Am St. Leonhardstag in Tölz
[771] Am St. Leonhardstag in Tölz. (Zu dem Bilde S. 744 und 745.) Uralt heilige Bräuche aus sagenhafter Vorzeit leben auf, wenn sich am 6. November in Tölz die Bauern der Landschaft zu ihrer berühmten Wagenprozession auf den Kalvarienberg vereinigen. Den alten Germanen schon war die Höhe ein heiliger Berg; an die Stelle der Opferstätte, auf welcher man seinen Besitz an Rossen und Herden dem Schutze Wotans empfahl, ist die Kapelle getreten, in welcher nun auch schon seit unvordenklicher Zeit Sankt Leonhard als Schutzpatron von Pferd und Rind verehrt wird. Naive Religiosität in inniger Mischung mit weltlichem Behagen giebt diesem kirchlichen Fest einen ganz besonders anziehenden Reiz. Es ist eine reiche fruchtbare Gegend dort oben in dem bayrischen Alpenvorland an den Ufern der Isar, mit stattlichen Gehöften. Und der Vollbauer, der mit den vier besten seiner Gäule seinen altehrwürdigen Leonhardswagen bespannt, welcher nur an diesem Tag in Gebrauch kommt, legt für die Fahrt nicht nur seinen Sonntagsstaat an, er steckt auch manch harten Silberthaler in den Beutel; denn es ist ihm eine Ehrenpflicht, nach der Rückkehr von der Fahrt sein Gesinde reichlich zu bewirten. Mit feierlichem Ernst besteigen in der Frühe die Dirndln, mit ihrem besten Schmuck über dem seidenen Fürtuch, den Wagen; aber nach dem Gottesdienst wandelt sich der Leonhardstag für alle in fröhliche Lustbarkeit, und bei dem Tanz, der das Fest krönt, gelangt so mancher stille Herzenswunsch zur Erfüllung, an welche früher oder später sich wohl gar eine Hochzeit schließt.
So ein Leonhardswagen, wenn er zur Fahrt bereit steht, ist an sich schon eine Sehenswürdigkeit. Die Längswände der festgefügten „Truhe“ sind schön bemalt; auf dem hellblauen Grund sieht man Scenen aus dem Leben des Landmanns und Heiligenbilder, von gereimten Sprüchen umgeben. Wie die reichgeschirrten Pferde an Schopf und Mähne mit Zweigen und Bändern geschmückt sind, so ist auch der Wagen rings mit frischem Grün besteckt und mit Blumengewinden umhangen. Auf mancher „Truhe“ finden sich kunstreiche Nachbildungen von Kapellen oder dem Kalvarienberg. Mit leuchtenden Farben aber belebt sich der Wagen, wenn die Frauen und Mädchen in ihren kleidsamen Trachten ihre Plätze einnehmen. Die Burschen kommen auf ein Trittbrett am Ende des Wagens zu stehen oder geben diesem zu Pferd das Geleit. Die Führung übernimmt der Hofbauer selbst; er lenkt vom Sattelgaul aus seine Rosse. In der Hauptstraße von Tölz treffen sich die Wagen und ordnen sich zum Zuge. Ein Herold mit Banner reitet voraus, dem die Kaleschen der Geistlichkeit und des Magistrats folgen. Während der Priester vor der St. Leonhardskapelle den Segen spendet, fährt ein Wagen nach dem anderen an ihm vorüber. Die Zahl derselben beläuft sich bis auf siebzig. Diese Einsegnung wird von allen Beteiligten mit Gesängen und Gebeten begleitet. Ist das sich daranschließende Hochamt vorüber, so beginnt ein allgemeines Begrüßen. Auf dem Platz vor der Kirche, wo die Wagen jetzt halten, stehen Buden mit Erfrischungen. Die Flaschen kreisen unter den Männern; alt und jung trinkt sich zu. Dann geht’s unter heiteren Gesprächen und lustigem Peitschengeknall hinunter nach Tölz, wo die Wirtshäuser in festlichem Schmuck der Gäste harren. Schnell füllen sich die Räume, und oft sehen sich die zuletzt Anfahrenden genötigt, zunächst auf dem Wagen zu bleiben und dort den ersten Erfrischungstrunk entgegenzunehmen. Der Leonhardswagen auf dem Bilde von Friedrich Prölß, das unser Holzschnitt auf S. 744 und 745 wiedergiebt, befindet sich in der Einfahrtshalle eines Tölzer Wirtshauses. Das eine der Mädchen, mit dem weißen Adlerflaum auf dem Hut, hat soeben einen frisch gefüllten Maßkrug von einem ihr befreundeten Burschen gereicht bekommen und plaudert vergnügt mit ihm, während die neben ihr stehende Schwester ungeduldig nach ihrem Schatz ausschaut. Die gegenübersitzende Freundin ist noch von andächtiger Stimmung umfangen.