ADB:Wilt, Marie
*) in Wien geboren. Ihre Mutter, ein blutarmes Mädchen aus dem Volke, starb bei der Geburt derselben im Choleraspital. Die Kleine ward danach als gänzlich verwaist dem Findelhaus übergeben und wäre wol nie im Leben zur Berühmtheit gelangt, hätte nicht Dr. Freiherr v. Pratobevera, ein angesehener Arzt, mit dem armen Findling Mitleid gefühlt. Auf sein Zureden fand sich seine Schwester, Frau Fanny Tremier, bereit, die kleine Marie Liebenthaler (so hieß ihr Muttername) an Kindesstatt anzunehmen und ihr eine sorgfältige Erziehung angedeihen zu lassen. Schon in frühester Jugend offenbarte sich ein großes musikalisches Talent, Musik war ihre Leidenschaft, oder wenn man lieber will, ihre zweite Natur. Voll Lust und Liebe machte sie sich an das Studium dieser anziehenden und doch so schwierigen Kunst. Sie brauchte nicht eigentlich zu lernen, ihr wunderbarer Instinct ließ sie das meiste schon im voraus errathen. Die halbe Mädchenzeit verträllerte und durchzwitscherte sie gleich einem muntern Vöglein, das seine Empfindungen in Tönen als der ihm angeborenen Sprache aushaucht. Zu gleicher Zeit bildete sie sich zur tüchtigen Pianistin aus, ihr Hauptaugenmerk blieb jedoch auf den Gesang gerichtet. Ihre Stimme war im 16. Jahre noch schmächtig und wenig kraftvoll, in der Mittellage sogar sehr schwach. Als sie die Jenny Lind hörte, gerieth ihr Inneres in Aufruhr. Nur Ein Gedanke beschäftigte sie unablässig, es ihr nachzuthun und gleich der schwedischen Nachtigall eine große Sängerin zu werden. Da ihr Geld nicht langte, um Singstunden nehmen zu können, wohnte sie zwei Monate lang als Begleiterin einer Gesangsschülerin dem Unterrichte an, welchen die treffliche Singmeisterin Buchholz-Falconi ertheilte und wußte vom bloßen Zuhören einigen Nutzen zu ziehen. Das steigerte ihre Sehnsucht nur noch mehr, nun selbst bei einem berühmten Gesangslehrer diese Kunst zu erlernen. Ihrem rastlosen Drängen Folge gebend führte die Pflegemutter sie zu einer Capacität, deren Richterspruch über ihre Zukunft entscheiden sollte. Das angerufene kritische Orakel, der Gesangprofessor Kunt, that seinen Machtspruch und erwies sich dabei, wie derartiges sich oft ereignet, als falscher Prophet. „Was wollen Sie singen, mein Kind“, meinte er achselzuckend, „Sie haben ja keine Stimme“. Das traf. Wie Eisreif fiel es der Kunstnovize aufs Herz, ihr kühnstes Hoffen vernichtend. Das traumhaft sie umgaukelnde Schattenbild von Künstlerruhm verflog. Zwar durfte sie zum Trost für diese Kaltwasserstrahlbegießung mit dem berühmten Geiger Ferdinand Laub Beethoven’s Violinsonaten zusammen spielen, doch die Laufbahn, der sie, einem unwiderstehlichen Drange folgend, zustrebte, schien für sie endgültig verschlossen. Tiefe Resignation bemächtigte sich ihrer. Da die Ausführung ihres Lieblingswunsches für immer vereitelt schien, wollte sie mit der thatsächlichen Welt sich abfinden, ihr Lebensschiff in den ruhigen Hafen einer bürgerlichen Ehe lenken. Statt mit dem Notenbuch in die Gesangsstunde und dann mit den Rollenheft zur Bühnenprobe schritt die Neunzehnjährige am Arme des Ingenieurs Franz Wilt zum Altare. Lange Jahre obliegt sie nun als sparsame Hausfrau in der Abgeschlossenheit einer engumfriedeten Existenz ihren Pflichten. Eine Abwechslung in ihr einförmig hinfließendes Leben brachte die Versetzung ihres Mannes, dem sie inzwischen eine Tochter geboren hatte, nach Dalmatien. Während ihr Gatte mit dem Ausstecken neuer Straßen beschäftigt war, durchstreifte sie einsam, zumeist in der Tracht einer Morlakin unter vielen Entbehrungen und Gefahren die unwirthlichen [313] Gegenden dieses Berglandes und übte inmitten der großartigen wilden Natur bald an brausenden Wasserfällen, bald am Meeresufer ihre Stimme. Auch ihr Charakter härtete sich bei dieser rauhen Lebensweise. Die unbeugsame Energie, welche späterhin in ihrem Handeln so augenfällig hervortrat, scheint dort erworben worden zu sein. Innerlich verändert und gereift kehrt sie nach Wien zurück. Infolge eines hartnäckigen Brustleidens muß sie auf Jahre hinaus dem Singen entsagen, selbst das Sprechen fällt ihr schwer, das geraume Zeit zum Flüsterton herabgestimmt wird. Endlich ist sie genesen, und gleich faßt sie wieder der alte Drang mit unwiderstehlicher Gewalt und ruft sie hinaus in die Oeffentlichkeit, ihre Kunst zu zeigen. War doch ihre Stimme mit der Gesundung wiedergekehrt und hatte sich zu überraschender Fülle und Schönheit entfaltet. Sie singt zuerst in Kirchen, dann seit 1863 in Concerten. Die glückliche Bewältigung der Partie der Jemina in Schubert’s Lazarus verschafft ihr den ersten ausschlaggebenden Erfolg. Gleichzeitig empfängt sie gründliche Ausbildung unter der sorgsamen Anleitung von Dr. Josef Gänsbacher, dem bekannten Gesangsprofessor, Sohn des bedeutenden Kirchencomponisten und einstigen Studiengenossen C. M. v. Weber’s und Meyerbeer’s, Johann Gänsbacher. Das Dilettantenhafte, das ihrem Gesange bisher angeklebt hat, weicht nun von ihm, sie wird zur Künstlerin, die durch feinen Vortrag und Ausgeglichenheit der Stimmlagen entzückt. Zu Ostern 1865 tritt sie in einem großen Concerte gemeinsam mit Frau Desirée Artôt auf. Bei einem Besuche, den sie der gefeierten Primadonna macht, singt sie die Arie aus „Fidelio“ vor. Die Artôt erklärt es für eine unverzeihliche Faulheit, wenn sie mit diesen Stimmmitteln nicht zum Theater geht. Das entscheidende Wort ist gefallen, wie ein Blitz fährt es in ihre Seele und facht hier ein verzehrendes Feuer an. In heroischem Starrsinn bietet sie den sich entgegenthürmenden Hindernissen, allem sie umgebenden Zweifel und Hohne Trotz und folgt dem Weg, den ihr der Rath der Freundin sowie ihr eigener Stern weisen. Sie nimmt bei Carl Maria Wolf dramatischen Unterricht. Ihre gesammte Baarschaft bringt sie zum Opfer, und da sie nicht ausreicht, muß der Erlös für einen Brillanten, ihr einziges Kleinod, die Kosten desselben bestreiten helfen. Sie darbt und spart, entwickelt einen Riesenfleiß und lernt binnen wenigen Monaten die Rollen der Norma, Donna Anna und des Fidelio. In Graz betritt sie in der letztgenannten Rolle im December 1865 die Bühne und wird sofort von Gye, dem Director des Coventgardentheaters, für die nächste Saison in London angeworben. In Berlin, wohin sie im März 1866 als Gast berufen wird, geräth sie durch eine Kohlengasvergiftung in ernstliche Lebensgefahr. Da sie ihres leidenden Zustandes halber am festgesetzten Tage nicht auftreten kann, nimmt dies Herr v. Hülsen zum Anlaß, von der Unterzeichnung des bereits fertigen Vertrages, der sie an Berlin fesseln sollte, Abstand zu nehmen. Schon beginnt sie verzagt zu werden. als Gye sie nach London bringt, wo sie als Signora Bilda Furore macht und den ersten Gesangsternen, der Grisi und Jenny Lind, als ebenbürtig an die Seite gestellt wird. Namentlich als Norma erregt sie ungetheilte Begeisterung, auch als Valentine in den „Hugenotten“ und Leonore im „Troubadour“ wird sie hochgefeiert. Ihr vordem fast unbekannter Name dringt in die weite Welt. Im Herbst desselben Jahres eilt sie nach Venedig. Hier findet sie als österreichische Künstlerin – es war kurz nach Beendigung des Krieges – kühle Aufnahme und löst infolge dessen den bereits mit Mailand abgeschlossenen Vertrag. Wenn die W. innerhalb des nächsten Jahrzehnts auch wiederholt als Gast in London und mit ebenso durchschlagendem Erfolge in Moskau und Petersburg auftrat, ihre Liebe gehörte doch ihrer Vaterstadt; ihr Wunsch, hier den Schauplatz ihres Wirkens zu finden, sollte erfüllt werden. Die Zweifel, [314] welche man daselbst gehegt hatte, ob sie als Bühnensängerin ihren Rang ausfüllen könne, schwanden gleich bei ihrem ersten Auftreten. Am 8. März 1867 debütirte sie in der Wiener Hofoper in der Rolle der Leonore im „Troubadour“ und errang einen durchschlagenden Erfolg. Den Reizen ihres an Kraft und Wohllautsfülle unübertroffenen Organs gab sich alles gefangen. Ihr Spiel war allerdings noch unbeholfen, doch die orgelstarke Klanggewalt ihrer Stimme machte diesen Mangel wett. Nun wird sie eingegliedert in die Künstlerschar der kaiserlichen Hofoper, in deren erster Reihe sie über elf Jahre sang und noch lange fortgewirkt hätte, falls nicht ein mit ihrem Gatten getroffenes Uebereinkommen sie verpflichtet haben würde, die erste deutsche Gesangsbühne und damit Wien überhaupt zu verlassen. Der Conflicte im häuslichen Kreise war nämlich kein Ende. Ihr Gatte hatte von vornherein gegen die Ergreifung wie später gegen die Fortsetzung der Bühnenlaufbahn Stellung genommen. Das Zusammenleben der beiden Ehehälften war infolge der fortgesetzten Reibereien unmöglich geworden, im März 1878 erfolgte die gerichtliche Scheidung. Am 17. desselben Monats nahm die W. von der Wiener Hofbühne Abschied. Man war sich vollständig klar darüber, was man an ihr verlor. Während eines Decenniums hatte sie eine der Grundstützen des Spielplans gebildet und reichlich die Gelegenheit genützt, ihr vielseitiges Können zu zeigen. Die Wirksamkeit, die sie entfaltet, war ebenso intensiv als mannichfaltig geartet gewesen. Im Opernsang italienischer, französischer und deutscher Schule war sie gleich sattelfest. Bellini (Norma), Donizetti (Lucrezia) und Verdi (Elvira in „Ernani“; Leonore im „Troubadour“; Amalia im „Maskenball“; Aida) fanden in ihr eine nicht minder stilgetreue von echt musikalischer Auffassung durchseelte Interpretin als Mozart (Constanze; Gräfin in „Figaros Hochzeit“; Königin der Nacht; auch in „Don Juan“), Beethoven (Fidelio), Weber (in „Euryanthe“ und als Rezia), Wagner (Ortrud und Elisabeth), Goldmark (Sulamith) und wieder Gluck (Armida), Meyerbeer (in „Robert“ und den „Hugenotten“, weiter als Bertha und Selica), Halévy („Jüdin“), Thomas (Ophelia), ja ihre erstaunliche Sicherheit in der Wiedergabe verschieden gearteter Rollen war so einzig, daß sie es wagen durfte, in „Don Juan“ an zwei aufeinanderfolgenden Abenden die Donna Elvira und die Donna Anna, in den „Hugenotten“ einmal die Valentine, ein andermal die Königin zu singen, in „Euryanthe“ die Titelrolle und die Eglantine, im „Robert“ die Alice und Isabella – eine Kraftprobe, die ihr kaum jemand nachmachen wird. Auch die eben flügge gewordene ungarische Nationaloper schmückte sie mit den klangsatten Lauten ihrer Kehle. In „Hunyady Laszlo“ und „Bank Ban“, Opern des ihr innig befreundeten Franz Erkel, entfesselte sie in Pest nicht enden wollende Beifallsstürme. Als dramatische wie als Coloratursängerin hatte sie sich Lorbeern geholt. Auch im Concertsaal trat sie oft auf und verhalf den Aufführungen großer Werke, bei denen sie mitwirkte, jedesmal zum Siege, insbesondere in den Haydn’schen Oratorien, in Schumann’s „Paradies und Peri“, in den Requiems von Brahms und Verdi entzückte sie, den stärksten äußeren Erfolg erzielte sie in Händel’s Cäcilienode. Auch als Liedersängerin genoß sie einen ausgezeichneten Ruf. Bis in die kleinsten Einzelheiten hinein war die Kunst ihr zu eigen geworden, sie gefiel sich oft in Wagnissen, die nur sie sich erlauben durfte. In der großen Bravourarie in Hunyady Laszlo beispielsweise schlug sie das dreigestrichene E leise an, ließ es zum ff anschwellen und rauschte sodann prestissimo in einer Toncascade durch zwei Octaven herab. In solchen Glanzleistungen lag indeß keineswegs das Um und Auf ihrer Kunst. Sie wußte im leidenschaftlichen Gesang packende Wirkung auszuüben, auch das eigentlich Seelenvolle war ihr nicht fremd, wiewol in der sinnlichen Schönheit und Stärke ihres Organs stets der Hauptaccent ihrer [315] künstlerischen Darbietungen stak. In Anerkennung der großen Verdienste, die sie sich erworben, war sie 1869 zur k. k. Kammersängerin ernannt worden. Das Wiener Publicum umjubelte die W., kein Wunder, daß, als es nun plötzlich zum Scheiden von der geliebten Stätte ihrer Thaten kam, stürmische Zurufe: Hierbleiben! aus dem Zuschauerraum ihr entgegenschollen. Sie wandte sich zunächst nach Leipzig, wo sie bereits im September als Brünnhilde im „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner, für dessen Musik sie eine leidenschaftliche Vorliebe hegte, auftrat. Bloß drei Monate hatte sie gebraucht, um die überaus schwierige Rolle einzustuditen. Es hatte sie um so härtere Mühe gekostet, da sie von Haus aus an einem mangelhaften Wortgedächtniß litt, und nur ihre eiserne Willenskraft sich dieses erzwungene Kunststück abtrotzte. Die beispiellose Ausdauer ihrer Stimme, der die aufreibendste Abnützung nichts anzuhaben vermochte, verschafften der ehrgeizigen Sängerin einen großen Triumph. Als sie im Mai 1879 die Leipziger Bühne verließ, wurden ihr seitens ausländischer (auch amerikanischer) Bühnen die verlockendsten Anträge gemacht, doch die Vielumworbene schlug sie sämmtlich aus und blieb ihrer Ueberzeugung, welche sie schon 1866 Gye gegenüber, als er sie auf zehn Jahre verpflichten wollte, ausgesprochen, daß sie eine deutsche Künstlerin sei und bleiben wolle, treu. Seitdem gehörte sie keinem Theater als ständiges Mitglied mehr an, sondern trat als Gast an verschiedenen Bühnen Oesterreichs und Deutschlands auf, anfangs häufig in Frankfurt a. M., dann in Pest und Wien, wo sie mit der alten Wärme gefeiert ward und auch bei Concertaufführungen mitwirkte. Sie besaß noch die volle Mächtigkeit sowie die unversehrte Frische ihres Organs und setzte namentlich durch die schwindelnde Höhe, welche ihre phänomenale Stimme mühelos zu erklettern vermochte, in Erstaunen. Im Zenith ihres Künstlerruhmes stehend zog sie sich 1886 von der Bühne zurück. Als sie im Juli 1891 beim Mozartfest in Salzburg sich wieder öffentlich hören ließ und die Marterarie Constanzens vortrug, war eine betrübliche Wandlung vor sich gegangen. Die Leichtbeweglichkeit und Jugendlichkeit ihrer Stimme war dahin, nur mühsam mit der stärksten Selbstbezwingung vermochte sie die übernommene Aufgabe zu Ende zu führen. Man gewahrte die Reste einer ehemaligen Größe, erkannte aber auch, daß die einstige Leuchtkraft dieses strahlenden Gesangsgestirns im Erblassen begriffen sei. Das war ein harter Schlag für die davon Betroffene. Bereits einige Jahre früher war bei ihr eine scharfe nervöse Reizbarkeit hervorgetreten, welche wol in den ihren natürlichen Anlagen zuwiderlaufenden Ueberanstrengungen, die sie sich aufgebürdet, ihren eigentlichen Grund hatte. Schon als Kind lernte sie sehr schwer und wurde öfters ohnmächtig, wenn sie sich zwang, Schwieriges sich einzuprägen. Als sie nun in reiferen Jahren ihrem Gedächtniß soviel zumuthen mußte (den größten Theil ihrer Rollen lernte sie deutsch und italienisch zugleich), war dies nur mit der äußersten Anspannung ihrer geistigen Kraft möglich, ganz besonders steigerte die übers Knie gebrochene Einstudirung der Brünnhildenpartie ihr Nervenleiden. Seit dem Rücktritt von der Bühne lebte sie meist in Zurückgezogenheit und gefiel sich in Seltsamkeiten, welche Befremden erregten. Ihre große Sparsamkeit nahm wunderliche Formen an, während sie zu gleicher Zeit über sehr große Summen leichtherzig und auch großmüthig verfügte. Selbstmordgedanken beschäftigten sie unablässig. Die Aerzte, mit denen sie zusammenkam, quälte sie mit Fragen über die leichteste Todesart. Zudem war in der gealterten Frau ein mächtiges Sehnen nach Liebesglück erwacht, welches ihr bittere Erfahrungen eintrug. Sie war Anfällen von Irrsinn ausgesetzt und deshalb von ihrer Tochter in eine Heilanstalt für Geisteskranke in Graz gebracht worden, aus der sie bald danach gemäß dem Gerichtscommissionsbefunde entlassen ward. Kurz vor ihrem Tode begab sie sich [316] freiwillig in eine Nervenheilanstalt in Hacking bei Wien. Am 24. September 1891 Nachmittags stürzte sie sich vom 4. Stockwerk im „Zwettelhof“ (nächst der Stephanskirche) in den Lichthof, wo ihr Leichnam infolge der Höhe des Sturzes und der wuchtigen Schwere des niedersausenden Körpers zu einer unförmigen Masse zermalmt aufgefunden ward. So hatte die Unglückliche in geistiger Verstörtheit ihrem Dasein ein jähes, grausiges Ende bereitet.
Wilt: Marie W., die berühmte Opernsängerin, war am 30. April 1834Eine der herrlichsten Sängerinnen sank mit ihr ins Grab. Im sinnlichen Glanz ihres eine ungehörte Wohllautfülle bergenden, kraftvollen und doch dabei höchst biegsamen Organs und der bis zur Vollendung gesteigerten technischen Gewandtheit lag der Schwerpunkt ihrer künstlerischen Bedeutung. Als eigentlich dramatische Sängerin konnte sie sich weder mit der Dustmann noch der Materna messen, in der Feinheit des Ausdrucks stand sie hinter der Patti und Artôt zurück. Ihr Spiel stand mit der gesanglichen Leistung nicht auf gleicher Höhe. Etwas schablonenhaftes klebte ihm an, der Mangel an echtem Theaterblut verrieth sich in dem im Geleise des Herkömmlichen bequem verharrenden schwerfälligen Geberdenspiel, auch ihre äußere, gar sehr der Plumpheit zuneigende Erscheinung erwies sich zur Erweckung von Bühnenillusion als nicht vortheilhaft, der Verkörperung gewisser poetischer Rollen sogar geradezu widerstrebend, aber die sieghafte Elementargewalt ihrer schlackenfreien Stimme, der von warmer musikalischer Empfindung durchströmte Vortrag halfen diese Mängel verdecken. Das Instrument, welches die hier mit vollen Händen spendende Natur in ihre Kehle gelegt, suchte in der That seinesgleichen an Pracht, Fülle und geschmeidigster Beweglichkeit. Es war in wuchtiger Größe, dröhnender Kraft wie in zartester Tongebung gleich gut verwendbar, ungewöhnlicher Umfang war ihm eigen und vor allem erlesene Reinheit und Schönheit des Klangs.
Welch feinsinnigen Gebrauch von ihren außergewöhnlichen Stimmmitteln sie auch außerhalb der Bühnen-, Concert- und Kirchenräume – in der freien Natur gemacht, davon gibt das Erlebniß eines Ohrenzeugen, Dr. Josef Gäntzbacher Aufschluß, der in einem Schreiben dasselbe also schildert: „Eine Wunderleistung ihres Talents ist nur Wenigen bekannt, die es aber gleich einer Mythe weiterverbreiten. Wie alle echten Künstler war die Wilt eine große Naturschwärmerin, die kurzen Zeiträume während des Hochsommers brachte sie meistens im Gebirge zu. Da war es denn einmal, daß am dämmernden Abend auf dem Attersee eine Gesellschaft von Freunden in die stille ruhige Wasserfluth hinaus den Kahn steuerte. Auf den Berggipfeln lagen noch Lichtstreifen, die der Tag dort vergessen hatte, in der von den nahen Höhen beschatteten Seefläche begann bereits die Nacht ihren Einzug zu halten. So feierlich war das Schweigen, daß zuletzt auch der weiche Schlag der Ruder verstummte, um die Weihe des Augenblicks nicht zu stören. Da erhob Marie ihre Stimme erst in leisen Klängen, dann höher aufsteigend in langsamen Läufen und Trillern, die sie wie Rosenketten den Bergen zuwarf – dazwischen innehaltend. Und Echo erwachte und gab die wundervollen Töne wieder in zauberhafter Verklärung, die nichts Irdisches mehr hatte, als ob Ariel von Berg zu Berg sich blitzschnell geschwungen hätte, jetzt von da, jetzt von dort das schöne Lied wiederholend – eine Scene, von welcher der Dichter sagt: „Horch … wie dein Sang in die Brust den Bergen drang, wie dein Wort die Felsenseelen freudig fort und fort erzählen“. – Auch solche, einem augenblicklichen Impulse entsprungene, mit vollendetem Geschmack dargebotene Improvisationsfertigkeit kennzeichnet ihr Künstlerthum, das nichts Angelerntes zeigte, vielmehr als die durch rastlosen Fleiß wohlgereifte Frucht einer seltenen Naturanlage in die Erscheinung trat.
[312] *) Dieses von allen bisherigen diesbezüglichen Angaben abweichende Datum ward mir vom Schwiegersohn der Künstlerin, Herrn Heinrich Gottinger, Theaterdirector in Graz, mitgetheilt.