Am Hofe des Tiberius
[163] An Hofe des Tiberius. (Zu dem Bilde S. 136 und 137.) Die einfachen und strengen Sitten, durch welche sich das römische Volk zur Blütezeit der alten Republik auszeichnete, waren unter der Herrschaft der Kaiser gelockert. Die alte heidnische Kulturwelt ging in einem Sinnestaumel zu Grunde. Erzeugnisse der weiten Provinzen wurden nach Rom gebracht, um dort den Siegern die ausgesuchtesten Genüsse zu bereiten. Asien sandte seine Gaukler und kostbare Gewürze, Afrika die wilden Tiere und die dunklen Sklaven; denn mit Vorliebe belustigte man sich im Cirkus mit Schaustellungen aller Art. Alles übertraf aber der Prunk, mit dem die Kaiser sich umgaben. Unser Bild zeigt uns den Kaiser Tiberius, der vom Jahre 14 bis zum Jahre 37 n. Chr. regierte, wie er in seinem Palaste auf Capri sich zerstreut. Der greise Cäsar sitzt in heiterer Gesellschaft und sieht einer Tänzerin zu, welche in graziösen Stellungen auf der rollenden Kugel die Sicherheit ihrer Kunst zeigt. Ein auf der Harfe spielender Sklave begleitet den Tanz, und auch die wilden Tiere aus den fremden Zonen des Weltreichs, von einem Wächter an der Kette geführt, lauschen dem orpheischen Saitenspiel. Unter dem „säulengetragenen herrlichen Dach“ befinden sich mehrere Bildwerke, darunter ein von einem Amor belästigter Centaur, und die Marmortreppe herab schreiten ein Staatsmann und ein Priester, welche mit ernsten Staatsgeschäften die Cirkel des schwelgerischen Tyrannen zu stören drohen. Die Künstlertruppe wird zurücktreten, die ausgelassenen Hofdamen werden davonhuschen und mit finsterer Stirn wird der Kaiser dem Bericht seiner Getreuen lauschen. Und dann wird vielleicht ein Bote nach Rom eilen mit einem jener Blutbefehle, durch welche die Welt des Tiberius so oft mit Entsetzen erfüllt ward.