibliothek durch den Zusammenbruch der Bücherleiter erlitt, nach dem glaubwürdigen Berichte seines Freundes Johannes Tollius (vgl. Chauffepié, Nouveau Dict. hist. et crit. IV 459) aber an einer Krankheit, die im gewöhnlichen Leben als Kopfrose, in der Wissenschaft als Erysipelas bezeichnet wird.

Gerh. Joh. V. steht unter den großen holländischen Philologen der älteren Zeit als einer der größten da. Sein immenses Wissen verdankte er nicht bloß seiner glücklichen Beanlagung und seinem ausgezeichneten Gedächtnisse, sondern vor allem dem rastlosen Fleiße, mit dem er Tag und Nacht seinen Studien oblag, sowie der haushälterischen Sorgfalt, mit der er seine Zeit auszunutzen wußte. Auf die Unterhaltung mit den zahlreichen Besuchern, die ihm entweder ihre Hochachtung bezeugen oder seinen Rath in Anspruch nehmen wollten, verwendete er regelmäßig nicht mehr als höchstens je eine Viertelstunde, vgl. Jöcher, Gel.-Lex., IV, 1719. Er war ein Polyhistor im wahren Sinne des Wortes. Seine Verdienste liegen aber weniger auf dem Gebiete der Kritik. Sie beruhen vielmehr hauptsächlich darauf, daß er einen ungeheuren Stoff zu sammeln und auch – was manchem seiner gelehrten Zeitgenossen versagt blieb – zu beherrschen und mit gesundem Urtheil zu sichten verstand. Seine zahlreichen Werke, die theilweise erst nach seinem Tode in die Oeffentlichkeit traten, erschienen in sechs Foliobänden unter dem Titel „G. Jo. Vossii Opera omnia“ von 1695–1701 zu Amsterdam. An demselben Orte wird eine ansehnliche Sammlung von Briefen und Manuscripten, die V. hinterlassen, in der Bibliothek der Remonstranten [370] aufbewahrt. Verheirathet war V. zweimal, zuerst seit 1602 mit Elisabeth Corput, der Tochter eines Geistlichen zu Dordrecht; nach deren Tode mit der Tochter seines Lehrers Franz Junius, die gleichfalls den Vornamen Elisabeth führte. Von seinen acht Kindern, sechs Söhnen und zwei Töchtern, überlebte ihn nur ein einziger Sohn, Isaak V., von dem weiter unten noch des Näheren die Rede sein wird. Der Schmerz des Vaters über den Verlust der übrigen war um so größer, als sie sämmtlich schon herangewachsen waren und nicht bloß zu den schönsten Hoffnungen berechtigten, sondern sich theilweise bereits als tüchtig bewährt hatten. Infolge dessen war der Lebensabend des greisen Gelehrten sehr getrübt, um so mehr, als seine leidenschaftlich erregte Gattin sich garnicht zu beherrschen verstand und seinen Kummer durch ein Uebermaaß von Klagen in hohem Grade vermehrte. Unter diesen Verhältnissen war es allein die Wissenschaft und der Verkehr mit seinen zahlreichen Freunden, was den trefflichen Mann zu trösten und über die Zeiten der Trauer hinwegzuhelfen vermocht hat.

Die auf Gerhard Joh. Vossius bezügliche Litteratur findet sich u. A. sorgfältig zusammengestellt bei van der Aa, Biogr. Woordenboek, s. v., wo auch seine Schriften verzeichnet werden. Genauer noch erscheint das Verzeichniß bei Jo. Guil. de Crane, Oratio de Vossiorum Jniorumque familia. Groningae 1821. 4°. Wegen des Lebensganges vgl. außer Jöcher, Gelehrten-Lexicon IV, 1716–1720, besonders Jacques George de Chauffepié, Nouveau Dictionnaire historique et critique, Bd. IV, Amsterd. 1756, 2°, S. 599–612. Für die wissenschaftliche Beurtheilung des Polyhistors sind von besonderer Wichtigkeit: Corn. Tollii Oratio in obitum incomparabilis et illustris viri G. J. Vossii, habita … 12. April. 1649. Amstelod. 1649. 4°. – Herm. Tollii Orat. de G. J. Vossio grammatico perfecto. Amstelod. 1778. 4°. – Luc. Müller, Gesch. der klass. Philologie in den Niederlanden, Leipzig 1869, S. 40.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. wohl eher Rudolph Snellius