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ADB:Wigand, Justus Heinrich

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Artikel „Wigand, Justus Heinrich“ von Ludwig Stieda in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 454–457, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wigand,_Justus_Heinrich&oldid=- (Version vom 15. Dezember 2024, 21:34 Uhr UTC)
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Wigand: Justus Heinrich W., hervorragender Arzt und Geburtshelfer, wurde am 2/13. September 1769 in Reval (Esthland) geboren, woselbst sein Vater, der aus Corbach im Waldeckschen stammende Heinrich W., Oberpastor an der Ritterdomkirche war. Ein Bruder des Vaters war der Geh. Hofrath Dr. med. W. in Wildungen. Da der Vater unseres W. infolge schwerer Erkrankung ganz außer Stande war, sich um seine Familie zu kümmern, so lag die Erziehung in den Händen der Mutter Justine Gertrud Hettling, Tochter des Revalschen Gerichtssecretärs N. Hettling. Die Mutter muß eine ganz vortreffliche Frau gewesen sein: der Sohn war ihr in kindlicher Liebe und Verehrung zugethan; wiederholt hat er sich dahin geäußert, daß er der mütterlichen Sorgfalt und Pflege alles verdanke, was er sein eigen nenne; sie habe ihn zur Pünktlichkeit, Thätigkeit, Sittlichkeit und Religiosität angehalten. Nachdem der junge W. die Ritterdomschule in seiner Vaterstadt besucht hatte, zog er 1788 nach Jena, um daselbst Medicin zu studiren. Die Mittel dazu gewährte ihm [455] sein Oheim in Reval, der k. russ. Collegienrath Thomas Bluhm, der ihn väterlich liebte. – In Jena hörte W. mit besonderer Vorliebe die Vorlesungen des Anatomen Loder und des Geburtshelfers J. Ch. Stark, des Directors der Entbindungsanstalt. Dann setzte er 1791 seine Studien in Erlangen fort, wohin ihn der Ruf des trefflichen Klinikers v. Wendt zog; daneben lernte er bei dem Professor der Chirurgie und Geburtshülfe J. Ph. F. Rudolph operiren. Loder so wie Rudolph riethen ihm, sich der Geburtshülfe zu widmen, doch fühlte W. dazu keine Neigung. Nachdem W. 1793 den Grad eines Dr. med. erlangt hatte (Diss. de noxa fasciarum etc.), kehrte er in seine Heimath zurück, um sich hier eine Stelle zu suchen. Er mußte zu diesem Behuf in St. Petersburg sich einem Examen unterwerfen; – er reiste auch nach Petersburg, aber infolge eines Streites mit dem Chef des Medicinalcollegs gab er sein Vorhaben auf, und verließ seine Heimath und seine Vaterstadt, um nicht mehr dahin zurückzukehren. Er ließ sich noch im Herbst desselben Jahres 1793 in Hamburg als Arzt nieder und gewann hier sehr bald eine ausgezeichnete Stellung, sowohl unter seinen ärztlichen Collegen als auch beim Publicum. Es vereinigten sich mancherlei Umstände, um dem jungen Arzt den Aufenthalt zu einem angenehmen zu machen. W. war liebenswürdig und gewandt, von herzlicher Güte gegen Jedermann, dabei ein ausgezeichneter Arzt, er erwarb sich bald in dem damals reichen, selbständigen Hamburg eine lohnende Praxis auf einem Gebiet, von dem er früher nichts hatte wissen wollen, dem Gebiet der Geburtshülfe. Er hatte sich verheirathet – mit wem ist unbekannt[1] –, eine Tochter wurde ihm geboren, auch gute Freunde und anhängliche Patienten hatte er gewonnen: er hatte eine angenehme Thätigkeit als Arzt und fand Zeit und Muße zu wissenschaftlichen Arbeiten – er schien alles zu haben, was der Mensch braucht, um sich seines Daseins zu freuen und zufrieden zu sein. – Aber es war ihm kein langes Leben beschieden: schon 1810 fing er an zu kränkeln – als Student hatte er bereits in Erlangen Blut gehustet – es zeigten sich allerlei Vorboten eines beginnenden Allgemeinleidens, das die Biographen Wigand’s als gichtisch-rheumatisch bezeichnen, das aber wol ein Lungen- und Kehlkopfsleiden war. Die anstrengende Praxis gestattete keine rechte Erholung. Im Frühling des für Hamburg so außerordentlich harten und bedrückenden Kriegsjahres 1813 ging W. auf einige Wochen nach Wandsbeck, um auszuruhen. Gekräftigt kehrte er in das unterdessen von den Franzosen besetzte Hamburg zurück, – aber die Anwesenheit der Franzosen, die Greuel der Verwüstung, die ungünstige politische Lage, die anstrengende und aufreibende Praxis, der Jammer der Bürger wirkte so ungünstig auf das Befinden Wigand’s, daß er seit Ablauf des Winters 1814 sich mit dem Gedanken trug, die Praxis in Hamburg aufzugeben, und in einem südlicher gelegenen Theil Deutschlands seine verlorene Gesundheit wieder zu suchen. Am 30. August 1814 verließ er Hamburg, wie er selbst sagte, fast als Sterbender, und reiste über Berlin, Leipzig, Jena, Würzburg nach Heidelberg, wohin er seine Familie vorausgeschickt hatte. Den Winter 1814–15 verlebte er in Heidelberg, sich ganz seinen wissenschaftlichen Studien widmend. Er erkannte sein schweres Leiden und sah mit bewunderungswürdiger Ruhe seinem Ende entgegen; nur den einen Wunsch hegte er, daß es ihm vergönnt sein sollte, das Hauptwerk seines Lebens – („die Geburt des Menschen“) – zu vollenden. Den Sommer 1815 verbrachte er in Schwetzingen, den Winter 1815–16 in Mannheim, den Sommer 1816 in Wiesbaden, zum Winter zog er wieder nach Mannheim. Das Allgemeinbefinden hatte sich immerfort verschlechtert, sein Arzt und Freund Dr. Zeroni konnte nur die Willenskraft und Ausdauer bewundern, mit welcher W. seine Krankheit ertrug und dabei seinen litterarischen Arbeiten oblag: W. arbeitete ohne Unterlaß. Als Zeroni am [456] Abend vor dem Tode zu ihm kam, fand er ihn im Bette liegend, aber schreibend und arbeitend. W. fühlte, daß sein Ende herannahe, er sagte, daß er den folgenden Tag nicht erleben würde, und bat seinen Freund, die Nacht bei ihm zu bleiben. Zeroni erfüllte die Bitte des Sterbenden. Als Zeichen, daß es zu Ende gehe, faltete W. die Hände, das hatte er mit seinem Freunde verabredet, und verschied still und ohne merklichen Todeskampf, am 10. Februar 1817. – Ueber seine hinterbliebene Familie ist nichts bekannt.

W. war nach dem Zeugniß seiner Freunde ein edler Mensch und ein vortrefflicher Charakter; ein ausgezeichneter Arzt, ein begabter und fleißiger Gelehrter. – Er hat trotz der angestrengten ärztlichen Praxis, trotz seiner vielfach gestörten Gesundheitsverhältnisse, von Anfang an sich mit streng wissenschaftlichen Fragen beschäftigt und eine ganze Reihe von großen und kleinen Abhandlungen geburtshülflichen Inhalts veröffentlicht. Es liegt keine Veranlassung vor, die Titel aller dieser Aufsätze hier herzusetzen. Sie sind mitgetheilt in der Einleitung zu dem Hauptwerk Wigand’s „Die Geburt des Menschen“, I. Bd., p. LIII-LVI. Eine Aufzählung aller Schriften Wigand’s gleichzeitig mit einer kritischen Inhaltsangabe findet sich auch bei Rohlfs, Geschichte der Deutschen Medicin: die medic. Classiker, II. Abth., Stuttgart 1880, S. 416 ff. Hierauf verweise ich diejenigen, die Wigand’s wissenschaftliche Thätigkeit im Einzelnen kennen lernen wollen.

Wigand’s Bedeutung als medicinischer, insonderheit aber geburtshülflicher Schriftsteller ist sehr groß. Rohlfs hat ihn mit Recht der Zahl der medicinischen Classiker eingereiht. Ebenso wie Rohlfs hat sich früher bereits Nägele (Heidelberg) anerkennend und lobend über W. ausgesprochen. Das Hauptwerk Wigand’s ist die schon genannte „Geburt des Menschen, in physiologisch-diätetischer und pathologisch-therapeutischer Beziehung, größtentheils nach eigenen Beobachtungen und Versuchen dargestellt“ (2 Bde. Baden 1820). Das Buch, an dem W. 24 Jahre seines Lebens gearbeitet hatte, wurde nach dem Tode des Verfassers durch seinen Freund und Fachgenossen Fr. K. Nägele, Professor in Heidelberg, herausgegeben. Nägele hat auch als Einleitung einen vortrefflichen Lebensabriß Wigand’s geliefert. Durch dieses Werk hat sich W. für alle Zeit ein bleibendes Denkmal in dem medicinischen Wissensgebiet gesetzt. Es ist hier selbstverständlich nicht der Platz, im Einzelnen die Verdienste Wigand’s darzulegen. Das Hauptverdienst besteht darin, daß er in seinem Buch auf die bei der Geburt wirkenden Naturkräfte als auf das Wichtigste hinwies. Gegenüber der sogenannten mechanischen Geburtshülfe, die, ohne viel zu fragen, durch Anwendung von Instrumenten die Geburt beendigte, betont W. die dynamische Geburtshülfe, d. h. die Wirkung der Natur. Im Gegensatz zu der durch Kunsthülfe bewirkten Geburt, betonte W. die natürliche Geburt. In vielen Fällen könne, so lehrte er, durch diätetische Mittel die Geburt befördert werden, man könne ohne Kunsthülfe, die stets gewisse Gefahren mit sich führe, dasselbe Ziel – die Beendigung der Geburt – erreichen. Er gibt ein vollständiges Bild aller der Erscheinungen und Vorgänge, die sich bei der normalen (natürlichen) Geburt abspielen. Er verlangt, daß jeder Geburtshelfer nicht Techniker allein, sondern ein allseitig wissenschaftlich ausgebildeter Arzt sein sollte. Er wünscht, daß der Arzt auch als Mensch unterstützend und helfend der Frau zur Seite stehen sollte. Er weist darauf hin, wie nöthig es sei, eine genaue Untersuchung des ganzen Körpers vorzunehmen, um eine genaue sichere Diagnose zu stellen. Man lese Wigand’s Auffassungen und Erörterungen, die er bei Gelegenheit seines Besuches der Berliner Kliniken gibt („Meine Reise von Hamburg nach Heidelberg“, Frankfurt a/M. 1815). Wenn man meint, daß W. deshalb vielleicht aller Kunsthülfe abhold gewesen sei, so irrt man. Er hat eine neue Perforationsmethode beschrieben; ein [457] von W. angegebenes Verfahren der Wendung führt noch heute den Namen der Wigand’schen Wendung.

Siebold äußert sich in seinem Versuch einer Geschichte der Geburtshülfe (II. Bd., Basel 1845, S. 647) über W. folgendermaßen: „Unter denjenigen aber, welche sich in den letzten Jahrzehnten bestrebten, eine humanere Geburtshülfe einzuführen und ihr durch die treueste Naturbeobachtung selbst eine feste Grundlage zu geben, nimmt Wigand eine hohe Stufe ein, und die Wissenschaft wird sein Andenken für alle künftigen Zeiten dankbar bewahren“.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 455. Z. 22 v. o.: Nach dem Hamb. Schriftsteller-Lexikon hat Just. Heinr. Wigand sich verheirathet „1) am 10. Mai 1796 mit Elisabeth Margarethe Willigmann, einer Tochter des Notars Hans Diedrich Willigmann, und 2) am 22. Februar 1811 mit Maria Therese geb. Meyer, Wittwe des 1798 verstorbenen Dr. med. Christ. Ludw. Kunsemüller, Arzt in Hamburg. Sie verstarb in Lübeck am 26. September 1828“. [Bd. 45, S. 676]