Am Scheideweg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Am Scheideweg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 183–184
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Der Widerstand gegen das preußische Volksschulgesetz
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[183]

Am Scheideweg.

Ein Wort zum Kampf um die Volksschule.


Eine tiefe Bewegung geht durch das deutsche Volk, in Schlesien wie am Rhein, von der Ostsee bis herab zum Süden wird in mächtigen Versammlungen das Bewußtsein kund, daß der Entwurf zu einem neuen Volksschulgesetz, den der preußische Kultusminister beim Landtag eingebracht hat, nicht Gesetz werden dürfe, daß es sich beim Widerstand gegen diese Vorlage nicht um die verletzten Grundsätze einer politischen Partei, auch nicht bloß um eine innere Angelegenheit Preußens handle, daß hier vielmehr das höchste Gut der Freiheit, die Freiheit des Gewissens und der eigenen Ueberzeugung in dem führenden Staate Deutschländs bedroht und damit das ganze Vaterland vor eine dringende Gefahr gestellt sei. Wenige Wochen haben genügt, um diese Bewegung überall hinzutragen, wo man nicht schmälern lassen will, was die letzten vier Jahrhunderte an Freiheit des Denkens gebracht haben, wo man fühlt, mit einer freien Entwicklung der Volksschule hänge der freie Gang des Volkslebens durch tausend Fäden zusammen und das Volk sei es, welches seine Schule schützen, ihr, die vom Volke den Namen trägt, auch den Geist des deutschen Volkes, den Geist der Duldung retten müsse. Allenthalben kommt man zu der Gewißheit, daß man an einem Scheidewege stehe. Hat doch der Urheber des Entwurfes selbst in den Kammerverhandlungen es ausgesprochen, daß sich in diesem Gesetz die Geister scheiden werden, und der Reichskanzler hat das näher erläutert durch das verhängnißvolle Wort: es gelte den Kampf zwischen der Religion und dem Atheismus; damit sind die Gegner des Entwurfs einer gottlosen Weltanschauung beschuldigt. Ueber die Berechtigung eines solchen Vorwurfs zu streiten, dazu ist hier nicht der Ort. Nur das sei angeführt, was Lessing, der Mann der stolzen Wahrheit, einem seiner Gegner antwortete, der ihn mit eben jenem Vorwurf bedachte. „Sagen Sie selbst,“ ruft er voll Entrüstung diesem zu, „wissen Sie infamierendere Beschuldigungen als diese? Wissen Sie Beschuldigungen, die unmittelbarer Haß und Verfolgung nach sich ziehen?“

Und an einen bekannten Vorgang der Geschichte sei erinnert – wohl liegt er um Jahrtausende zurück, aber die Parallele zu dem Worte vom Atheismus trifft darum nicht weniger zu. Als Sokrates in Athen die Jugend um sich sammelte und sie zur Selbsterkenntniß, zum eigenen Denken, zur freien Ueberzeugung anleiten wollte, da stellte man ihn unter die Anklage des Atheismus und gab ihm den Giftbecher zu trinken. Und heute müssen diejenigen, welche die Volksschule nicht binden, der Jugend und ihren Lehrern den Weg zum selbständigen Denken nicht verlegen lassen wollen, Atheisten sein! Freilich, man kann sie nicht vor Gericht stellen und einen Giftbecher giebt man ihnen auch nicht zu trinken. Aber vergiftende Schlagworte fallen und – ja doch, auch mit dem Gericht bleibt der neue Gesetzentwurf in solchen Dingen gar nicht so ferne. Nach ihm sollen Dissidenten, Eltern, die einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft nicht angehören, in Zukunft von der Behörde gezwungen werden können, ihre Kinder dem Religionsunterricht irgend einer Konfession zu überantworten, deren Lehre ihrer eigenen Ueberzeugung widerstreitet – ist das nicht gerichtlicher Gewissenszwang? Lehrer, deren Religionsunterricht nicht ganz dem kirchlichen Ermessen entspricht, die in ihrem Gewissen sich gebunden fühlen, nicht gegen besseres Wissen übertriebene Zumuthungen des Dogmas und kirchlich-politischer Anschauungen schon den Kindern eiuzupslanzen – sie sollen auf Antrag der Kirchenbehördeu von der Ertheilung des Religionsunterrichts ausgeschlossen und dadurch in der Gemeinde, in der sie wirken, in ihrem Amte unmöglich gemacht werden können. Sind die Lehrer auf diese Weise nicht der Willkür preisgegeben, wird es nicht fast immer gelingen, durch Bemängelung des Religionsunterrichts den Lehrer zu schädigen, der sich nur aus politischen oder persönlichen Gründen mißliebig gemacht hat? Werden nicht Aeußerungen, welche die Schulkinder als angeblich vom Lehrer herrührend aus dem Religionsunterricht mit heimbringen, zu Anklagen benutzt und wird nicht dadurch das Denunzieren unter den Schulkindern gezüchtet, ihr Vertrauen zum Lehrer erschüttert oder vernichtet werden? Kurz, die Lehrer sind vor die Wahl gestellt, im gegebenen Falle entweder ihre Existenz preiszugeben oder zu heucheln – ist das nicht ebenfalls eine Form des Gewissenszwangs und zwar von der nachtheiligsten Art? Denn sie muß gerade die selbständigen und kraftvollen Charaktere, also die Besten aus dem Lehrerstande entfernen!

Wen kann es da Wunder nehmen, daß die Bewegung gegen das Gesetz immer weiter um sich greift, Männer aller Parteien umfaßt? Sollen wir still dabeistehen und zusehen, wie man die Volksschulbildung von jetzt an mit Vorbedacht in eine evangelische und katholische auseinanderlegen und damit ihre Einheit zerreißen will; soll wirklich in erster Linie die deutsche Geschichte nur nach konfessionellen Gesichtspunkten gelehrt und dadurch das Bewußtsein geistiger Einheit der Nation, das in einer unparteiischen Geschichtsbetrachtung lebt und durch sie lebendig wird, unterbunden werden. Soll am Ende schon die Unbefangenheit der Jugend durch jene Gegensätze des kirchlichen Lebens vernichtet werden, die für den Erwachsenen noch immer viel zu früh kommen? Sollen etwa unsere Schuljungen in Zukunft, statt sich als „Franzosen“ und „Deutsche“ zu bekämpfen, unter der Parole „evangelisch“ und „katholisch“ ihre Schlachten schlagen? Da muß sich doch regen, wer immer über alle Meinungsunterschiede im einzelnen hinweg das große Ganze im Auge hat, wer die größten Güter des Volks nicht gefährden will in einer Zeit, welche welterschütternde Ereignisse, Kämpfe von unübersehbarer Gewalt vorzubereiten scheint, wo nicht ernst genug alles vermieden werden kann, was geeignet ist, die geistige Kraft unseres Volkes, den inneren Frieden dauernd zu stören!

Warum denn überhaupt diese Gesetzesvorlage? Ist denn das Bestehende auch dann werth, daß es zu Grunde gehe, wenn es seinen Dienst erfüllt, die besten Früchte gezeitigt hat? Die Höhe, auf der die deutsche Volksschule steht, ist errungen worden ohne jene gefährlichen Neuerungen, die jetzt getroffen werden sollen; man hat es oft genug betont, daß der Krieg von 1870/71 mit Hilfe des deutschen Schulmeisters, mit Hilfe unserer Volksbildung gewonnen worden sei - warum also in so grundstürzender Weise die Bedingungen ändern, unter denen das alles erlangt wurde, mögen sie auch nicht überall vollkommen sein?

Aber man sagt, für künftige Kämpfe reiche eben nicht mehr aus, was doch in den alten den Sieg befördert hat; der Reichskanzler hat erklärt, man brauche die Religion als das beste Mittel gegen den Umsturz aller wirthschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, womit wir bedroht werden, und um dieses Mittel umfassender und fruchtbarer zu machen, soll die Freiheit des Gewissens in kirchlichen Zwang gelegt werden. Und das ist es, was das geplante Schulgesetz hineinstellt in einen allgemeinen Zusammenhang, zu einem Symptom unter vielen macht. Die Zeit, sagt man, ist krank, krank daran, „daß der Idealismus uns verloren geht“, krank an wilden Vorschlägen einer Volksbeglückung, die keine ist, und da wird nun dem Patienten eine Zwangskur verordnet, in der Religion das Allheilmittel sein soll. Wo immer ein Schaden aufbricht, da soll Religion staatlich zudiktiert werden, man ruft nach ihr wie sonst nach der Polizei. Und nicht sowohl die Religion selbst hat man dabei im Auge, als vielmehr Zwecke, die ihr fremd sein müssen, den Nutzen, den man aus ihr herauszubringen hofft für den Staat, dem angeblich andere Mittel nicht mehr recht dienlich sein wollen. So sucht man die Religion staatlich aufzudrängen, während sie doch nur als eine frei entstandene Ueberzeugung wirklich nützen könnte; wie man durch eine segensreiche Zwangsversicherung die Leute frei zu machen gesucht hat von der Noth in Unfällen, in Krankheit und Alter, so will man jetzt bei der Religion gegen alle Schäden eine Unfallversicherung für den Staat nehmen und beabsichtigt hier in geistigen, in den innerlichsten Dingen den gleichen Zwang wie dort auf materiellem Gebiet. Das ist eine Uniformierung der Geister, die nur verderblich wirken kann.

Es ist nicht unsere Aufgabe, im Namen der angerufenen Religion zu antworten, aber das darf ausgesprochen werden: gerade diejenigen die es ernst mit ihr meinen, müßten sich die Handlangerdienste verbitten, die sie mit der Religion leisten sollen, gerade sie müßten alle Rücksicht weit abweisen, welche die Religion auf politische Zwecke nehmen soll, da diese nun einmal keine Berechnung irgend welcher Art vertrage und sich also auch nicht als beliebig [184] zu multiplizierende Zahl im großen Einmaleins der Politik mißbrauchen lassen dürfe. Sie müßten den Staat daran erinnern, daß er, wenn er ein christlicher sein wolle, gerade keinerlei Gewissenszwang ausüben dürfe, ja daß dann unendlich viel andere Aufgaben ihm näher liegen würden als eine so zweifelhafte Neuordnung der Volksschule; ob etwa der Staat schon daran gedacht habe, ein christliches Recht zu entwerfen statt des geltenden, wesentlich aus römischen Einflüssen entstandenen, ob er etwa beabsichtige, christliche Grundsätze für das Verhalten der Politik in Frieden und Krieg maßgebend zu machen?

So müßten die berufenen Vertreter der Religion sprechen und sie haben zum Theil ähnlich gesprochen. Wir, die wir nicht ihre Sache zu führen haben, können doch das eine betonen: man wird vergeblich auf dem eingeschlagenen Wege das erstrebte Ziel erreichen wollen, man wird durch religiösen Zwang weder den Idealismus, wo er verloren ging, zurückgewinnen, noch dem Staate eine feste Stütze geben. Denn bloß der kann eine ideale Anschauung haben, der in den Stand gesetzt wird, selber zu suchen und fern von allem, was nach erzwungener Bevormundung aussieht, sich eine freie Ueberzeugung zu bilden; nur der wird ein loyaler Bürger sein und das Bestehende ohne Rückhalt anerkennen, der es als das Rechte zu erkennen vermag. Also freie Bahn, keine Schmälerung dessen, was wir an Gewissensfreiheit haben!

Gewiß, wenn jeder in letzter Linie auf die eigene Ueberzeugung verwiesen wird, so können auch Irrungen und Verwirrungen nicht ausbleiben. Aber dem wehrt man nicht durch die Entziehung der Freiheit, sondern dadurch, daß man auf ihrer Grundlage zu belehren und zu überzeugen sucht. Wie thöricht wäre es, einen Knaben deshalb wieder ans Gängelband binden zu wollen, weil er hie und da noch fällt – man lehre ihn, auf sich selber achten und er geht ungefährdet auf eigenen Füßen.

Gerade darum aber, weil man so deutlich eine falsche Straße gewählt hat, wird das geplante Schulgesetz keinen Bestand haben, auch wenn es siegt. Es giebt Siege, die besser nicht erfochten würden, weil sie die Nothwendigkeit eines Rückschlages in sich selber tragen. Der Strom der Völkerentwicklung wie der Völkerwanderung geht der Sonne, dem Lichte nach, und wer gegen diesen Strom schwimmen und seine Fluth ins Dunkel zurückdämmen möchte, der erlahmt nothwendig vor der stärkeren Gewalt. Jenes Gesetz, jene ganze Geistesrichtung, von der es nur ein einzelnes Symptom ist, sie werden nicht bestehen können, selbst wenn sie siegen. Und noch ist es nicht soweit, noch ist die Bewegung zur Abwehr im Wachsen. Mag man immerhin diese Bewegung eine künstliche nennen und die Geister des Widerstandes, die man doch selbst beschwor, nicht kennen wollen, mag man mit Schlagworten freigebig sein und eintheilen nach Christ und Atheist, nach rechts und links – durch Worte schafft man Thatsachen nicht aus der Welt und kann die klare Sachlage höchstens auf Augenblicke verwirren. Wie man jüngst das Ansinnen gestellt hat, gegen die Lehrfreiheit der Universitäten einzuschreiten, so soll nun im gleichen Geiste gegen die Volksschule vorgegangen werden; an Wurzel und Wipfel des Baumes deutscher Bildung will man die Axt legen. Allein der Schlag soll nicht gelingen. Was wir von unsern Vätern ererbt haben, die Freiheit des Denkens und der Ueberzeugung, die Einheit unserer Volksbildung, das müssen wir erwerben, indem wir es vertheidigen, das müssen wir weitergeben an die kommenden Geschlechter, unverfälscht und unverkümmert.

Wir stehen am Scheidewege: je entschlossener wir dem Ziele freier Wahrheit nachgehen, desto eher ist Aussicht, daß das Gesetz falle und zum besten des Vaterlandes eine wirkliche Scheidung, ein tieferer Kampf der Geister vermieden werde. Es sind nicht die Schlechtesten, die da in die Reihen treten für die innere Freiheit, Lessings Gestalt steht unter ihnen und mag sie mahnen mit dem Worte, das ihm ein Mann von gut deutscher Art in den Mund gelegt hat:

 „Ich stand allein, ihr seid vereint.
Da nehmt dies Schwert von mir, sein Nam’ ist Wahrheit!
Gradaus wie ich, haut durch und schaffet Klarheit!"