Aerzte und Publicum

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Autor: Dr. Fr. Dornblüth
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Titel: Aerzte und Publicum
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, 32, S. 478–480, 527–528
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Koch, Julius Ludwig August: Psychiatrische Winke für Laien, Stuttgart: Neff, 1880, SUB Hamburg; Psychiatrische Winke für Laien oder Anleitung zur Behandlung Geistesschwacher und Geisteskranker im Privatleben 2. Aufl., 1880, SUB Hamburg.
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[478]

Aerzte und Publicum.

Von Dr. Fr. Dornblüth in Rostock.
I.

Der gute alte Spruch „Krankheiten verhüten ist besser, als curiren“ ist heut zu Tage so sehr in aller Munde, daß er nicht selten sogar mit einer Art mitleidiger Mißachtung gegen diejenigen angewendet wird, die sich damit beschäftigen, Kranke zu curiren. Was brauchen wir noch Aerzte, wenn die Hygiene alle Krankheitsursachen erkennen und aus der Welt schaffen oder wenigstens vermeiden lehrt, und wenn wir außerdem von vielen Aerzten hören, daß die meisten Krankheiten bei richtigem Verhalten von selbst zur Heilung kommen? Was aber zu diesem Zwecke nöthig ist, das lernen wir mit leichter Mühe von einem populären Schriftsteller, der uns sagt, wie wir die gewöhnlichen Krankheiten erkennen und behandeln können, und giebt es einmal etwas Besonderes, so wenden wir uns lieber gleich an einen Sonderarzt, einen sogenannten Specialisten, der doch besser wissen und können muß, was in solchem Falle gut ist, als ein gewöhnlicher Arzt, der sich beständig mit allen möglichen äußeren und inneren Krankheiten, Verletzungen etc. etc. zu befassen hat.

Jeder dieser Sätze enthält eine Unrichtigkeit oder ein falsches Urtheil, und wenn es uns gelingt, bei unsern Lesern einiges davon richtig zu stellen, so mag manche Krankheit dadurch verhütet, sicher aber vielen Kranken Ungemach erspart werden.

Erstens ist nämlich die Hygiene noch lange nicht so weit, alle Krankheitsursachen zu kennen, sondern dies ist erst für eine ganz kleine Anzahl der Fall; mit der Erkenntniß der Ursachen der Krankheiten ist aber noch keineswegs die Kunst erfunden, sie unschädlich zu machen oder zu vermeiden, ganz abgesehen davon, daß Thorheit und Leichtsinn in der großen Mehrzahl der Menschen stark genug sind, um sie trotz solcher Erkenntniß die Gefahr der Krankheit laufen zu lassen, wenn mit ihrer Verhütung Unbequemlichkeiten oder Entbehrungen, sei es auch nur wirklicher oder eingebildeter Genüsse, verbunden sind. Wir brauchen nur Tabak und Wein, Unmäßigkeit, Unregelmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit im Essen und Trinken und andern leiblichen Genüssen einerseits, unvermeidliche Erkältungen und Anstrengungen andererseits zu nennen, um Beispiele und Beweise für diese Behauptungen nahe zu legen, während andererseits Diphtherie, Schwindsucht und so viele andere Krankheiten auch mit aller Sorgfalt nicht immer zu verhüten sind. Zu diesem Bekämpfen und Vermeiden der Krankheitsursachen genügt eine oberflächliche Kenntniß hygienischer Grundsätze selbst in den Fällen nicht, wo es sich nur um Entwickelung und Stärkung der Widerstandskraft des Organismus gegen schädliche Einflüsse handelt, z. B. um Abhärtung als Schutz gegen Erkältungen, um die Bestimmung zweckmäßiger Ernährungsweise, um Leibesübungen oder Schonung der Körper- und Geisteskräfte. Bei ähnlichen Anlässen ist oft eine sehr genaue Beurtheilung des in Frage kommenden Menschen, seiner verwandtschaftlichen Beziehungen in Betreff von Erblichkeit und Anlagen, seiner Lebensverhältnisse und Lebensgewohnheiten etc. nöthig, um den richtigen Weg und das richtige Maß in den Verhütungsmaßregeln zu treffen. Sehen wir doch schon, daß bei der anscheinend so einfachen Abhärtung gegen Erkältungen bei verschiedenen Naturen ganz verschiedene Mittel und Wege benutzt werden müssen, wenn nicht, wie das so häufig vorkommt, Mißgriffe geschehen und Schaden statt Nutzen gestiftet werden soll.

Wir werden also schon hierbei, nämlich bei der Erziehung zur Gesundheit und zur Vermeidung von Krankheiten, der Hülfe von Aerzten nicht entbehren können. Noch viel wünschenswerther ist dies aber bei wirklichen Krankheiten, und zwar nicht blos bei [479] solchen, die mit starkem Fieber, großen Schmerzen oder anderen heftigen Erscheinungen eintreten, sondern auch, und gerade erst recht bei solchen, die sich mehr schleichend, mit allgemeinen Befindensstörungen, wie Appetitmangel und schlechter Verdauung, Mattigkeit oder Aufgeregtheit, bleicher oder übermäßig rother Gesichtsfarbe, mit Athembeschwerden, Herzklopfen, mit unerquicklichem Schlaf, ängstlichen Träumen oder Schlaflosigkeit einfinden. Hinter solchen oft gering geachteten Erscheinungen verbergen sich nicht selten die ersten Anfänge sehr ernster Krankheiten. Ihre frühzeitige Erkennung stellt die höchsten Anforderungen an die Beobachtungsgabe, den Scharfsinn und die Erfahrung des Arztes, damit sie entweder in ihrem ersten Beginn beseitigt, oder wenigstens durch angemessenes Verhalten, Regelung der Lebensweise etc. zu einem gelinderen und weniger gefährliche Verlaufe gebracht werden. Oft ist hierbei nichts weiter nöthig, als die Vermeidung von Schädlichkeiten und dem jedesmaligen Zustande angemessenes Verhalten in Bezug auf Ruhe oder Bewegung, Enthaltsamkeit, Pflege u. dergl. m., aber es ist offenbar, daß auch zur sicheren Bestimmung solcher Maßregeln nur derjenige befähigt ist, der die betreffende Persönlichkeit ebenso wie die etwa zu erwartende Krankheit genau kennt.

So ist es z. B. bei der Ernährung und gesammten Körperpflege der Kinder, bei oft noch gutem Befinden derselben, der Gesundheitszustand der Mutter, des Vaters, der Geschwister oder anderer Verwandten, der den aufmerksamen Arzt zu nützlichen, die Gesundheit sichernden und Krankheit verhütenden Rathschlägen veranlaßt, deren Nichtbeachtung schlimme Folgen nach sich ziehen kann. Oder wir haben es mit körperlicher oder geistiger Ermattung in den Schuljahren, bei Vorbereitung zum Examen, oder bei anstrengenden Berufsarbeiten u. dergl. m. zu thun, wo durch rechtzeitige Regelung der Lebensweise schwere und oft langwierige Leiden zu verhüten sind. Das ist indessen keineswegs so leicht und einfach, wie es bei oberflächlichen Kenntnissen und nach manchen populären Darstellungen erscheinen mag. Denn wenn in vielen Fällen nur Ruhe und Pflege, deren Art und Weise aber auch sehr verschieden nöthig sein kann, in andern Fällen dagegen Zerstreuung, Beschäftigung, Anspornung der Körper- und Geisteskräfte, bald warmes, bald kühles Verhalten, bald warme, bald kalte Bäder, Abwaschungen, Milch- oder Brunnencuren in vielfachen Modificationen das richtige Mittel abgeben, kann in sehr vielen anderen Fällen durch das gleiche Verfahren unersetzlicher Schaden angerichtet werden. Und zwar ist letzteres besonders dann der Fall, wenn solche Störungen des Befindens, die noch nicht als Krankheit angesehen werden, in Wirklichkeit den Anfang einer schweren Krankheit bilden. Letzteres kann freilich auch ein geschickter Arzt nicht immer auf den ersten Anblick erkennen und voraussagen; aber er weiß wenigstens die Mittel und Wege, wie man möglichst rasch zu richtiger Einsicht kommt, und weiß außerdem, was vielleicht noch wichtiger ist, zu verhüten, daß etwas Verkehrtes geschieht.

Auch in letztgenannter Richtung wird von Nichtärzten häufig gefehlt. Die Beunruhigung vor einer hereinbrechenden Krankheit, der Drang zu helfen und die Angst, etwas zu versäumen, sind oft so groß, daß nicht selten das Allerunzweckmäßigste geschieht. Am gefährlichsten hat sich dies, meinen eigenen Erfahrungen nach, in Cholera-Epidemien gezeigt, wo Jedermann einen beginnenden Durchfall, der als Vorbote oder Anfang der gefürchteten Krankheit angesehen wird, so rasch wie möglich zu stopfen suchte und deshalb vielfach sogenannte Choleratropfen oder ähnlich wirkende Mittel anwendete, die in den Familien vorräthig gehalten wurden; gelang es dann wirklich, die Entleerungen aufzuhalten, so folgte in der Regel eine sehr böse Form der Krankheit, weil das Choleragift, als dessen Träger wir durch Robert Koch’s unsterbliches Verdienst jetzt den Cholerapilz oder Kommabacillus kennen gelernt haben, in dem stockenden Darminhalte den besten Raum und Boden für eine riesige Vermehrung findet.

Hier wie bei vielen anderen mit gährungsartigen Zersetzungen (und Pilzbildungen) im Darminhalt beginnenden Krankheiten, z. B. auch bei den aus Ueberladung oder verdorbener Nahrung (auch Milch bei Kindern!) hervorgehenden Krankheiten, ferner beim Unterleibstyphus, der Ruhr u. dergl. m., ist es gerade von größter Wichtigkeit, daß die schädlichen Stoffe so rasch und so vollständig wie möglich entfernt werden. Geschieht das von selbst, so darf man es nicht hindern, vielmehr eher durch reichliches Wassertrinken etc. befördern; geschieht es nicht von selbst, so muß man der Natur zu Hülfe kommen, – aber bei Leibe nicht durch irgend ein beliebiges Abführmittel, weil jede Reizung des Darms die Gefahr vergrößert, sondern man soll dem Arzte überlassen, je nach der Art der Krankheit und nach der Natur des Kranken die passenden Mittel auszuwählen, die nicht zu viel und nicht zu wenig wirken dürfen und womöglich das Krankheitsgift zugleich unschädlich machen, vielleicht den betreffenden Pitz tödten. So können Ruhr und Typhus ebenso wohl durch stuhlanhaltende Mittel, als auch durch reizende Abführmittel, z. B. durch die Schweizerpillen und ähnliche Hausmittel, viel schlimmer gemacht werden, als wenn man die Kranken sich selbst überlassen hätte. Bei der Cholera habe ich selbst in drei großen Epidemien diejenige, die durch solche Mittel den Beginn der Krankheit verhindern oder abschneiden wollten, fast ausnahmslos sterben sehen, während rechtzeitig eingeleitete und richtige Behandlung die große Mehrzahl zu retten vermochte.

Aus diesen Erfahrungen, die leicht durch viele andere bei verschiedenen Krankheiten vermehrt werden könnten, folgt als erste und wichtigste Regel, daß der Nichtarzt sich hüten soll, durch falsch angewendete Mittel zu schaden, – als zweite Regel, daß man so früh wie möglich den Arzt rufen soll, der gar oft im Stande ist, eine beginnende Krankheit im Keim zu ersticken oder doch einen milderen Verlauf derselben zu sichern.

Nur zwei andere Beispiele mögen zeigen, daß diese beiden Regeln nicht blos für solche rasch verlaufende Krankheiten gelten.

Ein Schulmädchen in den Jahren des rascheren Wachsthums der Wirbelsäule, also etwa vom zwölften bis fünfzehnten Lebensjahre, fängt an, sich schlecht zu halten; am Schreibtisch und bei Handarbeiten sitzt sie krumm, statt der Brust wölbt sich der Rücken, eine Schulter steht etwas höher, ein Schulterblatt, wohl auch eine Hüfte tritt etwas hervor. Durch Ermahnungen, sich gerade zu halten, wird wenig genützt, denn entweder fehlen die Kräfte, um ihnen dauernd zu gehorchen, oder der arbeitende Kopf vergißt, die Rückenmuskeln in gehöriger Spannung zu halten. Jetzt wird ein festes Corset verlangt, um dem Körper Haltung zu geben, oder es wird auch wohl von irgend einem Bandagisten ein Geradehalter bezogen. Das hilft aber nicht, denn die Schultern entweichen nach oben, der Leib neigt sich nach einer Seite, die Stützen und Schnürapparate stützen und hindern nicht dort, wo sie sollen, sondern machen die Biegungen und Drehungen mit, oder hindern wohl gar die Rippen in ihrem gesetzmäßigen Wachsthum. Nach einiger Zeit ist die Schiefheit nicht mehr zu verkennen und es hat sich wohl noch gar eine enge, flache und schmale Brust dazu ausgebildet. Nun endlich wird, was sogleich hätte geschehen sollen, der Arzt gefragt, der dann nur feststellen kann, daß Rückenwirbel und Rippen bereits Formveränderungen erlitten haben, die vielleicht nur theilweise rückgängig gemacht, vielleicht auch nur in weiterem Fortschreiten aufgehalten werden können, wenn zu diesem Zweck eine langwierige und kostspielige Cur unternommen wird, die sich nur ausnahmsweise im Elternhause durchführen läßt. Und wie gut hätte das ganze Leiden, das nicht blos als Schönheitsfehler, sondern als Hinderniß kräftiger Körperentwickelung, besonders der Brust mit Herz und Lungen, so viel körperliche und seelische Leiden im Gefolge hat, verhütet werden können, wenn es gleich im Entstehen zweckmäßig bekämpft worden wäre!

Oder es handelt sich um die Anfänge einer Geisteskrankheit. Wir bemerken bei einem unserer Angehörige, vielleicht in Folge von großen Anstrengungen, Gemüthsbewegungen, Krankheiten, oder auch ohne daß dergleichen vorangegangen wäre, Aenderungen in seinem psychischen Verhalten, die mit seinem sonstigen Wesen nicht in Einklang stehen und auch durch die Ereignisse des äußeren und inneren Lebens nicht oder doch nicht hinlänglich begründet sind. Diese Aenderungen können rasch ober langsam, stark oder schwach auftreten, andauern oder mit ganz gesunden Zeiten abwechseln, und sind sehr mannigfaltig. Der Betreffende kann niedergeschlagen oder ausgelassen, ängstlich oder übermüthig, gleichgültig oder durch Geringes erregbar, unbeweglich oder unruhig sein, mit Selbstvorwürfen sich plagen oder sich überheben, traurig die Einsamkeit suchen und weinen, oder heiter und launig sein; er kann über Schmerzen und Beschwerden klagen, oder sich wohl fühlen, wie nie zuvor. Dabei kann er (oder sie) zwischendurch theilnehmend und liebevoll sein, seine Geschäfte gut besorgen etc., [480] ja zuweilen zeigt er sich ganz besonders thätig, muthig und unternehmungslustig.

Der aufmerksame Beobachter merkt wohl, daß etwas nicht in Ordnung sei, denkt aber, wenn er nicht Sachverständiger ist, noch lange nicht an Geisteskrankheit. Und doch ist eine solche, wenn nicht schon wirklich vorhanden, sicher im Anzuge. Die Störungen können zeitweilig oder dauernd vorübergehen, oder sie steigern sich ganz allmählich oder urplötzlich. Gut, wenn man dies bemerkt und einen sachverständigen Arzt zu Rathe zieht; schlimm, wenn man plötzlich durch einen heftigen Ausbruch, eine Gewaltthätigkeit gegen Andere oder gegen ihn selbst überrascht wird. Die Erscheinungen sind so mannigfaltig, daß wir sie unmöglich hier eingehend schildern können; wer sich darüber unterrichten will, findet Näheres, vorzüglich klar und überzeugend beschrieben, in einer kleinen Schrift von Director Koch „Psychiatrische Winke für Laien“ (Stuttgart, Verlag von Paul Neff, 1880).

Sucht man den Kranken, denn um einen solchen handelt es sich, von seinen verkehrten Ideen zu überzeugen, so mag dies zeitweilig, oder auch uur scheinbar gelingen: der krankhafte Zustand entwickelt sich trotzdem weiter und wird immer zwingender. Oder man sucht ihn durch Zerstreuungen, Gesellschaften, Theater, Reisen abzulenken und auf andere Ideen, zu anderen Anschauungen zu bringen; aber durch die neuen, vielfältigen Eindrücke wird das geschwächte Geistesorgan nur noch mehr angegriffen. Unvorsichtige Curversuche, besonders in Bädern oder Wasserheilanstalten, können das Uebel rasch zu den höchsten Graden steigern und auch die Aussichten einer endlich eingeleiteten richtigen Behandlung wesentlich trüben. Wird dagegen die Krankheit früh genug erkannt und auf geeignete Weise behandelt, was, wenn es zu Hause nicht vollkommen sicher möglich ist, alsbald in einer Heilanstalt für Nerven- oder Gemüthskranke geschehen muß, so ist in vielen, vielleicht in den meisten Fällen völlige Wiederherstellung möglich. Auch hier kommt es darauf an, sachverständigen ärztlichen Rath einzuholen und zu befolgen, bevor es zu solchen Veränderungen im Gehirn, dem Organ des Geistes, gekommen ist, die einer Ausgleichung nicht mehr fähig sind.

In alten Zeiten, ja selbst noch vor zwanzig und dreißig Jahren, legte man auch in Laienkreisen mit Recht großes Gewicht darauf, daß der Arzt „die Natur des Kranken kenne“, und gab deshalb viel auf den Hausarzt, der als Freund der Familie das ganze Personal, besonders die Kinder, in allen Eigenthümlichkeiten genau kennen und demgemäß auch Abweichungen von der vollen Gesundheit alsbald richtig beurtheilen konnte. Die großen Hülfsmittel der Untersuchung und die genauere Kenntniß der krankhaftell Vorgänge, womit die neuere Zeit die Aerzte ausgerüstet hat, konnten nur scheinbar jene persönliche Bekanntschaft ersetzen, da einmal die meisten Krankheiten in ihren ersten Anfängen noch nicht so sichere Zeichen geben, daß sie ohne weitere Beobachtung gleich zu erkennen sind, da ferner jene besseren Untersuchungsmethoden doch auch den Hausärzten, sofern sie mit der Wissenschaft fortschreiten, zu Gebote stehen und zu Gute kommen, und da endlich der Arzt nicht Krankheiten an sich, sondern vielmehr kranke Menschen zu behandeln oder zu curiren hat, wobei gerade persönliche und individuelle Eigenthümlichkeiten und Verschiedenheiten von der allergrößten Bedeutung sind.

Das „Curiren“. des Arztes beschränkt sich, wie die Verdeutschung dieses lateinischen Ausdrucks mit „sorgen“ oder „Sorge tragen“ klar macht, nicht auf das Verordnen von Mitteln gegen bestimmte Krankheiten, wie so manche Homöopathen in ganz unwissenschaftlicher und praktisch ungerechtfertigter Weise neben ein Verzeichniß von Krankheitserscheinungen die angeblich dagegen helfenden Arzneimittel setzen, sondern es verlangt, daß der Kranke durch die Bedrohung, Gefährdung oder Störung seines Wohlseins und Lebens zur Gesundheit hindurchgeführt werde, wozu neben den heilenden auch lindernde Mittel, die gesammte Pflege des Kranken, leibliche und psychische Einflüsse, die Sorge für volle Genesung und so viel wie möglich auch der Schutz vor den Folgen der Störung, die Wiederherstellung der Kräfte und die Verhütung der Weiterentwickelung und der Weiterverbreitung des Leidens auf andere Menschen gehört. Alle diese Aufgaben liegen dem Arzte auch dann ob, wenn ihm Heilmittel gegen die Krankheit selbst nicht zu Gebote stehen und wenn das Leben unbedingt nicht zu retten sein sollte. Daß aber alles Dies, zu der Tröstung, Beruhignng und Beschützung der betroffenen Familie, von einem befreundeten Hausarzte besser erkannt und besorgt werden kann, als von einem gelegentlich befragten oder zur Hülfe gerufenen, wenn auch noch so berühmten und ausgezeichneten Specialisten, bedarf wohl keines Beweises.

Der Specialist kann trotzdem neben dem Hausarzte sehr nützlich und sogar nothwendig sein. Der Specialist bedarf aber, da er bei der heutigen Ausbildung der medicinischen Wissenschaft und Kunst nur mit Einsetzung seiner ganzen Kraft etwas Besonderes in seinem Fache erreichen und leisten kann, in der Beurtheilung des gesammten Zustandes, der persönlichen Eigenthümlichkeiten und Verhältnisse sehr vieler Kranker des hausärztlichen Beirathes, während auch der Hausarzt in vielen Erkrankungen, deren Heilung eine specielle Ausbildung im Untersuchen und in technischer Fertigkeit nöthig macht, der specialistischen Hülfe und Ergänzung nicht entrathen kann. Zu beurtheilen, wann dies wünschenswerth ist, wird man einem gewissenhaften Hausarzte, der doch gerade durch seine persönlichen Beziehungen gleich sehr von Theilnahme und dem Gefühle der Verantwortlichkeit durchdrungen sein muß, sehr wohl überlassen können.




[527]
II.

Wenn es mir in meinem ersten Artikel[1] gelungen ist, meine Leser zu überzeugen oder in der Ueberzeugung zu befestigen, daß ein ständiger Arzt oder Hausarzt für die Gesundheit der Einzelnen wie der Fanilien außerordentlich viel mehr zu leisten vermag, als ein nur gelegentlich consultirter oder nur zu anscheinend dringenden und gefährlichen Krankheiten gerufener Arzt, so muß ich den früheren Gründen noch einen hinzufügen, der, wenn auch nur indirect wirkend, doch kaum weniger werth sein dürfte, als die andern.

Es ist nicht zu bezweifeln, weil tief in der menschlichen Natur begründet, daß ein ständiger Arzt ein größeres Interesse an dem Kranken und seinen Angehörigen hat, die ihm sämmtlich mehr oder weniger bekannt und durch die Sorgen und Freuden, die sie ihm bereitet haben, an’s Herz gewachsen sind. Ja, er hat gewiß an ihnen ein größeres Interesse, als ein nur für den einzelnen Fall befragter Arzt, mag er auch an sich human sein und die Kranken, die ihn gewissermaßen wie einen durch Zahlung abzufindenden Erwerbtreibenden oder Lohnarbeiter betrachten, nicht blos als Objecte seiner Thätigkeit ansehen, an die ihn neben dem Geschäfte höchstens nur das wissenschaftliche Interesse knüpft. Zu solcher bedauernswerthen Anschauung treiben es die Hülfesuchenden selber dadurch, daß sie von einem Arzte zum andern laufen, ohne dem einzelnen so viel Zeit zu lassen, daß er sich auch gemüthlich etwas für sie erwärmen kann. Von einer tieferen Theilnahme, welche dem Kranken wie seinen Angehörigen auch neben ärztlichen Verordnungen, Leiden und Schmerzen, körperliche und seelische, ertragen und überwinden hilft, kann da nicht wohl die Rede sein, wo der Arzt und der Kranke einander nur sehen, wenn letzterer es wünscht. Auch ein freundschaftliches Verhältniß ist undenkbar, wenn der Kranke fast unwillig die Prüfung seiner Lebensverhältnisse und die Beeinflussung seiner Entschlüsse durch den Arzt erträgt, denselben durch eigenes Lesen medicinischer oder populärer Schriften, oder durch heimliche oder offene Befragung anderer Aerzte zu controlliren oder wohl gar zu meistern sucht. Solche Mißtrauer oder Besserwisser machen es den Aerzten schwer, dem weisen Dichterworte gemäß zu leben: „Edel sei der Mensch, hülfreich und gut,“ und sich jene Herzenswärme zu bewahren, die ihnen den inneren Lohn gewährt, den sie von der Dankbarkeit ihrer Patienten nur zu oft vergeblich erwarten.

Damit ist nicht der klingende Entgelt für ihre Leistungen gemeint, der freilich oft auch ungleich und ungerecht genug zugemessen oder vergessen zu werden pflegt, sondern jene dankbare Anerkennung, die Denen gebührt, welche jeden Augenblick bereit sind, nicht blos die eigene Ruhe und eigenen Genüsse entsagungsvoll zu opfern, sondern ihre ganze Herzenstheilnahme und Geisteskraft, ja Gesundheit und Leben einsetzen, um Anderen, oft Fremden und kaum solcher Opfer Würdigen, hülfreich zur Seite zu stehen. Wohl ist es für alle Aerzte hoch erfreulich und erhebend, zu sehen, wie unser Kaiser und Reich den dankbaren Gefühlen der ganzen gebildeten Welt Ausdruck verliehen haben gegen die deutschen Forscher Robert Koch und seine Begleiter, die mit opferfreudigem [528] Muthe die Cholera, diesen gefürchteten Feind des menschlichen Lebens, in seiner giftschwangeren Heimath, in seinen todsprüheden Schlupfwinkeln aufgesucht habe; aber wer gedenkt jener Tausende von Aerzten, die ohne Rücksicht auf Ruhm und Ehre, ohne die treibenden Reize des Kampfes den Kriegern auf dem Schlachtfelde, den Verwundeten und Kranken in Verderben hauchenden Lazarethen ihre todesmuthige Hülfe bringen, oder die täglich, und wie oft ohne Aussicht auf Entgelt und Lohn, ja nur auf Anerkennung und Dank, den Gefahren der Ansteckung durch die bösartigsten Krankheiten, durch Typhus und Ruhr, durch Blattern und Diphtherie, durch Cholera und Pest und viele andere mehr trotzen und mit Einsetzung von Gesundheit und Leben Trost und Hülfe auch in die Hütten der Armen bringen und dem Tode seine schon umklammerten Opfer abzuringen suchen?

Einzelne Aerzte finden in ihrem Wirkungskreise gewiß noch oft solche Anerkennung, dem Stande der Aerzte im Ganzen aber wird sie oft in einer Weise versagt, als sei dieser Stand nur aus Dünkel, Beschränktheit, Eigennutz und Gewinnsucht zusammengesetzt und verdiente Haß und Verachtung statt Dank und Anerkennung. Man sehe nur die übertriebenen Schriften der Antivivisectionisten und vieler Anhänger der sogenannten Naturheilverfahren, deren Methoden der Natur des Menschen weit mehr Gewalt anzuthun pflegen, als die weit überwiegende Mehrzahl der von Aerzten neben Diät etc. angeordneten Arzneimittel, und man sehe nur, wie diese in Verbindung mit Heilschwindlern aller Art nicht blos in die höchsten, sondern, Dank unserer einseitigen, die Natur vernachlässigenden Gymnasialbildung, bis tief in die gebildetsten Kreise hineinreichen und sogar in Parlamenten und Regierungen ihre Fürsprecher finden, – und stelle dem gegenüber, was man bei fast jedem einzelnen Arzte an Berufstreue und Aufopferungsfähigkeit sieht und wie der ganze Stand für die Gesundheitspflege thatkräftig eintritt, die den Aerzten doch ihre Gründung und Förderung theils ganz allein, theils in erster Linie verdankt: das wolle man vergleichen, um sich ein Urtheil zu bilden.

Es soll und kann nicht geleugnet werden, daß die Aerzte einen nicht geringen Theil der Schuld an jenen unerfreulichen Verhältnissen tragen. Nicht daß im Wissen und Können auch die Aerzte fehlgehen, wie jeder Sterbliche auch bei bestem Willen fehlen kann, auch nicht daß in Charakter und Lebensführung Einzelnen berechtigte Vorwürfe gemacht werden können, wie das gewiß nicht seltener in jedem andern Stande vorkommt: das Alles trägt nicht die Schuld, denn es trifft doch nur Ausnahmen: die Hauptsache liegt in einer jetzt glücklicher Weise zum größten Theil überwundenen Entwickelungsphase der wissenschaftlichen und praktischen Medicin.

Um die Mitte unseres Jahrhunderts erfuhr ja die Medicin in Folge der sich beinahe überstürzenden Entdeckungen so gewaltige Veränderungen, daß die älteren Aerzte den neuen Anschauungen nicht zu folgen vermochten, während den Neueren auch die Brücke zum Verständniß der älteren Erfahrungen verloren ging. Dort hielt man fest am Alten, weil man das Neue nicht verstand, hier verachtete man das Alte, weil es aus den oft noch so unvollständigen, neuen Lehren nicht erklärt werden konnte. Den anatomischen Veränderungen gegenüber hielt man die alten Mittel und Methoden nicht blos für unwirksam, sondern auch für durchweg falsch, weil man manche Kranke ohne arzneiliche Behandlung nicht schlechter und manchmal sogar besser fahren sah, als die nach den alten Regeln der Kunst behandelten. Die äußersten Ansichten wurden, wie es Menschenart ist, am lautesten und zuversichtlichsten verkündet, das laute Kampfgeschrei erfüllte den Markt, und das Publicum, welches die Gründe nicht zu verstehen, noch zu würdigen vermochte, entnahm aus dem Streite nur so viel, daß etwas faul sei im medicinischen Staate, und erfüllte sich mit Mißtrauen gegen die gesammte Medicin. Und da es viel leichter ist, alles Geglaubte und Bestehende schlechthin zu verwerfen, als selbstdenkend und selbstthätig zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden, so beherrschten bald die Negirenden und Nihilisten in der Arzneikunst das Feld.

Die Kranken aber, die doch mit Recht nicht blos beobachtet und „diagnosticirt“ oder gar nach ungünstigem Ende „secirt“ werden wollten, warfen sich allem medicinischen Unsinn und Aberglauben in die Arme und suchten von Heilschwindlern und Geheimmitteln die Hülfe, welche ihnen die Aerzte nicht gewähren, oder wenigstens nicht mit der gleichen Dreistigkeit verheißen wollten.

Diese verhängnißvolle Uebergangsperiode der Wissenschaft ist glücklicher Weise jetzt vollständig überwunden, und auch die Praxis, das ärztliche Handeln am Krankenbette, hat jetzt auf wissenschaftlichen Grundlagen einen festen Kern gewonnen, der in der sogenannten innern Medicin kaum weniger erfreuliche Früchte zeitigt, als wie die Chirurgie ungeahnte Erfolge erzielt hat. Die sichere und frühzeitige Erkenntniß der Krankheiten, die genaue Bekanntschaft mit ihrem Verlaufe und mit vielen ihrer Ursachen, sowie die auf solchen Grundlagen theils neu aufgefundenen, theils richtiger gewürdigten Mittel und Methoden zur Bekämpfung der Krankheiten, haben den Aerzten eine Macht in die Hand gegeben, von der man noch vor wenigen Jahrzehnten keine Ahnung haben konnte. Und wenn auch jetzt noch viele Krankheiten, wenigstens sobald sie gewisse Entwickelungsstufen erreicht haben, uns unheilbar erscheinen, manche vielleicht sogar immer unheilbar sein werden, so haben wir sicher in der Kunst sie zu verhüten, ihren Verlauf günstig zu beeinflussen und ihre Leiden und Schmerzen zu verringern und zu mildern, ganz erstaunliche Fortschritte gemacht.

Es liegt auf der Hand, daß der Arzt um so leichter, schneller und sicherer die reichen Hülfsmittel der Wissenschaft anzuwenden vermag, je früher er zu dem Kranken gerufen und je vollständiger er durch Mittheilungen und eigene Untersuchung über die Verhältnisse, die Krankheitsursachen und den gegenwärtigen Zustand des Kranken unterrichtet wird, je aufmerksamer und liebevoller er alle Verhältnisse und Veränderungen aufspürt und verfolgt. Seine Leistungen, die nicht mehr an große Medicinflaschen gebunden sind, wie in der alten Zeit, und oft mehr in hygienischen und diätetischen Maßregeln bestehen, wirken sicherer und vollkommener, wenn das Publicum, und besonders die Kranken, ihm mit Vertrauen und folgsamem Verständniß entgegenkommen.

Zur Wiederanbahnung und Sicherung eines solchen guten, für beide Theile gleich ersprießlichen und erfreulichen Verhältnisses beizutragen, ist die Aufgabe dieser Zeilen, welche bei dem weiten Leserkreise der „Gartenlaube“ eine wohlwollende Aufnahme verdienen dürften.


  1. Vgl. Nr. 29.