Am Meer

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Autor: Charlotte Zöller
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Titel: Am Meer
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34–36, S. 545–548, 561–566, 577–580
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[545]
Am Meer.
Aus den Papieren eines Arztes von C. Lionheart.


1.

     „Thalatta! Thalatta!
Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer,
Sei mir gegrüßt zehntausendmal
Aus jauchzendem Herzen!

Heine.     

„Könnte ich gleich ein Fuhrwerk nach dem Eichenhof haben?“ fragte ich den Wirth „Zur goldenen Sonne“, indem ich den letzten Fuß von der hohen Stufe des Marterkastens herabzog, dem ich meine armen Glieder auf der letzten Station hatte anvertrauen müssen. „Der Baron hat doch keinen Wagen geschickt?“

Der kugelrunde Wirth mit dem kirschbraun angelaufenen, jovialen Gesicht schüttelte den dicken Kopf; dann wühlte er sich nachdenklich in dem Kraushaar und rief laut über den Hof fort nach „Jochen“, der mit der gehörigen Langsamkeit in der Stallthür erschien. Die Leute hier zu Lande schienen alle übermäßig viel Zeit zu haben.

Jochen kam schwerfällig, einen Strohhalm zwischen den Zähnen kauend, auf uns zu, gab als Zeichen des Grußes der Mütze noch einen leisen Ruck, daß sie vollends im Genick saß, glotzte uns aus runden hellblauen Augen ziemlich ausdruckslos an und hatte auf das Examen seines Herrn immer dasselbe phlegmatisch langsame:

„Neeh, dat gäht nich, Herr.“

Die „Liese“ wurde beschlagen; der „Foss“ war mit dem Milchwagen nach Grauwald; an der Chaise war die Deichsel caput, und den kleinen Kremser hatte ja Na'ber (Nachbar) Ohlerich geliehen, kurz, es stellte sich heraus, daß meine übergroße Eile wahrscheinlich umsonst gewesen, wenn sich bei irgend einem der Ackerbürger des Oertchens nicht Pferd und Wagen auftreiben ließ. Mit dem nächsten Zug erwartete man mich ohne Zweifel auf dem Edelhof und schickte ein Fuhrwerk an die Bahnstation. Was nützte mir das aber? Sollte ich in dem fürchterlichen Omnibus noch einmal den Weg zurück machen? Bei allen Göttern nicht! Lieber den Weg zu Fuß nach Eichenhof antreten. Ich fragte den Wirth, welcher sich rathlos hinter dem Ohre kratzte, wie weit es bis dort sei?

„Zwei Meilen.“ Und der Abend brach schon herein. Zu Wasser sei es freilich nur eine Viertelstunde quer über die Bucht hin, erklärte der Wirth. Die Lichter, die ich da drüben schimmern sähe, wären die vom Dorfe Eichenhof; er wolle 'mal gleich nachsehen, ob einer der Knechte mit dem Boot zu Hause sei; denn selber rudern (und dabei sah er mit geringschätzendem Mitleid meine geschonten Hände an) könne ein Stadtherr doch wohl nicht.

Dem Jochen mußte ein Einfall – etwas Seltenes in seinem Leben – gekommen sein. Er brauchte eine geraume Zeit, sich mit dem Einfall vertraut zu machen; denn er ließ seinen Herrn und mich während einer Weile noch hin- und herberathen, nachdem sich herausgestellt, daß keiner der Fischerknechte zur Hand sei.

„I, Herr,“ meinte er gedehnt, „dat Frölen is jo man eben irst hier west, ward denn wol noch nich furt sin, dat Eichenhof-Frölen, Herr.“

Für mich waren diese Worte natürlich ohne Bedeutung, während sie für den Wirth eine zu haben schienen; denn sein Vollmondgesicht glänzte noch einmal so freundlich, und urgemüthlich meinte er:

„Na, Herr Doctor – Sie sind ja wohl der Herr Doctor oder Professor, den sie auf dem Schloß erwarten? – dann könnten wir ja Courage fassen; ich werde 'mal laufen und nachsehen, ob das Eichenhofboot noch unten liegt. Oder kommen Sie man lieber gleich mit, Herr Doctor!“

Den Mann mit den kurzen Beinen „laufen“ zu sehen, wäre zu anderen Zeiten ein unbezahlbares Vergnügen gewesen. Mir aber war furchtbar ernst zu Muthe, und der Boden brannte mir unter den Füßen. Meine Finger knitterten das bedeutungsvolle Telegramm, das mich aus meinen Berufspflichten, aus meiner Ruhe und Behaglichkeit herausgerissen, in der Rocktasche, während wir den langen schmalen Bauerngarten entlang dem Strande zu gingen. Mein Wirth hielt die beiden hohlen Hände wie eine Trompete gegen den Mund und rief ein kräftiges „Hallo“ nach dem andern.

„Ho – ho!“ antwortete es schallend; mein Begleiter spähte erwartungsvoll in das Halbdunkel hinaus und schien wirklich in der Ferne etwas zu sehen – und dann sah ich auch etwas, ein dunkles unförmiges Etwas, das sich nachher als schwerfälliger Kahn kundgab, eine hochragende Gestalt, die unbeweglich am Steuer saß, und einen Mann, der, die Hosen in den hohen Wasserstiefeln, den Südwester im Nacken, überrascht in der Beschäftigung inne hielt, das Fahrzeug vom seichten Ufer über den knirschenden Meeressand fort in's Wasser zu schieben. Seine braunen sehnigen Hände – ich sah es jetzt, als ein bleiches Mondviertel die dunkle Wolkenschicht durchbrach – stemmten sich fest gegen den Bootsrand, während er den Kopf rückwärts uns zugewandt hielt.

„Na, Herr Jürs, denn man fixing!“ rief er uns aus voller Kehle entgegen.

Mein Wirth, der außer Athem war und pustete und keuchte, ohne zu Worte kommen zu können, brachte nur „Professor, Hauptstadt!“ hervor. Das wirkte wie ein Zauberwort. Mit einem Rucke war das Boot zurück am Ufer, und der Mann hielt mir [546] diensteifrig die braune Hand zur Hülfe beim Einsteigen hin. Er lächelte stillzufrieden in sich hinein, als sein Blick meine Hünengestalt überlief. So etwas imponirt den Söhnen des Meeresstrandes mehr, als Titel und Würden. Die Kraft, die rohe elementare Kraft ist Capital; sie schätzen diese daher naturgemäß am höchsten.

Das „Frölen“ saß bereits im Boot; sie war aufgestanden. Ich bewunderte, wie fest und sicher sie sich auf ihren Füßen hielt, während der Bootsknecht uns in das zischende Element hinein schob. Sie reichte mir eine kräftige weiße Hand über die Bänke fort und setzte sich erst wieder, als nun Korl (so nannte sie ihn) sich zu uns hinein über den Bootsrand schwang, daß das Fahrzeug einen Moment gefährlich von einer Seite zur anderen kippte. Viel von ihr sehen konnte ich bei der schwachen Beleuchtung nicht: zwei handbreite, helle Zöpfe, die ihr im Nacken bis über die Hüften hinunter hingen, ein Auge, das klar und hell wie Diamant zu leuchten schien, und ungewöhnlich kräftige Gliedmaßen, die ein dunkler Regenmantel von schwarzem Wachstuche übrigens vollständig verhüllte.

„Frölen, segeln?“ fragte Karl.

Sie nickte. Er wickelte das Tau um das Focksegel schnell vom Maste los, und das Frölen hatte die feste, unbekleidete Hand sofort auf dem Steuer. Unser Boot legte sich auf die Seite; zischend durchschnitt der Kiel die aufbäumenden Wogen. Wie ein Aar durch die Lüfte schossen wir blitzschnell dahin, und falkengleich scharf durchdrangen des Mädchens helle Augen aufmerksam das Halbdunkel.

Ich hätte an das Mädchen die Frage richten können, die mir in der Seele brannte, aber sie saß so ernst und still am Ruder, wie eine Nonne – und dann giebt es Fragen, vor deren Antwort es einem bangt.

Um uns heulte unheimlich der Wind. In den Segeln pfiff er und die Raa ächzte und knarrte beunruhigend.

Wie in dunkler stürmischer Octobernacht tobten die Elemente – eine passende Begleitung des Familiendramas, dem ich entgegen ging! Ein paar Mal schossen die Spritzwellen am Kiel empor und versprengten sich gleich Sprühregen über unser Boot hin. Gleichmüthig trocknete das „Frölen“ mit dem Rücken der linken Hand die Salzdouche von der Stirn, während die rechte nicht einen Moment das Steuer losließ.

„Möchten Sie mir wohl die Kapuze über den Kopf ziehen, Herr Professor,“ sagte sie mit ihrer klangvollen hellen Stimme, als verstünde sich das von selbst. Sie zuckte auch nicht prüde zurück, als meine Finger zufällig dabei ihren warmen Hals berührten; sie dankte auch nicht einmal. Ohne alle Ziererei und übertriebene Anerkennung nahm sie einen Dienst hin, den sie wohl ebenso bereitwillig mir und jedem Anderen geleistet hätte.

Wir sprachen kein Wort mehr mit einander, und ich hatte Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen, weit, weit fort in eine längst versunkene Vergangenheit:

So werde ich also – sprach ich zu mir selbst – die kleine Ina wiedersehen. Aber aus der kleinen Ina Maltiz ist inzwischen eine große Baronin Bassowitz geworden. Sie hatte mich rufen lassen; sie hatte also wieder einmal, nach Jahren einmal, ihren Hans „gebraucht“, und mit der Herrschsucht, die sie dem guten Jungen gegenüber immer geübt, hatte sie einfach commandirt. Als sie rief, hatte der Professor Hans natürlich bereitwillig seine Memoranda für den nächsten Vortrag bei Seite geworfen, gerade so wie vor Jahren der Primaner Ovid’s Metamorphosen. O, ich erinnere mich noch deutlich der Scene von damals: während ich eifrig las, lugte das Dämchen, auf den Fußspitzen stehend, in das Parterrefenster des Pfarrhauses und rief den Studirenden weinerlich als Retter an. Ina – ich weiß noch, wie sie damals aussah – hatte das große graue Perlhuhn, den Liebling ihres Vaters, mit einem kühnen Wurfe mitten in den Ententeich geschleudert – es sollte durchaus schwimmen lernen, wie die jungen Enten. Als es nicht wieder zum Vorschein kam, wurde ihr angst und bange, und sie rief jämmerlich nach mir. Natürlich warf ich, schnell bereit, den Rock ab und watete bis zur Brust in das ziemlich tiefe Wasser, rettete ihren halbtodten Liebling, wickelte ihn ihr in die Schürze und erhielt dafür ein gnädiges Kopfnicken.

Das ist nun lange, lange her; wir hatten uns sehr lieb damals, und als wir herangewachsen waren, nahm wohl Jeder in unserer Umgebung stillschweigend an, daß wir für’s Leben zusammengehören würden. Ob es meinem Vater ganz recht war, das feine zierliche Edelfräulein als künftige Tochter betrachten zu sollen, habe ich manchmal bezweifelt. Er war aus reicher Schulzenfamilie, und obschon ein grundgelehrter und studirter Herr Pfarrer, hatte er doch seinen echten, starren Bauernstolz, der es nicht gern sah, wenn Einer sich über ihn stellte. Graf Maltiz, Ina’s Vater, hätte nichts gegen die Partie gehabt, glaube ich. Er war der jovialste, gutmüthigste Kerl, den meine Augen je gesehen; er lebte und ließ leben und war jedem ein guter Camerad, der mit ihm „Rothspohn“ trank und auf die Jagd ging. – – Als ich nach dem dritten Semester in den Ferien nach Hause kam, fand ich alles verändert: Ina’s Vater war plötzlich gestorben. Der Verkehr zwischen dem Schloß und der Pfarre hatte fast gänzlich aufgehört, und das fremde kühle Wesen der Familie Maltiz hielt mich fern. Heimliche Rendezvous im Schloßgarten gab es wohl noch, aber Ina war doch verändert, verlegen oder herrisch in seltsamer Abwechselung, und ich, der gute dumme Michel, der unter den Commilitonen für ein Licht galt, ich ließ mir das Alles harmlos gefallen, und als dann wieder eine hübsche Zeit in’s Land gegangen war – ich befand mich gerade im Staatsexamen – erhielt ich die Anzeige von der Verlobung der Comtesse Iduna von Maltiz mit einem Andern – und dann wurde sie Baronin Bassowitz – ich weiß wohl: ohne Liebe.

„Komm, Hans, hilf mir!“ hatte sie mir nun telegraphirt. Ihr Nothschrei rührte mich. Nichts gab es, was mich halten durfte. Noch ehe man mich dort im Eichenhof selbst erwartete, war ich unterwegs.

Aber was war mir, im Grunde genommen, heute noch die Baronin Bassowitz? Und doch begann mein Herz immer heftiger zu klopfen, je näher ich die hellerleuchteten Schloßfenster herüberglänzen sah. – –

Als wir am Dorfe landeten, griff gleich ein Dutzend rüstiger Hände vom Steg herab nach dem schaukelnden Boot. „Das Frölen“ schwang sich behende hinauf, befahl Korl kurz, mich zu begleiten, und bewegte sich schnell die Eichenallee entlang, die auf den Edelhof mündete. Korl, eine Stalllaterne, die man ihm gegeben hatte, hin und her schaukelnd, in der ein qualmender Docht glomm, ging schweigend neben mir unter den uralten weitschattenden Bäumen.

Ich hielt es für an der Zeit, endlich zu erfahren, welcher Ursache ich die schleunige Herbeirufung verdankte.

„Ist Jemand im Schlosse krank?“ fragte ich zögernd den Mann.

„Neeh,“ sagte er gedehnt.

Sollte ich weiter forschen? Immer angstbeklommener wurde mir zu Muthe. Mein Gott, was konnte Ina geschehen sein, daß sie mich zu ihrer Hülfe herbeirief? Behandelte ihr Mann sie unzart? Meine Phantasie arbeitete kräftig. Die Leute hier zu Lande kannte ich ja; unter ein wenig äußerer Politur verbirgt sich bei ihnen ein gut Theil rücksichtsloser Brutalität – und meine arme zarte zerbrechliche Blume in rohen Fäusten! Fix und fertig stand das tragische Schicksal meines Lieblings mir vor Augen, ehe ich noch den Fuß auf die Freitreppe des Schlosses gesetzt. Meine Voreingenommenheit gegen den Schloßherrn war so groß, daß ich kühl und steif die artige Verbeugung des imposanten Herrn erwiderte, der, ein Windlicht in der Hand, von einer stattlichen Reihe von Dienern umgeben, im Portal stand. Natürlich werde ich der Willkür dieses Wütherichs meine holde Ina entreißen, sagte ich mir; meine Hand werde ich schützend über sie breiten. Wehe dem, der eines ihrer seidenen Haare zu berühren wagt!

Ich nahm es dem Baron beinahe übel, daß er mich mit feinster Höflichkeit willkommen hieß. Zögernd legte ich meine Fingerspitzen in seine mir entgegengestreckte Hand. Er war kein junger Mann mehr, aber von so stattlichem und herzgewinnendem Aeußeren, daß man sein vorgeschrittenes Alter darüber schier vergaß und mein Zorn schnell verrauchte. Er war, was man einen „schönen Mann“ zu nennen pflegt: groß, mit breiten Schultern und breitgewölbter Brust, auf die der krause Vollbart hinabwallte, mit ein paar hellblauen, intelligent und treublickenden Augen und einer lichten, hohen Stirn, die von der energischeren Färbung des übrigen Gesichts marmorweiß abstach.

Trauer, eine würdevoll und ruhig getragene Trauer lag in diesem Augenblick auf dem männlichen Gesicht; unterdrückter Schmerz kämpfte auch in der Stimme, als er mir gedämpften Tones sagte: [547] „Herr Professor, ich bedaure außerordentlich, daß Sie die weite Reise vergeblich machten und Ihre kostbare Zeit uns zwecklos opferten. Es ist schon Alles vorüber.“

„Was ist vorüber?“ mag ich so entsetzt herausgestoßen haben, daß er mich befremdet ansah.

„Was? – Malte hat ausgerungen. Dann überwältigte ihn der Schmerz. Er lehnte sich an die Granitwand im Treppenhaus und legte die Hand beschattend über die Augen. Ich glaube, der große, feste Mann weinte. Dann raffte er sich entschlossen auf. „Der Brief meiner Frau kann Sie nicht mehr erreicht haben; sonst wären Sie nicht schon hier, und das Telegramm, das ich dem ersten nachschickte, ebenfalls nicht; sonst hätten Sie natürlich die Reise nicht gemacht. Wollen Sie – –? Aber vielleicht möchten Sie sich erst waschen und umkleiden. Ingeborg sagt mir, daß Sie abwechselnd von Regenschauern und Spülwasser durchnäßt worden sind. Baum, sorgen Sie für des Herrn Professors Bequemlichkeit – die Baronin wünschte ja wohl das Gobelinzimmer? Lassen Sie die Reisetasche sogleich hinaufbringen! Auf Wiedersehen beim Thee, Herr Professor!“

Er machte mir, auf der untersten Stufe der breiten Marmortreppe stehend, eine tiefe ceremoniöse Verbeugung. Auf mich drangen die überstürzenden Eindrücke so überwältigend ein, daß ich zu gar keinem klaren Gedanken kommen konnte und mechanisch dem Haushofmeister in schwarzer Kleidung, weißer Halsbinde und Escarpins, der mit zurückgewandtem Kopfe und Candelaber die Treppe hinaufglitt, in die erste Etage folgte.

Wer war Malte, wer Ingeborg? Sollte ich den würdevollen Alten fragen, dessen faltiges Gesicht die Schweigsamkeit selbst war, oder den Kammerdiener, der, auf dem Teppich knieend, meine Reisetasche aufschloß und reine Wäsche und den einzigen schwarzen Abendanzug herausnahm, den vorsorglicher Weise meine gute Wirthschafterin hineingelegt? Der richtige Tact verbot Beides. Ich unterwarf mich also schweigend den ungewohnten Hülfeleistungen des gewandten Kammerdieners und ließ mich von dem ernsthaften Schwarzgekleideten nach vollendeter Toilette wieder hinabführen, ich weiß nicht durch wie viele Säle, Hallen, Cabinete, bis er eine dunkle Sammetportière zurückhielt, um mir den Eintritt in ein hohes düsteres Gemach, den sogenannten Ahnensaal, freizugeben.

Von dem eichengetäfelten gefächerten Plafond hingen schwärzlich-gebeizte Holzzapfen in massiver Arbeit herab. Aus dem Halbdunkel funkelten auf dem mächtigen Buffet riesige silberne Humpen und Trinkgeschirre, und in dem beinahe eine Wandseite einnehmenden Kamine lohten ganze Holzklötze. Von den Wänden herab lächelten, still und stolz, hochmüthig und ernst, in voller Rüstung oder in holder Frauenlieblichkeit die Bilder der Ahnherren und Ahnfrauen – sie lächelten herab auf ein lebendes Genrebild inmitten des nur halb erleuchteten Saales: denn dort erblickte ich einen mit Silbergeschirr und Krystall bedeckten Tisch, auf dem die Theemaschine dampfte, im tief zurückliegenden Sessel den Schloßherrn, die Füße auf dem schlummernden Jagdhund ruhend, die Stirn in die aufgestützte Hand gelegt und mit den Fingern der rechten Hand nervös den langen grauen Schnurrbart wirbelnd, in einem zweiten Sessel Ina's graziöse schlanke Mädchengestalt, dasselbe feingeschnitzte Elfenbeingesichtchen mit dem kindlichscheuen Ausdruck, dieselben hellbraunen wie Atlas glänzenden Scheitel, über die meine Hand so gern liebkosend hingestreichelt, dieselben süßen Gazellenaugen wie früher. Nein, dieselben Augen waren es nicht mehr – es war etwas Scheues, Zurückhaltendes in Ina's Blick.

Hoch und groß stand Fräulein Ingeborg, das „Frölen“, mit der ich die Fahrt über die Bucht gemacht, über die Baronin gebeugt und näßte ihre Stirn mit Eau de Cologne. Eine gewisse Vornehmheit, die Vornehmheit der Kraft, sprach sich in den ruhigen Bewegungen des Mädchens aus, in der leichten Verbeugung, mit der sie mich begrüßte, als der Hausherr mich ihr vorstellte: „Professor Ebert – meine Pflegetochter Ingeborg!“

Die Baronin streckte mir matt die Hand entgegen, die ich herzlich ergriff.

„Sie – Du –“ sagte sie, und eine fliegende Röthe stieg in ihr feines Gesicht.

„Meine Frau fühlt sich leidend,“ entschuldigte der Baron sie, „die traurigen Vorgänge haben ihre Nerven heftig alterirt – – Sieh da, unsern Hofrath!“ begrüßte er einen ältlichen rundlichen, stutzerhaft gekleideten Herrn, den der Haushofmeister eben anmeldete und der die ganze Länge des Saales bis an den Theetisch in devoten Bücklingen heranchauffirt kam. „Die Herren kennen sich nicht? Hofrath Lenz, früherer Leibarzt des Fürsten X. (er nannte einen der Potentaten der kleinen mitteldeutschen Staaten), der berühmte Professor Ebert aus der Residenz!“

Des kleinen Mannes zwinkernde Aeuglein starrten mich unter der Brille nicht eben freundlich an; dennoch verbeugte er sich vor dem jüngeren Collegen fast bis zur Erde, sprach süßlich mit den Damen, ließ sich sehr nöthigen, um dann einer der schlimmsten Vertilger unter den guten Sachen des Theetisches zu sein, während der Schloßherr und die Damen nur zum Scheine mit Gabel und Messer spielten.

Nach aufgehobener Tafel zog mich der kleine Hofrath unter die schweren Vorhänge einer der Fensternischen und übergoß mich mit einem Wortschwalle ärztlicher Weisheit, aus dem ich nur zusammenlas, daß der verstorbene Junker ein zu Krämpfen neigendes Kind mit der schwachen Constitution seiner Mutter, der ersten Baronin, gewesen, sich aber später herausgemacht und zu den besten Hoffnungen berechtigt; der Schicksalsschlag hatte die Familie also um so unerwarteter und fürchterlicher getroffen.

„Ist dem Tode des Jünglings eine heftige Erregung vorausgegangen?“ fragte ich.

Der höflich geschmeidige Hofmann hüstelte discret, lächelte und zuckte geheimnißvoll die Achseln. Ich stellte seine Discretion natürlich auf keine weitere Probe.

Da man ihn gleich darauf zu einem Kranken in's Dorf rief, verabschiedete er sich mit dem Versprechen, in der Frühe wieder da zu sein. Das Männchen drehte sich mit unglaublicher Schnelligkeit und rastloser Lebendigkeit wie ein Kreisel um sich selbst, die gnädig überlassene Hand der Baronin küssend, dem Haushofmeister ein vertraulich Wort zuflüsternd, rückwärtsgehend, unter einer Unzahl von Verbeugungen, bis er etwas unfreiwillig rasch über die Schwelle hinausstolperte. Der schmerzlich gepreßte Mund des Barons verzog sich unwillkürlich zu dem Schatten eines Lächelns. Die Gnädige war in ohnmachtartiger Ermattung wieder an die Lehne ihres Sessels zurückgesunken. Fräulein Ingeborg ging ab und zu und ertheilte der Dienerschaft leise Befehle, trotz des gedämpften Tones so bestimmt und klar, daß mein Auge voll Interesse jeder Bewegung des seltenen Mädchens folgte. Wie jungfräulich herb und stolz sie erschien, kühlanwehend, wie der Odem des Meeres, der hier durch jeden Spalt zu dringen schien! Aber der Seewind thut nicht weh durch seine energische Kraft; er erfrischt nur und fegt alle unreinen Dünste fort.

Ich bat um Erlaubniß, mich zurückziehen zu dürfen, um mich von der Reise auszuruhen. Die Baronin sah mich von unten herauf mit einem ich möchte sagen: schmeichelnden Blicke an, wenn dieser Ausdruck für die Situation nicht gar zu frivol klänge. Wie seltsam, daß dieser lange auf mir haftende warme Blick, der, hätte er mich vor Jahren getroffen, mein Blut in Bewegung gesetzt haben würde, mich völlig kühl ließ! Sie nickte mir halb gönnerhaft, halb vertraulich zu, und dabei zuckte es eine Secunde beinahe schalkisch um den feinen Mund dieser Sphinx.

„Mit wem von uns spielte sie eigentlich Komödie?“ so fragte ich mich, aber als dem nervösen Spiel der Gesichtsmuskeln ein hysterisches Schluchzen folgte, bat ich ihr, als ich mich verabschiedete, innerlich meine Gedankensünden, meinen freventlichen Argwohn ab.

Morgen dachte ich bei Zeiten wieder aufzubrechen. Jeder hier müßig verbrachte Augenblick war ein Raub an meinen Berufspflichten. Dem Baron konnte ich, der Fremde, eine tröstende oder auch nur willkommene Gesellschaft unmöglich sein. Ina? – sie war mir plötzlich seltsam fern gerückt – fremd, ganz fremd geworden.

„Am besten, Du wartest das Familienfrühstück gar nicht erst ab,“ sagte ich mir und dann laut zu dem mich begleitenden Diener: „Wann geht der erste Zug von B. ab? Acht Uhr schon? Ich danke.“ Ich nahm meine Visitenkarte heraus und kritzelte neben dem p. p. C. . . ein paar artige Abschiedsworte.

„Wollen Sie so gut sein, dies den Herrschaften zu geben und zu veranlassen, daß ich spätestens um Fünf geweckt werde und ein Wagen bereit gehalten wird, der mich zur Haltestelle bringt?“ bat ich den im Vestibül mich respectvoll erwartenden Haushofmeister.

„Wollen der Herr Professor nicht –“ begann er zurückhaltend; [548] ich schnitt durch eine energisch verneinende Kopfbewegung das Wort ab.

„Ich muß nothwendig morgen Abend zurück in die Residenz.“

„O ihr Götter, anders war's in eurem Rath da oben bestimmt. Welch eine Nacht lag zwischen dem Heute und Morgen!




2.

In meinem düstern gothischen Zimmer wob sich aus Mondschein und Kerzenlicht eine seltsam spukhafte Beleuchtung. Eben schlug es im Thurm über mir elf. Ich hatte meinen Abendanzug abgelegt und in den Reisesack gepreßt, als es außen wie von schleppenden Frauengewändern an meiner Thür ein paar Mal vorbeirauschte. Man hatte mir gesagt, daß diese Etage ganz unbewohnt, lediglich den Prunk- und Gasträumen gewidmet sei. Das Geräusch mußte mich also befremden – nun ließ es sich sogar hinter den Gobelins vernehmen, welche die Wände des Zimmers schmückten – aber nein, meine erregte Phantasie spielte mir sicherlich einen Streich. „Vielleicht beginnen die traditionellen Gespenster alter Schlösser ihr Wesen hier etwas früher, als es sonst Mode ist,“ sagte ich in scherzendem Selbstgespräch, gleichsam zu meiner Beruhigung. Aber doch! Es rauscht schon wieder hinter den Gobelins. Ich brenne mir eine Cigarre an, nehme den vielarmigen Kandelaber vom Tisch und leuchte an den etwas verblaßten, aber künstlerisch gearbeiteten Bildern hin. Immer dasselbe Gesicht mit den zarten Rubens'schen Fleischtönen, der goldigen Haarpracht und den strahlenden Blau-Augen, immer dieselbe nordische Schönheit und Kraft, hier als Freia, dort als Brunhild, auf dem dritten Bilde als Isolde, auf dem vierten als Schildjungfrau – eine etwas bunte Gesellschaft freilich, aber überall dieselbe kraftstrotzende Gliederpracht, derselbe vornehmstolze, freie Ausdruck der Züge, überall eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit – Ingeborg.

Was ist das?! Ich habe gute Nerven und nicht die geringste Anlage zu abergläubischem Grauen, aber beinahe wäre mir vor Schreck doch der Armleuchter aus der Hand gefallen, als sich jetzt plötzlich leise knarrend die umpanzerte Schildjungfrau aus einander thut und aus dem klaffenden Spalt eine ganz weiße Gestalt hervortritt.

„Wie Du mich erschreckt hast, Ina! Frau Baronin was soll das?“ Die Tapetenthür schnappte mit leichtem Knacken in die Feder zurück; die Schildjungfrau hielt ihren Schild wieder fest in der Hand; der Helm saß, wie vorher, auf den vereinigten Hälften des schönen ernsten Kopfes, und die Baronin Maltiz trat mit einem kindlichen Lächeln auf den rosigen Lippen, als freue sie sich eines gelungenen Scherzes, weiter vor in das Gemach und bedeutete mich, den Armleuchter auf den Tischteppich zu setzen.

Ich gehorchte stumm vor Ueberraschung und blieb dann abwartend vor der jungen Frau stehen, die sich in einem der weitbauchigen Armstühle niedergelassen hatte. Sie kicherte leise in sich hinein, wie sie das schon als Mädchen zu thun pflegte, wenn sie mir irgend einen Streich gespielt; dabei drehte sie, erröthend und die Augen niedergeschlagen, an den Quasten der dicken Seidenschnur, die ihr weißes, spitzendurchbrochenes Negligé zusammenhielt. Wenn Ina je in ihrem Leben verführerisch ausgesehen hatte – in diesem Augenblicke war sie geradezu unwiderstehlich. Aber der Zauber war schnell gebrochen: über dem gaukelnden Falter hier vor mir schwebte ja der stolze Aar, über Ina's Kinderkopfe das sonnige Haupt der nordischen Göttin, sieghaft in Klarheit, Reinheit und Wahrheit – das Ebenbild Ingeborg's.

Ina schlug die mandelförmigen Augen unter dunkler Wimper mit einem Ausdrucke auf, der mich früher zu ihren Füßen geworfen hätte. Sie schien auch einigermaßen erstaunt, daß nichts dem Aehnliches geschah, daß ich, den Rücken an den kunstvoll geschnitzten Kaminmantel gelehnt, ganz ruhig auf das hübsche Bild im altmodischen Sessel hier vor mir niedersah.

[561] „Bist Du mir noch gut, Johannes?“ fragte Ina schmeichelnd, wie ein verzogenes Kind, das sich seiner Macht bewußt ist.

„Gewiß,“ sagte ich ernst. „Daß ich Dein Freund, Dein treuer hülfbereiter Freund immer bleiben werde, habe ich dies nicht durch die Eile bewiesen, mit der ich Deinem Rufe folgte?“

„O ja,“ sagte sie gedehnt. Dann schwiegen wir Beide eine Weile. „Du bist mir doch böse,“ schmollte sie plötzlich; „ich sehe es Deinem bärbeißigen Gesicht an, wenn Du auch noch so energisch den Kopf schüttelst. Wärst Du sonst so frostig und reservirt gegen Deine kleine Ina gewesen?“

„Sei doch vernünftig!“ sagte ich etwas ungeduldig. Der kindliche Unverstand der Frau von siebenundzwanzig Jahren fing an mich zu verdrießen. „Die Verhältnisse sind ja ganz verändert – wir müssen ihnen Rechnung tragen.“

„O, dann hast Du mich nie wahrhaft geliebt,“ brauste sie auf und trat hart auf das Parquet.

„Sollte ich etwa mein halbes Leben hindurch Trauer anlegen, weil eine gewisse junge Dame den reichen, adeligen Grundbesitzer dem jungen Arzt vorzog?“ fragte ich ruhig.

„O, ich war so arm,“ entschuldigte sie sich, „und Tante drang so sehr in mich, daß ich – – Rochus war in mich verliebt und –“

„Gieb Dir keine unnöthige Mühe!“ unterbrach ich sie gleichmüthig (ich wunderte mich selbst, daß ich dieser verführerischen Sirene gegenüber Herr der Situation blieb). „Es ist für uns Beide vielleicht das Beste gewesen, daß es so kam. Du vornehme Treibhausblume paßt nur auf die sonnigen Lebenshöhen, mein Weib aber müßte auch in den Tiefen des Lebens, in den Abgründen der Noth und des Elends, zu denen mein Beruf mich oft genug hinabzusteigen zwingt, standhaft neben mir Schritt halten.“

„Und doch,“ lispelte sie, „doch, Hans, wollte ich Dich eben fragen, ob ich Dir nichts mehr sein kann, ob Du mich mit Dir nehmen willst?“

„Baronin!" rief ich empört.

Einen Augenblick starrte sie mich groß und erschrocken an.

„Hans, bitte, bitte, nimm mich mit Dir!“ – sie sagte es unruhig und angstvoll. Spielend hatte sie alle Hindernisse wegzuräumen geglaubt: der dumme, immer dienstbereite Hans, meinte sie, müsse hochbeglückt das Taschentuch aufnehmen, das ihrer überlegenen Laune heute gefiel ihm huldvoll zuzuwerfen. Aber der Hans von heute that merkwürdiger Weise nichts von alledem. Die kleine schlaue Person mochte ihm das vom Gesicht lesen und auch vielleicht noch etwas mehr, daß er nämlich anfing sich zu schämen, dieser Frau früher die besten Gefühle seiner Brust geweiht zu haben. Ina Bassowitz war ohne Zweifel eines jener Geschöpfe, die blitzartig erfassen und mit feinem Verstande den Andern schnell durchschauen. Nachdem sie entdeckt hatte, daß die Maschen des [562] Netzes, in dem sie mich einst gehalten, gerissen waren, änderte sie geschickt ihre Manöver und spielte neue Karten auf den Tisch.

„Hans, Du bist der einzige Mensch auf der weiten Welt, dem ich vertrauen kann, der mir ein wahrer Freund ist. Die Wahrheit zu sagen; ich fürchte mich vor dem Baron. Er ist furchtbar in seinem Jähzorn. Du müßtest sehen, wie dunkelblau die Adern ihm dann auf der Stirn schwellen, wie seine Augen blitzen. Ich glaube, er wird mich tödten, zermalmen, wenn er erfährt … Hans, Hans,“ sie faltete beschwörend die schmalen Kinderhände zusammen und blickte mich flehentlich an – „Du mußt mir forthelfen von hier, ehe … Nimm mich morgen mit, ehe Einer wacht, verstecke mich irgendwo in der Residenz, bis seine erste Wuth vorüber ist, laß mich –“

„Was in aller Welt hast Du denn angerichtet?“ unterbrach ich sie.

„Mein Stiefsohn,“ sagte sie zaudernd, „starb durch –“

Es klopfte leise. Ich ging zur Thür und öffnete. In dem hallenartigen, von gothischen Fenstern hier und da durchbrochenen Corridore stand hoch und schlank Ingeborg.

„Der Baron sucht Ina,“ sagte sie; in ihrer Stimme lag vieles: Tadel, Geringschätzung – ich weiß nicht was noch. Unwillkürlich tastete ich nach Ingeborg's Hand und hielt sie fest. Die Mißachtung dieses hoheitsvollen Mädchens wollte ich nicht ertragen.

Die Baronin war erschrocken aufgefahren und an uns vorüber wie ein gehetztes Reh die Treppe hinabgeeilt. Durchdringend und kalt sah Ingeborg mich aus ihren großen Augen an; ihre Finger ruhten leblos wie Marmor in meiner Hand.

„Hoffentlich messen Sie mir keine Schuld an dem Besuche der Frau Baronin bei,“ sagte ich.

„Jetzt nicht mehr,“ entgegnete sie mit stolzer Wahrheitsliebe. Ihre Finger drückten leise meine Hand, ehe sie sie zurückzog. Wie schnell eine edle Seele einen vorwurfsfreien Menschen erkennt und versteht!

„Könnte ich den Verstorbenen heute Nacht noch sehen?“ fragte ich. Ina's angstgefolterte Worte hatten mir einen furchtbaren Verdacht erweckt.

„Wenn Sie die Unbequemlichkeit nicht scheuen und einen Augenblick warten wollen, Herr Professor, bis ich den Schlüssel der Verbindungsthür geholt, will ich Sie hier über die Gallerie in die Hauscapelle führen, wo sie die Leiche aufgebahrt haben. Wir stören dann Niemanden und können unbemerkt hingelangen. Warum den armen Vater erst daran erinnern? Setzen Sie lieber Ihren Hut auf! In der Gallerie zieht es sehr.“

Sie ging und war mit dem Schlüssel gleich wieder da. Während wir durch die säulengetragene Loggia schritten, die längs der Seitenwand des Schlosses hinlief und die Capelle mit demselben verband, versuchte ich aus dem schweigsamen Mädchen etwas über des Junkers Krankheit und Tod zu erfahren. Sie bestätigte, daß er als Kind an Zuckungen gelitten. Wie scharf dieses stille Mädchen beobachtete, sah ich daraus, daß sie mit dem Auge des Physiologen jeder, sonst nun dem Mediciner erkenntlichen Krankheitserscheinung gefolgt war. Sie schilderte klar die Vorboten der Anfälle, die um die Augen herum in's Bläuliche spielende, auf Wangen und Nase in's Gelbliche fallende Gesichtsblässe, die Verminderung der natürlichen Wärme, das Frösteln, die spitze, verengte Nase, die den Athem beschwerte; von der gesteigerten Nerventätigkeit, dem Hart- und Erstarrtwerden der Muskel gab sie mir in einfach-schlichten Worten ein anschauliches Bild.

Meinen Fragen nach den letzten Erscheinungen vor dem Tode Malte's wich Ingeborg aus; sie sagte ganz aufrichtig: da Alles zu spät sei, möchte sie lieber nicht darüber sprechen.

Sie hob das Windlicht hoch und beleuchtete die ausgebuchteten Steinstufen, die wir zu einem schmalen Gange hinunterzusteigen hatten. Die feuchten Steinwände glitzerten im Licht, als hätten sie sprühende Krystallatome angesetzt; unsere Schritte hallten dumpf wider in dem gruftartigen Raume. Feucht und moderig schlug uns die Luft entgegen.

„Hier ist lange nicht gelüftet worden. Der Gang wurde, glaube ich, seit meiner Taufe nicht wieder benutzt,“ bemerkte Ingeborg, indem sie anfangs vergeblich versuchte, das eingerostete Schloß einer schweren Thür mit dem Schlüssel zu öffnen.

„Seit Ihrer Taufe? Erinnern Sie sich derselben?“ war meine lächelnde Frage.

„Gewiß. Ich war damals drei bis vier Jahre alt.“

„So spät sind Sie getauft?“

„Die verstorbene Baronin hielt es für ihre Pflicht, den kleinen Fremdling auf alle Fälle taufen zu lassen, damit nicht möglichen Falles ein Heide unter ihrem frommen Dache groß würde. Ach so, Herr Professor, Sie wissen wahrscheinlich nicht, was jedes Kind im Dorfe Ihnen erzählen könnte: daß ich ein vom Meere ausgespültes namenloses Ding bin.“

„Eine Perle,“ sagte ich halblaut zu mir selbst; zum Glücke kreischte das alte Thürschloß so sehr, daß sie es nicht hörte.

„Der Baron hat nach stürmischer Nacht mich aus einer Kiste aufgelesen, die an die Küste trieb. Ich stammelte eine fremde, Allen unverständliche Sprache, und da man nichts als 'Inge' heraushörte, nannte man mich: Ingeborg. Der Eine hält mich für eine nordische Prinzessin irgend eines fernen Landstrichs; der Andere meint, ich sei das Kind des Capitains von dem gescheiterten Schooner, den man Abends vorher gesehen, dessen Nothschüsse man gehört und der dann mit Mann und Maus von der Meeresoberfläche verschwunden war. Keine lebende Seele hat mich zurückgefordert oder auf die vielen Zeitungsaufrufe auch nur ein Zeichen gegeben, und so hat die Baronin, statt der gestorbenen kleinen Tochter, die Malte's Zwillingsschwester war, mich bei sich behalten. Sehen Sie, Herr Professor, so kam es, daß ich meiner eigenen Taufe mich entsinnen kann. – – Bitte, versuchen Sie doch einmal!“ bat sie auf den im Schlosse steckenden Schlüssel zeigend.

Wirklich gab das Schloß meinen wiederholten Anstrengungen nach. Die eiserne Pforte that sich knarrend auf, und wir traten in die todtenstille Capelle.

Unheimlich hallten die Fließen unter dem Fuß; unheimlich sah der fahle Mond durch die bunten Kirchenfenster; unheimlich raschelten die trockenen Todtenkränze an den Wänden, als wir sie im Vorübergehen streiften.

Mit schwarzem Tuch waren die Wände rings um den Altar ausgeschlagen, und die breiten Stufen mit hohen Fächerpalmen besetzt. Dicke Wachskerzen dampften um den Katafalk, und bleich und still hingestreckt lag ein Jüngling darauf. Die zusammengekrümmten Hände ruhten auf der Brust; die Gesichtsmuskeln waren in ergreifendem Ausdruck des Schmerzes erstarrt. Man sah diesem schönen Jünglingsantlitz, das eine zartere, feinere Copie des Barons war, an, daß es blitzartig hingemäht, durch irgend ein überwältigendes Ereigniß aus dem Leben gegangen war. Wo blieb mein schwarzer Argwohn? Hier hatte keine fremde Hand störend in den Mechanismus eingreifen können, und doch klagte sich die Baronin selber an? Sollte sie –?

O nein, so freventlichen Thuns, so schamloser Leichtfertigkeit konnte ich sie unmöglich für fähig halten. Immer räthselhafter, immer dunkler wurde mir ihr Thun; sollten wir es mit geistiger Störung zu schaffen haben? Arme, kleine Ina, es wäre gräßlich. Hatte der schnelle Tod des Stiefsohnes deinen hellen Kopf zerrüttet; oder war er dir mehr gewesen, als er dir sein durfte? Ueberlebten Beweise und Zeichen einer sündhaften Neigung zu ihm den Verstorbenen und zittertest du deshalb vor der drohenden Entdeckung, vor deines Gemahls furchtbarem Zorn?

So wälzten sich die Gedanken in meinem Hirn, während Ingeborg's Hand liebevoll die lichtbraunen Locken aus der marmornen Stirn des Todten fortstrich.

An dem Hauptportal klirrte ein Schlüsselbund. Ingeborg zog mich stumm mit sich in die Sacristei, während ein schlarfender Schritt durch die Säulenhalle kam, und das Licht einer Handlaterne vor dem Ankömmling her auf die Fließen fiel.

Die Stirn an das durchbrochene Metallfenster der Sacristei gedrückt, spähte ich hinaus. Der Schritt, der ein leises Echo hatte, kam sehr langsam näher. Es war nicht eine Person; es waren deren zwei. Der die Laterne trug, war ein alter Mann, der den Schirm der Hausmütze tief über die Augen gezogen hatte; neben ihm schritt eine weibliche Gestalt von der Größe und Zierlichkeit der Baronin; es wurde ihr sichtlich schwer, sich fortzubewegen; sie stand alle Augenblicke still und hielt sich an den Kirchenstühlen aufrecht, und die Altarstufen stolperte sie förmlich herauf. Der alte Mann griff ihr stützend unter die Arme.

Ich blickte mich fragend nach Ingeborg um, die neben mir am Fenster stand und mit reger, ich möchte fast sagen: gespannter Theilnahme dem Schauspiel da am Sarge folgte. Ihre Augen schwammen [563] in Thränen; sie drückte bedeutsam meine Hand, als wollte sie jedes Wort niederhalten.

Die Frauengestalt war neben dem Katafalk mit leise wimmerndem Klagelaute zusammengebrochen. Das ihr vom Kopf herabgesunkene Tuch ließ eine schimmernde Pracht aschblonder Flechten sehen, auf denen das hin und her flackernde Kerzenlicht elektrische Funken sprühen ließ. Ein jugendlich schönes, gramdurchwühltes, verweintes Gesicht lag unter den schweren Flechten, ein Gesicht, dessen Hauptreiz unbeschreibliche Unschuld und Reinheit war, die kindliche Unberührtheit eines unentweihten Herzens. Heftiges Schluchzen erschütterte die feine, zarte Gestalt.

„Leonore, das darfst Du mir nicht anthun,“ sagte der Alte, „siehst Du, ich hätte nicht nachgeben, Dich nicht hierher geleiten sollen. Nur wird mein fröhlicher Singvogel die Flügel hängen lassen und auch hinsterben vor Gram. Kind, Kind, für den Tod ist kein Kraut gewachsen. Alt muß sterben; Jung kann sterben und Dein armer alter Vater hat nichts auf der Welt als Dich. Leonore, Leonore,“ rief er angstbeklommen, als das Mädchen wie von Sinnen ihr bleiches Gesicht in die Bahrtücher grub, „Leonore –“

Plötzlich verstummte er. Mit weit aufgerissenen Lidern, als sähe er etwas Gräßliches, stierte er auf den Todten. Ein angstvoll kreischendes: „Alle guten Geister loben den Herrn!“ brach von seinen Lippen; er wankte und wäre wohl die Altarstufen hinabgestürzt, hätten Ingeborg und ich, hastig herbeispringend, ihn nicht aufgefangen.

„Mann, was ist Euch – Küster, was haben Sie?“ drangen wir auf den Verstörten mit Fragen ein. Mit dem erhobenen Finger deutete er starr auf die Leiche. Was ich da sah, hätte auch stärkere Nerven, als die des armen, alten Küsters in Aufruhr bringen, auch einen festeren Verstand mit abergläubischem Grauen packen können. Der Todte, der vorhin auf dem Rücken gelegen, hatte jetzt das Antlitz ein klein wenig auf die Seite gekehrt; die gekrümmte Rechte war nun lang ausgestreckt schlaff herunter gefallen; die starren Finger berührten mit ihren Spitzen den Boden.

Den fassungslosen Greis schnell in einen der Kirchenstühle drückend, waren Ingeborg und ich mit einem Satze die Stufen wieder hinauf neben der Bahre. Ingeborg hob das ohnmächtig hingesunkene Mädchen mit schneller Geistesgegenwart empor und trug es hinaus – ich weiß nicht wohin – in das Küsterhaus wahrscheinlich. In einer Minute war sie wieder zurück und rüttelte den geistesstumpfen Alten auf.

„Mann, rafft Euch auf, damit wir dem Doctor da helfen können! Hier handelt es sich um ein rückkehrendes Leben, das wir vielleicht dem Tode noch abringen können. Auf, Vater Steffens, wenn Ihr den Junker je lieb gehabt!“

Das barsche Wort half schneller und besser, als jede Erklärung; es rief die gestörten Sinne des Küsters zur Ordnung. Das kluge, starke Mädchen ließ mich vergessen, daß es ein Weib, daß es nicht mein guter tapferer Camerad war in dieser schweren Stunde. Die Gedanken las sie mir von der Stirn, jede Sorge aus der Seele. Sie quälte mich nicht mit müßigen Fragen: „wird er leben, wie, wann?“ Instinctiv errieth sie meinen Ideengang, kam meinen Absichten resolut mit der That entgegen, ward ohne Prüderie, nur der Herrschaft des Augenblicks gehorchend, mein Assistent, ein schweigsamer, kluger, mit divinatorischer Kraft begabter Assistent, wie sich jeder Arzt ihn in so schwierigem Falle, wo Tod und Leben an einem seidenen Haare hängt, nur begehren kann. Noch ehe ich den Wunsch aussprechen konnte, den Unglücklichen aus seiner schauerlichen Umgebung zu entfernen, um bei der möglichen Rückkehr zum Leben ihn nicht den schädlichen Eindrücken derselben preiszugeben, schlug sie mir vor, denselben in das angrenzende Küsterhaus zu tragen, um den Schloßbewohnern nicht vorzeitige Hoffnungen zu erwecken, die sich vielleicht doch nicht realisirten.

Ueber den kleinen Hofraum, der die Capelle von der Küsterwohnung trennte, half sie dem Alten und mir den Körper tragen. In der niedrigen Wohnstube legten wir ihn auf das Ledersopha.

Lebte er wirklich noch?

Eine genaue Auscultation der Herzgegend ließ mich beinahe hoffnungslos; Aufträufeln von Siegellack und kochendem Wasser blieb nutzlos, ebenso Bürsten der Fußsohlen, Waschungen mit Naphtha und Wein; vergeblich reizte ich die Nasenlöcher; mittelst einer rasch gewirbelten Feder bespritzte ich ihm kräftig Gesicht und Brust etwa zehn Mal mit kaltem Wasser. Blutüberführung aus einem gesunden in diesen dem Leben noch halb angehörigen Körper konnte vielleicht nützlich sein – woher aber das Blut in aller Eile nehmen? Ich ließ ein Wort davon zu Ingeborg fallen. Stillschweigend streifte sie den Aermel vom Arme und reichte ihn mir, als verstünde sich das von selbst.

Ich führte dieses kostbare Blut mittelst einer gewöhnlichen kleinen Spritze in eine Vene des Scheintodten ein. Vergeblich!

Beinahe verzweifelte ich. Noch zwei Versuche – schlugen sie fehl, mußten wir den jungen hoffnungsvollen Leib da doch der finsteren Gruft übergeben.

Sein Gesicht abwärts kehrend, seine Brust durch Unterschieben meines zusammengerollten Rockes erhöhend, versuchten wir ihn zu Athmungsbewegung zu zwingen. Wir wandten ihn sanft auf die Seite, noch ein wenig darüber hinaus, dann rasch wieder auf das Gesicht. Dieses Umwenden wiederholten wir durchaus gleichmäßig, etwa fünfzehnmal in der Minute, und jedesmal, sobald der Körper wieder auf dem Gesicht lag, drückten wir kräftig die Rückenfläche seines Brustkastens entlang mit der Hand, bis er wieder auf die Seite gedreht wurde. Vergeblich!

Wir legten ihn, beinahe muthlos schon, auf dem Rücken ausgestreckt auf ein schräggelegtes Brett, sodaß Kopf und Brust ein wenig höher lagen, und schoben ihm zusammengerollte Bettkissen unter die Schulterblätter. Ingeborg stellte sich auf meine Anordnung hinter den Kopf des Leblosen, faßte sodann beide Arme nahe oberhalb der Ellbogen und zog dieselben sanft und gleichmäßig schnell bis zum Rumpfe herauf, zugleich etwas rückwärts und nach außen. Zwei Secunden lang hielt sie die Arme so nach oben gestreckt; dann bewegte sie dieselben langsam wieder abwärts und drückte die Ellbogen fest gegen die Seiten der Brust. Sofort wurden dann die Arme wieder erhoben, wieder herabgelassen, tactmäßig ruhig, fünfzehnmal in der Minute. Den Secundenzeiger meiner Uhr scharf im Auge, gab ich das Tempo an. So müheten wir uns eine Stunde – auch das war vergeblich.

Ein leises Wort zu Ingeborg, und sie eilte in die angrenzende, räucherig finstere Küche, wo eben ein gebücktes Mütterchen die Kohlengluth anblies. Sanft schob sie die Alte bei Seite. Ihre weißen Hände schürten schnell die Gluth, und setzten auf den Dreifuß den irdenen Topf mit Wasser. Die helle Flamme bestrahlte ihr schönes ernstes Gesicht, während sie aus dem ärmlichen Hausrath zusammensuchte, was ich haben wollte.

Nun brachte sie schnell herbei, was ich in Ermangelung einer galvanischen Batterie gebrauchte, um durch Elektricität auf die erstarrten Lebensfunctionen einzuwirken. Da die Voltasäule von Doppelplatten mir in der Geschwindigkeit zur Elektropunctur fehlte, stach ich eine feine Acupuncturnadel in die Gegend des Herzens zwischen die Rippen einen halben Zoll tief ein und befestigte daran einen silbernen feinen Draht, den Ingeborg im Schlosse aus einer venetianischen Filigranarbeit gebrochen hatte; hieran fügte ich einen silbernen Löffel, den ich in ein Glas mit Salzwasser brachte. Noch eine zweite Nadel stach ich in die Herzgrube, befestigte daran einen andern feinen Draht, woran sich ein Stück Zink befand, und legte dieses in ein Glas mit warmem Wasser und Asche. Beide Gläser stellte ich nun nahe an einander und schloß abwechselnd die galvanische Kette durch einen feinen, polirten, trocknen Draht, den ich mit meinem seidenen Taschentuche anfaßte.

Mit aufmerksamem Auge war Ingeborg jeder meiner Bewegungen gefolgt. Ich glaube, daß das Interesse an dem wissenschaftlichen Experimente sie eine Secunde sogar ihren Schmerz überwinden ließ. Mit angehaltenem Athem folgten wir gespannt der Wirkung dieses letzten einfachen Mittels.

Gott im Himmel, in der elften Stunde hattest du Erbarmen mit diesem jungen zu früh gebrochenen Dasein.

Leise Erschütterungen erfolgten nach einer Weile. Die fahlen Lippen rötheten sich schwach. Nach zwanzig Minuten vernahm mein tief über Malte gebeugtes Ohr einen zartsäuselnden Laut, schwach wie ein Hauch, dann leises Athmen, der Anfang wiederkehrender Respiration, die mehr zu errathen, als wahrzunehmen war.

Noch eine Viertelstunde und in das Todtengesicht tritt matte Färbung; die steifen Muskel werden schlaff, dann die erschlafften allmählich gespannt. Mit einem tiefen Seufzer schlägt der dem Leben Zurückgegebene klar bewußt die dunkelblauen Augen groß auf, und läßt sie von Einem zum Andern wandern.

Aus der angrenzenden Kammer ist eine weiße Mädchengestalt scheu auf die Schwelle getreten. Keiner hat sie im Eifer angestrengtester Erwartung gesehen, Keiner sie beachtet.

[564] O welch ein jubelnder Schrei hallt durch das niedrige Zimmer, welch Jubeln und Weinen zugleich, als sie hinstürzt zu ihm und, seine Kniee mit beiden Armen umklammernd, vor ihm niedersinkt! Die Sichzurueckgegebenen halten sich fest, fest als könnten sie sich nimmer lassen, in wortlosem Jubel umschlungen.

Still war Ingeborg hinausgeschritten in die Küche und hatte die Thür sacht hinter sich zugezogen. Ich ging ihr nach. Die gefalteten Hände auf den rothen Backsteinherd gestützt, stierte sie in die Kohlengluth. Große Thränen rannen ihr über das Gesicht. Das bisher so besonnene, stillgefaßte Mädchen weinte hier in der Verborgenheit ihre Freude aus. Als sie meinen Schritt hörte, wandte sie den Kopf und griff stumm nach meinen beiden Händen; sie preßte sie an ihr Herz und dann in überströmender Dankbarkeit an ihre Lippen.

Tief ergriffen, zog ich sie leise an mich. „Ingeborg, nur gemeinsam konnten wir so wirken,“ raunte ich ihr zu. Dann entwand sie sich hocherröthend meinen Armen und verließ die Hütte.

Ich gab meine Anordnungen. Erst wenn der Patient zu vollen Kräften gekommen, sollte die Schloßherrschaft von dem unerhörten Glück benachrichtigt werden. Inzwischen sollten Vater Steffens, die alte Muhme und Leonore den Kranken pflegen. Als ich den glücklich lächelnden jungen Mann in Vater Steffens' hohem rothwürfligem Federbett verschwinden sah, ihm vorsichtig ein wenig Wein mit warmem Wasser eingeflößt und Leonore beauftragt hatte, ihm später geringe Quantitäten schwachen Kaffees zu geben, trat ich aus dem schwülen kleinen Raum hochaufathmend hinaus in Gottes freie Natur.

Der Seewind fächelte mir die heiße Stirn und lockte mich die Eichen-Allee hinab dem Meere zu.

Ueber der Erde lag der dämmende Tag. Roth schwebte der Morgenhimmel über dem wie Silber schimmernden Element, und rosig hauchte der gluthroth hinter dem Meeresspiegel auftauchende Feuerball den riesigen Schuppenpanzer an, zu dem der leise Morgenwind die Meeresfläche kräuselte. Auf dem Steg erblickte ich Ingeborg. Ihr aufgegangenes Haar warf der Morgenwind wie einen strahlenden Kaisermantel um die hohe Gestalt. Sie blickte sinnend in die Fluth.

„Darf man fragen, Fräulein Ingeborg, worüber Sie nachdenken?“

Ich stand neben ihr auf der Brücke. Ernst lächelnd blickte sie zu mir auf und deutete mit dem Finger auf einen Raubfisch, der in der Tiefe einen kleineren beharrlich verfolgte.

„Es ist so viel Frieden in der Natur – warum bekämpfen sich in mörderischer Fehde alle organischen Wesen in ihr, weshalb ist es Naturgesetz, daß überall die rohe Kraft die schwächere aufzehrt? Weshalb Kampf, Kampf unter Mensch und Thier, wohin man blickt?“

„Ich kenne ein Verhältniß, das im Leben diesen Kampf aufhebt, ein Mittel, das –“

Fein lächelnd fiel sie mir in's Wort. Wieder hatte sie mich errathen und durchschaut, ehe ich ausgesprochen.

„Sie vergessen, daß auch das Verhältniß der beiden Geschlechter zu einander nur ein Kampf um die Herrschaft ist. Nie, nie könnte ich mich zu der Rolle des Ambos herabwürdigen lassen.“

Voll Bewunderung sah ich sie an. Wohin war mein Ideal vom Weibe: Zartheit, Demuth, Kindlichkeit? Die Ahnung dämmerte in mir auf, daß neben den starken Mann das starke Weib gehört, nicht unter, nicht über ihn, aber ihm gleichberechtigt an die Seite gestellt.

„Ingeborg,“ sagte ich, mich tief über sie beugend, „es giebt doch einen Ausgleich in dem Kampfe: die Liebe; sie läßt an eine Ewigkeit glauben.“

Ingeborg schwieg. Nur ihr Auge blickte warm und offen zu mir auf. Und da lehnte sich ihr schönes Haupt vertrauensvoll zurück an meine Schulter, und Friede – der Friede nach dem Kampfe – ruhte auf ihrer Stirn.

Um uns rauschte das Meer – –




3.

Der Freudentaumel des Wiederfindens war unter Scenen lebhaftester Erregung verraucht. Mein Erstes war, dem glücklichen Vater zu erklären, daß ich jede Verantwortung von mir ab auf ihn schieben müsse, wenn in der schnellfortschreitenden Genesung sich ein Stillstand oder gar ein Rückschritt zeigen sollte, Erscheinungen, die ich dann nur der schädlichen Einwirkung geistiger Erregung zuschreiben könnte. Ohne daß ich bisher die einzelnen Fäden kannte, durchschaute ich längst den kleinen Roman, der sich zwischen Malte und Leonore abgespielt, und benutzte die weiche Stimmung des Barons zu Gunsten des jungen Paares, indem ich versicherte, daß eine durch nichts unterbrochene Gemüthsruhe und die umsichtige Pflege eines ihm mit jedem Gedanken ergebenen Menschen für seinen Stammhalter das beste Mittel sein würde, binnen Jahresfrist das drohende Gespenst der fürchterlichen Krankheit für immer zu bannen. Ungern, aber der Macht der Verhältnisse sich fügend, gab der Baron nach, und Leonore Steffens durfte als die Braut des Junkers mit auf das Schloß ziehen und dessen Pflege übernehmen.

Eine lange im Flüsterton gehaltene Unterredung hatte es vorher in der Küsterwohnung zwischen Vater und Sohn gegeben, während das arme Mädchen einem verschüchterten Vöglein gleich, das mit ängstlich zusammengezogenen Schwingen sich verborgen hält, im dunkelsten Winkel der Küche sich zusammenduckte. Zum Schluß küßte der junge Baron ehrerbietig und mit gerührter Dankbarkeit die Hand des Vaters; Leonore wurde herbeigerufen, und der ältere Baron berührte in etwas zurückhaltender Förmlichkeit mit den Lippen flüchtig die holde Wange. – – –

Mit Ausnahme des Haushofmeisters, der mir ein feines Frühstück mit in krystallner Caraffe funkelndem uraltem Madeira auf mein Zimmer geschickt, hatte sich keiner der Schloßbewohner den langen Vormittag um mich bekümmert. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit gethan,“ sagte ich mir. „Darf ich jetzt gehen und den Genesenden sich selbst überlassen?“

Ich zog mein Notizbuch hervor, um mir meine ärztlichen Pflichten daheim zu vergegenwärtigen und nachzusehen, ob ich es verantworten könne, hier noch einen Tag in halber Müßigkeit zuzubringen. Dabei flatterte ein vergilbtes Papierblättchen aus einer der Seitentaschen des Buches.

„Du bist wie eine stille Sternennacht;
Ein süß Geheimniß ruht auf deinem Munde,
In deines dunklen Auges feuchtem Grunde –
Ich weiß es wohl und hab' es wohl in Acht.! – –

las ich kopfschüttelnd. Wie fern, wie schattenhaft fern lag die Zeit, wo ich in jugendlicher Schwärmerei dem verschleierten Blick von Ina's veränderlichen Augen diese Verse gewidmet hatte! Eine Sphinx, ein lebendes Räthsel war sie mir heute mehr als jemals, aber ich ahnte schon: wenn sich der Schleier von dem Bilde zu Sais heben werde – o, dann werde auch nicht der geringste Bruchtheil von meinem Jugendideal stehen bleiben; ich fühlte im Voraus, daß nicht alle Geheimnisse dieser unergründlichen Sirene „süß“ seien.

Ein Anderer, der nach scharfem Klopfen mit umwölkter Stirn und düsterem Auge, kurz grüßend, zu mir eintrat, mußte das auch bereits wissen.

„Haben Sie eine Stunde Zeit für mich?“ sagte Baron Bassowitz mit militärischer Kürze, die eine Hand in den Brustausschnitt seines Rockes geschoben, ohne in dem Sessel Platz zu nehmen, den ich diensteifrig herbeirollte.

„Sie stehen der Baronin nah …“ sagte er, und dabei zuckte es ironisch um seine Nasenflügel. Er wußte also von Ina's Nachtbesuch und deutete ihn, wie ihn Jeder gedeutet hätte, nicht zu meinen Gunsten.

„Ich stand Fräulein von Maltiz nahe,“ erwiderte ich. „Sie war meine Jugendfreundin und mir im Stillen verlobt bis zu dem Augenblick, wo sie – Ihre Braut wurde, Herr Baron.“

„Trage ich die Schuld, daß Sie nicht der Begünstigte waren?“ fragte er unbeschreiblich wegwerfend. Um seine Lippen zuckte es boshaft.

„Herr Baron!“ Das Blut schoß mir in's Gesicht. „Ich mache Niemandem den Vorzug streitig, in dem Herzen der Frau Baronin obenan zu stehen. Ich habe die Ehre, Sie – um Fräulein Ingeborg's Hand zu bitten.“

Er fuhr überrascht auf und sah mich groß an. „Sie kennen Ingeborg kaum,“ meinte er. In seinem Ton lag beinahe eine abschlagende Antwort.

„Ich habe mit Ingeborg eine ganze Nacht am Krankenbett gewacht, Zeit genug, um einen solchen Charakter würdigen zu lernen. Sie wissen, Herr Baron, was der Dichter sagt:

[566]

‚Zwei kennen sich schon manches Jahr
Und kennen doch sich nicht am Ende;
Zwei reichen einmal sich die Hände
Und kennen sich schon manches Jahr.‘“

Beschämt reichte er mir die Hand. „Vergeben Sie mir, Herr Professor! Ich habe allen Grund Ihnen dankbar zu sein. Es ist in den letzten Stunden so Vieles, so Unerwartetes, so Fürchterliches auf mich eingedrungen, daß es mich völlig verwirrte. Vergeben Sie mir!“ wiederholte er dringend in schöner Wärme, „und ich will Ihnen dankbar sein. Für das Leben meines Sohnes will ich Ihnen das Beste geben, was ich habe: Ingeborg, den einzigen Schatz von meiner Brust reißen, der mir unvergänglich werthvoll ist. Ich hoffe, Sie werden diese reine echte Perle, die mir das Meer schenkte, zu schätzen wissen, Sie werden sie in die würdige Fassung bringen.“

Gerührt schüttelten wir uns die Hände. Ich wollte ihm von meinen Verhältnissen meiner nicht ungünstigen Lebensstellung sprechen. Er wehrte mir mit einem ungeduldig düsteren: „Nachher, nachher! Alles Geschäftliche wollen wir von beiden Seiten später feststellen.“

Nach einer Pause sagte er: „Ich muß Sie nun bitten, daß Sie Zeuge einer Unterredung mit der Frau Baronin werden.“

„Ich?“ fragte ich betreten.

„Sie gefälligst! Ich möchte einen Unbetheiligten, lieber noch einen für meine Frau parteiisch Gesinnten zwischen ihr und mir stehen haben, während – während – ich Gericht halte,“ sagte er furchtbar ernst.

Wir stiegen in die untere Etage hinab; stumm voranschreitend und nur an den Thüren mir artig den Vortritt lassend, führte er mich im linken Schloßflügel durch eine Reihe sehr einfach und stilvoll gehaltener Herrenzimmer: es waren Waffensäle, Rauch- und Arbeitszimmer und eine werthvolle Bibliothek. Dann kamen wir in das mit gediegener Pracht ausgestattete Schlafgemach, weiter in ein kleines mit äußerster Koketterie decorirtes Toilettezimmerchen, das die Verbindung mit den Wohnräumen der Baronin bildete – und an die Thür des Zimmers klopfte er gebieterisch.

[577] Eine weinerlich bittende Stimme schien eine andere Person da innen bewegen zu wollen, nicht aufzumachen. Ingeborg's klare Stimme machte ihr Gegenvorstellungen. Immer kläglicher flehte und wimmerte wie ein verängstigtes Kind die Eine, während, statt aller Antwort, wir einen festen Schritt auf die Thür zukommen hörten; sie wurde schnell von innen geöffnet. Ich stand eine Secunde lang wie geblendet auf der Schwelle. Mein Beruf hat mich in manches mit Raffinement und Luxus ausgestattete Damenzimmer geführt, aber in solch sinnberauschendes Märchenwunder blickte ich nie zuvor. Der Baron hatte sein reizendes Spielzeug in den verführerischsten Rahmen gebracht, oder die kleine raffinirte, phantasievolle Person selbst hatte aus ihrem Sanctuarium einen Traum wie aus „Tausend und eine Nacht“ geschaffen.

Einzelheiten prägen sich dem Gedächtniß des Mannes nach solcher Richtung selten ein; ich weiß nur, daß der achteckige kleine Salon, ganz in blaßrosa Atlas gehalten, hermetisch verschlossen gegen das Tageslicht, von mattgeschliffener rosenrother Ampel überstrahlt und in jedem Winkel mit kleinen Terrassen blühender Rosen angefüllt, mir den Eindruck einer vollentfalteten großen Centifolie hervorrief. Von den Wänden schimmerte wie ein rosenfarbener Spiegel der lichte Atlas; an den Thüren floß er in reichen Falten herab. Fast mit Scheu betrat mein Männerfuß den schneeweißen daunigen Teppich, über den der Baron ungenirt bis zu dem Divan hinging, auf dem die junge Frau ruhte, in sich zusammengeschmiegt, den Kopf in die Kissen gegraben, wie ein Vogel Strauß. Seine herrische Stimme scheuchte sie auf. Neben sie hatte sich Ingeborg gesetzt und legte mitleidig den Kopf an ihre Schulter.

Wie verschieden waren diese beiden Frauen! Die Eine selbst in diesem Augenblicke der höchsten Seelenangst des Eindruckes nicht uneingedenk, den sie hervorrufen will, im verführerischen Negligé, schmiegsam, kokett, berechnend, die Andere ganz selbstvergessen, in den schlichten schleppenden Trauerkleidern, von edler plastischer Einfachheit, ganz allein sich selbst gebend; die Eine effecthaschend, mit dem eigenen Manne kokettirend, die andere ohne Ahnung, wie gewaltig, wie schön sie ist; die Eine nur strebend, Herzen um jeden Preis zu unterjochen, die Andere zu stolz, als daß das Streben, zu gefallen, in ihrer jungfräulichen Seele jemals sich geregt. O blinder Thor, wo hattest Du Deine Augen gehabt, als Du in Ina Maltiz das Ideal aller Weiblichkeit sahest! Das Modell zu unserer Urmutter, zu einer Venus des Hörselberges, zu der Circe, die den sinnbethörten Odysseus lockt, mag sie abgeben, aber das Ideal des echten, reinen, hohen Weibes – ist Ingeborg.

Ingeborg's Augen und die meinigen begegneten sich in verständnißinnigem Blicke, während der Baron düster auf das an allen Gliedern bebende junge Weib herabblickte, als wolle er ihr in die tiefste Seele schauen. Ina's verschleiertes Auge wanderte unruhig von Einem zum Andern – es konnte den ruhig steten Blick des Barons nicht ertragen und blieb zuletzt flehend an Ingeborg hängen. Sie drückte das Gesicht in deren Schooß, als fühle sie instinctiv, daß gerade Jene, die in moralischer Reinheit hoch über ihr stand und kein Verständniß für kleinliche Gesinnung haben könne, am ersten Duldung üben werde.

„Ich habe diese Frau geliebt, geliebt mehr als ich sollte, als ich vor meinem Stolz verantworten kann,“ stöhnte der Baron auf; er starrte vor sich hin und preßte beide geballte Hände gegen die Stirn. Ina lag still in Ingeborg's Schooß wie eine überführte Verbrecherin, und mitunter zuckte ihr Oberkörper unter Schluchzen.

„Du hast Ränke gesponnen, so lange ich Dich kenne. Mein Gott, daß mir erst heute die Augen aufgehen!“ hob er wieder kummervoll an. „Du hast den edlen Mann hier“ – er deutete auf mich, ohne daß sie es sehen konnte – „um mich aufgegeben, weil ich Dir mehr –“ seine Hand beschrieb verächtlich einen Rundkreis über das prunkende Gemach hin – „zu bieten hatte, als er.“

Sie schnellte empor.

„Das ist nicht wahr,“ wallte sie auf und blieb aufgerichtet sitzen. „Ich täuschte mich über meine Neigung zu Johannes; er war mir zu schlicht, zu formlos, zu einfach, zu bäuerisch. Vergieb mir, Hans!“ Sie streckte mir bittend die Hand hin, und ich nahm sie frostig und ließ sie wieder fallen. „Der, den ich wirklich geliebt in seiner stolzen Männlichkeit und imposanten Ritterlichkeit, Rochus, das warst Du.“

Spielte das Kätzchen wieder Komödie, wollte sie seinem Zorn die Spitze abbrechen, indem sie seiner Eitelkeit schmeichelte? Wenn dem so war, hatte sie es zu einer künstlerischen Höhe gebracht; denn durch den Ton zitterte ergreifende Wahrheit. Den Baron ließ es kalt; er zuckte nur die Achsel, und seine Lippen umspielte ein verächtliches Lächeln.

„Die Motive Deines damaligen Handelns sind mir übrigens gleichgültig. Ich entdecke darin höchstens den Schlüssel zu dem Räthsel, das Dein Charakter mir heute aufgiebt: Du bist genußsüchtig. Ich habe dieser Leidenschaft, die bei Deiner Jugend und Schönheit ja entschuldbar ist, nichts in den Weg gestellt; Du kannst nicht sagen, daß ich den Freuden Deines jugendlichen Alters im Wege gestanden. Lächelnd habe ich warnende Freunde abgewiesen. 'Eine Maltiz-Bassowitz mag tändeln, spielen,flattern, [578] aber sie vergißt sich nicht,' sagte ich mir. Das feste Gebäude des Zutrauens hast Du jetzt erschüttert. Ich habe den Glauben an Deine Wahrhaftigkeit verloren; Alles läuft verworren durch einander. Kann ich noch wissen, wo die Grenze war vom Spiel zum –“ Er brach kurz ab. „Du bist falsch. Ich kann mit Dir nicht länger eine Luft athmen.“

Eine Weile herrschte dumpfes Schweigen. Der Baron hatte das Gesicht zwischen den Händen begraben. Grenzenloses Mitleid sprach aus Ingeborg's Augen, welche auf die im Weinkrampf sich windende Frau herabsahen; dann schaute sie mich groß und klar an, und in ihrem Blick schien mir eine Aufforderung zu liegen. Selbst gegen das strenge Urtheil zu appelliren, wagte sie wohl bei ihrer Kenntniß vom Charakter des unbeugsamen Mannes nicht.

„Herr Baron, Sie haben mich selbst zum Anwalt dieser Frau bestellt,“ begann ich, „erlauben Sie mir nun den Einwurf, daß man ungehört selbst keinen Verbrecher verdammt! Geben Sie der Baronin Gelegenheit, sich zu vertheidigen! Noch weiß übrigens Keiner von uns, wessen Sie dieselbe anklagen.“

Der Baron war auf einem Sessel zusammengesunken.

„Kommen wir zu Ende!“ sagte er, sich aufraffend. „Wie ich über die Treue meines Weibes denke, darüber will ich heute nichts sagen, aber etwas Anderes muß hier zur Sprache kommen. Die Baronin kannte von jeher meine Standesvorurtheile; sie wußte, daß es mir in's Fleisch schneiden hieße, gegen dieselben sich aufzurichten. Ob ich Recht oder Unrecht darin habe, gehört nicht hierher. Genug, sie hat systematisch die beiden jungen Menschen, meinen Sohn Malte und die Tochter des Küsters, in jeder Weise heimlich in ihren Liebesplänen unterstützt; o, glauben Sie nicht: aus Liebe! diese Frau liebt nur sich selbst – nicht aus Schwäche: sie kann stahlhart sein, wenn sie ihre Interessen dadurch geschützt sieht – sondern aus eigennütziger Berechnung. Natürlich hat sie mit dem künftigen Herrn auf Eichenhof sich in ein günstiges Verhältniß stellen wollen – dies um so mehr, als meine vollsaftige Constitution einen schnellen Tod nicht unwahrscheinlich macht. Wie konnte sie ihren Zweck besser erreichen, als indem sie Malte's Neigung zu der Küstertochter schmeichelte? Sie ahnte nicht, daß mein Testament, das meine Vettern unabhängig stellte, längst bei dem Gerichte deponirt war. Ich hatte sie in dieser Unkenntniß absichtlich erhalten, um das Verhältniß zu dem Stiefsohne freundlich zu gestalten, so lange ich zwischen diesen Beiden, die mir gleich an's Herz gewachsen, stand. Es hätte mir auffallen können, daß zwischen meinem sanften, stillen Knaben, der bis dahin wenig Sympathie, nur kühle Höflichkeit für seine Stiefmutter gehabt, und dieser bald nach seiner Rückkehr in den Ferien sich eine sonderbare Intimität, ein Flüstern und Zischeln bemerklich machte; es hätte mir auffallen müssen daß – wenn mein Vertrauen mich nicht mit Blindheit geschlagen – es gerade die Küsterstochter war, die meine Frau zu einem Mittelding von Gesellschafterin und Zofe hierher aus der Universitätsstadt berief, wo Malte studirte und wo das Mädchen bei ihrem Onkel, einem Gymnasiallehrer, erzogen wurde. Den großen, verwunderten Augen Ingeborg's hätte ich's anmerken können, daß hier nicht Alles mit rechten Dingen zuging, als das nette, bildsaubere und schüchterne Kind hier einzog.

Frau Baronin hat das Turteltaubenpaar unter ihre Fittige genommen. Um Allem die Krone aufzusetzen, hat Frau von Bassowitz einen armen Pfarrer zu bewegen gesucht, die jungen Menschen heimlich zusammenzugeben. Der Diener des Herrn hat aber Festigkeit genug gehabt, den verlockenden Versprechungen des gewissenlosen Weibes zu widerstehen. Sein ihr gegebenes Wort sicherte ihr Stillschweigen, und gleiches war ihr durch Malte zugesichert. Keiner aber hat Leonore die Lippen versiegelt, und diese hat gesprochen.

Niemals hätte ohne die Ermuthigungen, den Zuspruch meiner Frau mein Sohn den Muth gewonnen zu so heimlichem Treiben, niemals die Kraft gehabt, eigenmächtig über sein Leben zu entscheiden. Wir Bassowitz sind seit Generationen in strengem Gehorsam gegen den Willen des Familienoberhauptes erzogen; wer regieren will, muß zuerst gehorchen lernen. Niemand hat sich je gegen denselben aufzulehnen gewagt; mein sinniger Knabe hätte es am wenigsten vermocht, wenn er durch fremde Einflüsterung nicht dazu aufgestachelt worden wäre. Und wäre es noch offen und ehrlich geschehen im redlichen Kampfe – es hätte eine verwandte Saite in mir bewegt.

Aber die infernale Gewandtheit dieser Frau hatte den Bogen zu straff gespannt. Der junge Leu, der Blut geleckt, wollte nun durchaus auch die vorgehaltene Beute, und mit der Halsstarrigkeit, die unserm Geschlechte eigen ist, verfolgte er sein Ziel. Die Baronin Bassowitz versprach ihm einst die kleine Lore zum Weibe; nun konnte sie sehen, wie sie ihr Wort hielt. Es ging ihr wie dem Zauberlehrling, welcher der Geister nicht Herr werden kann, die er beschworen, und ich bereitete ihr die Unbequemlichkeit, ein zäheres Leben zu haben, als sie erwartet.“

Ina ächzte mehrere Mal auf. Ingeborg suchte Fürsprache für sie einzulegen: sie sei ohne jeden veredelnden Einfluß groß geworden; nur ein Naturtrieb, derjenige der Selbsterhaltung, sei in ihr erstarkt; man müsse – der düsterlohende Blick des Schloßherrn ließ Ingeborg verstummen.

„Dann hätten Jene in ihren Theorien Recht,“ unterbrach er sie, „die da behaupten, daß der Mensch von Hause aus ein blutgieriges Raubthier sei, über dessen zügellose Leidenschaften nur die fortschreitende Cultur den Firniß verfeinerter Sitte breite. Die Gnädige ließ sich einen Additionsfehler zu Schulden kommen, indem sie in die Summa ihres Thuns nicht das Ungestüm eines zwanzigjährigen Herzens hineinrechnete. Die Verhältnisse spitzten sich zu der Katastrophe zu, die meinem armen Malte beinahe das Leben gekostet hätte. Daß ich es kurz mache: mein Sohn erklärte seinen unerschütterlichen Entschluß, mit seiner heimlich Verlobten nach Amerika zu entfliehen, und betrieb alle Reisevorbereitungen. Das war für die Baronin Bassowitz ein Strich durch die Rechnung. Sie kannte mich genug, um zu wissen, daß ich meinem einzigen Sohn das nie vergeben, daß ich ihn erbarmungslos enterben würde, und wußte, daß mein Besitzthum dann an einen entfernten Agnaten übergehen werde.

Als vor einigen Tagen Malte und ich einen Gutsnachbar besuchten und Ingeborg bei einer Freundin war, benutzte die Baronin unsere Abwesenheit, um Lore zu zwingen, sich zu dem Oheim zurück in die Stadt zu begeben. Das eingeschüchterte Mädchen mußte sich wohl oder übel fügen, aber noch in derselben Nacht, von böser Ahnung getrieben, entfloh sie aus des Oheims Hause und kam halb todt vor Mattigkeit und Erschöpfung bei ihrem alten Vater gestern Abend hier an.

Nun geschah das Letzte; der Schlußact dieses teuflischen Intriguenspiels begann. Zwei Briefe mit gut verstellter, aber mir und auch ihm jetzt völlig erkenntlicher Handschrift langten für Malte und mich hier an: mich ermahnte der anonyme Freund, auf meinen Sohn wohl Acht zu haben, mir seine Pläne alle verrathend. Der Brief an Malte lautete ungefähr:

'Ich fliehe vor Dir, Malte, und bitte Dich, mir nicht zu folgen. Ein braver, achtbaren Mann bietet mir hier eine ruhige, gesicherte Zukunft. Ich ziehe das friedliche Leben und meine Gewissensruhe schon deshalb dem ungewissen Schicksal an Deiner Seite vor, weil wir dadurch unsere Väter nicht zu Tode betrüben. Du kennst meine Zaghaftigkeit; ich bin zu Kampf und Streit nicht geboren. Vergieb mir, wenn Du kannst, und werde glücklich! Meine Tante schreibt diese Zeilen für mich; ich bin zu gebrochen und unglücklich – ich verbiete Dir aber, mich wiederzusehen.'

Die Anstifterin von alle dem, mein Weib, spielte mir und meinem Sohne gegenüber die Rolle der besänftigenden Friedensstifterin und der theilnahmevollen Trösterin und stellte sich in's Licht reinster Unschuld.

Herr Professor – Ingeborg: das Uebrige kennt Ihr. Meinen armen, von seiner Kindheit an schwächlichen Sohn hatte dieser Schlag aus heiterem Himmel niedergestreckt. Er wand sich in furchtbaren Krämpfen bis zum Abend; dann kam die Todesstarre, die wir für den Tod selber hielten. Den unheilstiftenden Brief hatte jene Frau da zu sich stecken wollen. Ich weiß nicht, welch instinctives Gefühl mich trieb, ihn ihr fortzunehmen und in meine Brusttasche zu stecken – genug, ich habe den Brief. Dem schärfer prüfenden Auge trägt er die Grundzüge und charakteristischen Merkmale der Handschrift der Baronin Ina von Bassowitz. Was hat die Baronin darauf zu antworten?“

Emporgeschnellt wie durch Federkraft, beide Arme vor sich hinstreckend, rief sie leidenschaftlich:

„Daß ich Dich liebe! liebe! liebe!“

„Du hast eine Zukunft,“ sagte der Baron kalt, „– die Bühne ist Deine Zukunft.“

„O!“ stöhnte sie und griff nach den Schläfen, als hätte sie einen Schlag in's Gesicht bekommen.

[579] „Was war das Motiv aller Deiner Handlungen?“

Sie strich, wie sich besinnend, über sich selber nachdenkend, die schweren dunklen Haarmassen von der feuchten Stirn. Angstvoll, hülfesuchend, blickte sie von Einem zum Andern.

„Was war die Ursache?“ fragte er noch strenger.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte sie, „vielleicht – Langeweile.“

Wir sahen uns Alle entsetzt an. Dieses frivole, frevle Spiel mit Menschenglück, Menschenfrieden, Menschenleben – aus Langerweile!

Dem nutzlosen Leben der vornehmen Frau fehlte der Segen der Arbeit, fehlte ein höheres Streben, ein höheres Interesse, als das an der kleinen Welt der Gefallsucht und des Müßigganges.

„Ich kann nicht mit Dir leben, Ina!“ rang es sich von den Lippen des Barons.

Ina schleppte sich auf den Knieen zu ihm, umklammerte angstvoll seine Füße, suchte mit den Lippen seine widerstrebenden Hände.

Er riß sie eine Secunde empor in seine Arme, trug sie wie ein kleines Kind unter die Ampel, hielt sie hoch unter das Licht und blickte ihr in die verstörten Züge, als wolle er sie sich einprägen für Zeit und Ewigkeit. Tief seufzend ließ er sie dann herabgleiten. Es muß ein schweres, unsagbar schweres Kämpfen in ihm gewesen sein; denn seine Stimme war tonlos, als er niedergeschlagen sagte:

„Geh mit Gott, Ina – für Deine Zukunft werde ich sorgen! Mein Wappen trägt den Wahlspruch ‚Veritas‘ nicht selber darf ich ihn zerbrechen, und eine Freifrau von Bassowitz darf unser Motto nicht mit Füßen treten. Geh, mein Kind!“ sprach er noch leiser, noch milder und weicher, „Gott …“

Er schluchzte auf. Seine Hand streckte sich wie segnend nach ihrem Scheitel aus; dann drohte das Gefühl ihn zu übermannen. Er eilte hinaus. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.

Ina lag besinnungslos am Boden, und wie der Engel der Barmherzigkeit kniete neben ihr, angstvoll über sie hingebeugt, meine Ingeborg.




Wie sind die Jahre leise, lautlos an uns vorübergeglitten! Fünf oder sechs? Meine Ingeborg versichert mir eben, daß es deren sieben sind. Wahrhaftig, sieben Jahre!

Unsere Ehe war nicht kinderlos – ach, unsere kleine goldhaarige Ingeborg riß uns der Tod plötzlich vom Herzen. Mich mit festem Gottesvertrauen aufrichtend, ruhig gefaßt, stand in der dunklen Stunde diejenige hoch über mir, die innerlich tausendmal gebrochener sein mußte als ich; denn eine Mutter verliert tausendmal mehr an dem in allen Fasern mit ihr verwachsenen Kinde, als der Mann, der mitten im Leben und mitten in der Arbeit steht.

Ingeborg ist Licht geworden meinen lichtlosen Augen; für mich hat sie gesehen, als ich beinahe erblindet war. Sie ist die Hand geworden, die dem Gedanken erst Dasein gab. Sie hat mir, im regen geistigen Verständniß für Alles, was draußen in der Welt sonst an mir vorübergegangen, in das dunkle Krankenzimmer eine Auslese des Besten getragen; körperlich und geistig hat sie mich gestützt während der langen Monde des Siechthums. Mir die Gedanken von den Augen lesend, mich errathend, ist sie jedem Wunsche zuvorgekommen. Ein wackerer Camerad, ein treues Weib ist sie mir in diesen dunklen Prüfungstagen gewesen, in denen ich das Opfer meiner Berufspflichten das Opfer ansteckender Krankheit geworden, die alle meine Lebenskräfte niederstreckte.

Beruhigend, wie der glatte Meeresspiegel, liegt das Wesen meines Weibes vor mir da; tief, wie in die durchsichtige, klare Fluth, blicke ich durch die ernsten Augen in dieses reiche, von einem unerschöpflichen Liebesborn erfüllte Gemüth einer nordischen Frau. Frisch, kühl, erquickend, wie die Meeresbrise, weht es aus ihrem ganzen Sein mich an, und jeder Gedanke Ingeborg's ist Kraft, Wahrheit, jedes ihrer Worte stolze Offenheit. Aber Heimweh zieht sie doch alle Jahre dem Meere zu. Bei dem jungen Malte Bassowitz und seinem braven Weibe haben wir oft genug unser Zelt aufgeschlagen, und immer war es ein gar trautes Heimwesen, das uns bei den lieben Menschen umfing. Dem alten Bassowitz ist kaum Zeit gelassen worden, mit mir zusammen den ersten Enkel über die Taufe zu halten und an dem Glück seiner Kinder sich zu erfreuen; er wurde ungewarnt und schmerzlos plötzlich aus dem Leben gerufen. Er hat die Beruhigung mit in's Grab nehmen dürfen, daß der schwächliche Junker ein Bassowitz aus echtem Schrot und Korn geworden ist; Lore ist in dem stillen Eichenhof völlig an ihrem Platz mit ihrer holden Demuth und mädchenhaften Bescheidenheit.

Von Ina hatten wir, nachdem sie mit mir Eichenhof verließ und nach Italien ging, lange nichts mehr gehört oder doch nur Schwankendes durch die ungewisse Fama. Man wollte sie öfters in den Spielsälen der rheinischen Bäder in auffallender Toilette mit einem wahnsinnig pointirenden, verlebt und wüst aussehenden Manne in hochmodischer Kleidung gesehen haben.

Während eines Tages heftige Aequinoctialstürme als Vorboten des anrückenden Herbstes unser stilles Haus im Stadtpark umtosten, klingelte es schwach an der Hausthür.

Wer konnte es sein? Meine Freunde und Collegen respectirten sonst diese Abendstunde, die einzig und allein meiner Frau gehörte. Niemand sprach um diese Tageszeit bei uns ein, während wir plaudernd, berathend am behaglichen Theetisch saßen. Das Klingeln wiederholte sich leise, und zugleich glaubten wir eine Droschke von unserer Gartenthür fortrollen zu hören. Die im Winde heftig rauschenden Bäume übertäubten jedes andere Geräusch.

„Es wird der Briefträger sein,“ meinte ich. „Bei dem Hundewetter käme doch Keiner sonst zu uns heraus.“

In demselben Augenblick ging die Thür auf, und es wurde gemeldet, daß eine Frau mit einem Kinde draußen warte, die den Herrn Professor zu sprechen wünsche.

Ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen lief einer wankenden Gestalt vorauf, die zögernd hinter dem einen Flügel stehen blieb. Die Kleine ging zutraulich auf unsern behaglichen Tisch zu und streckte Ingeborg ein fettes Grübchenhändchen entgegen. Die lachenden braunen Aurikelaugen gingen neugierig im Kreise umher, und das wunderliebliche Kindergesicht umtanzten die langen, goldblonden Locken unter dem wollenen Shawl, der ihr um den Kopf gewickelt war. Das Kind war dürftig, aber bunt, wie in Theaterplunder, gekleidet; der strahlenden Schönheit, der angeborenen Vornehmheit des kleinen Dinges hatten die bunten Lumpen aber keinen Abbruch thun können.

Mit einem entzückten: „O das liebe Kind!“ hatte meine Frau die reizende Kleine hochgehoben, geküßt und an den leckern Theetisch vor eine Schüssel mit Biscuit gesetzt. Man sah den leuchtenden Augen an, daß es ungewohnte Herrlichkeiten waren, die sich ihnen hier boten. Fröhlich bissen die kleinen Zähne in das Gebäck. Wir hatten der Fremden in unserer Freude über das holde Kind beinahe vergessen.

„Mama – wo ist Mama?“ rief das Mädchen. „Mama, ich hebe für Dich drei Kuchen auf,“ jubelte sie und packte ungenirt in die Kleidertasche, was hinein wollte.

Von der Thür kam ein seltsamer Laut. Weinte die Fremde oder war es Freude? Ein ehemals schwarzer, vom Tragen grau gewordener Schleier bedeckte ihr das Gesicht; noch dünner, noch ärmlicher war sie gekleidet, als das Kind, dem sie wahrscheinlich das Beste gegeben, was sie noch hatte. Die Gestalt zitterte vor Kälte. Meine Frau bat sie freundlich und gütevoll, hereinzukommen und hinter sich die Thür nach dem zugigen Flur zu schließen, und als sie sich noch immer nicht vom Platze regte, ging ich ihr entgegen, weil ich das seltsame Gebahren für übertriebene Schüchternheit hielt. Dann aber überzeugte ich mich, daß es Schwäche war, was sie zögern ließ; denn als ihre Hand die Stütze der Thürklinke verließ und sie einen Schritt vorwärts that, taumelte sie wie ein Trunkner.

Am Tische ließen wir sie in einen Armsessel nieder, und meine sorglich um die Aermste beschäftigte Frau wärmte in ihren weißen Händen die erstarrten mageren Finger der Kranken und nahm ihr vom Gesicht den Schleier fort.

Herr des Himmels! Ina! Erschrocken blickte das Kind von Einem zum Andern und stellte, vom Stuhle herabkriechend, sein zartes Figürchen wie eine Schutzmauer vor der Mutter auf. Um Ina's farblosen Mund schwebte ein schmerzliches Lächeln.

„Nun kann ich sterben, meine Ingeborg, bei Euch sterben – Du Johannes und jene Gute da, Ihr werdet meinem Kinde – es heißt ja auch Ingeborg – Vater und Mutter sein,“ sagte sie mühsam, mit halbgeschlossenen Augen. Welch furchtbare Verheerungen hatten Zeit und Unglück in diesem einst so schönen Geschöpfe angerichtet! In den langen, bangen Stunden der Nacht des Wiedersehens hat sie uns bruchstückweise, in abgerissenen Lauten ihre Erlebnisse erzählt, eine traurige, ach so traurige [580] Geschichte, in welcher Verhängniß und eigene Schuld sich zu tragischem Schlusse zusammenwebten.

Eine Zeitlang lebte sie – wir erfuhren es mit Theilnahme – durch ihre erschütterte Gesundheit gezwungen, in Monaco; dort hatte sich ihr ein Vetter, Bodo von Maltiz, der früher um sie geworben und inzwischen sein väterliches Erbe verschwendet hatte, nach zufälliger Begegnung angeschlossen, glühende Liebe ihr heuchelnd, weil sie inzwischen eine nicht mittellose Wittwe geworden.

„Ich war so allein, so verlassen, und ich wurde Bodo's Weib,“ klagte sie, und ihre Augen sahen uns so kindlich flehend, so hülflos aus dem magern Gesichte an, wie einst aus Ina Maltiz' lachendem Kinderantlitz, wenn sie von ihrem Hans diesen oder jenen Dienst forderte. Alles was sie besaß, hatte Bodo Maltiz dann seiner unseligen Spielleidenschaft hingeopfert. Ina's Hände sahen aus, als hätten sie Arbeit, rauhe, harte Arbeit kennen gelernt. Arme, verwöhnte, zarte kleine Hände, die Rochus Bassowitz einst ritterlich an seine Lippen führte, war das euer Schicksal? „Rochus!“ klang es durch das stille Zimmer, und als Ina nach wenigen Tagen in meinen Armen ihre müde Seele aushauchte, da klang es noch einmal durch das Sterbezimmer:

„Rochus!“ – –

Sie hat ihn doch geliebt, ihn allein.

„Thalatta. Thalatta! sei mir gegrüßt, Du ewiges Meer! Ich jauchze Dir zu.“ Wie ein Märchenwunder liegt es vor uns, das uralte Element, am Morgen der heiligen Weihnacht. Wir sind nicht länger arm unter den Reichen; in den jubelnden Kindersegen auf Eichenhof tragen wir glücklich unseren eigenen Schatz, unsere liebliche kleine Ingeborg. Meine Ingeborg, meine meergeschenkte Perle, halte ich stillbeglückt und dankbar am Herzen, während wir vom Fenster aus auf das Wunder des jungen Morgens, auf das leuchtend als blutrothe Kugel hinter dem Meeresrande auftauchende Tagesgestirn blicken, das seine Strahlen bald über die krystallisirten Baumäste der Eichen gießen wird.

Gefesselt liegen Woge und Wind, und unter dem Winterschlafe ruht neues erwachendes Leben; so ruhen auch die Stürme in unserm Leben, und hoffnungsvoll blicken wir nieder auf das blühende junge Dasein, das zärtlich seine Hände in die unsern legt. –

O Sonne, stehe still! – Ihr Parzen, haltet den Faden an!

Das Meer ist still – die Stürme schlafen,
Der Himmel ist so sternenklar;
Am Anker ruht im sichern Hafen
Das Schiff geborgen vor Gefahr.
So laß auch mich nach Kampf und Schmerzen
An Deiner Brust vor Anker gehn
Und, blick' ich auf von Deinem Herzen,
Den Himmel Dir im Auge sehn!“

Ich flüstere innig Sturm’s[WS 1] schöne Worte meiner Ingeborg zu. Meines Weibes Herz ruht an meinem Herzen; inbrünstig umschlingen meine Arme ihre geliebte Gestalt. So blicken wir lange hinaus auf das heilige Meer.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Storm’s