Amerikanische Kirchen und Kanzelredner

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Autor: Theodor Hermann Lange
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Titel: Amerikanische Kirchen und Kanzelredner
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 588–591
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Amerikanische Kirchen und Kanzelredner.

Von Theodor Hermann Lange.


Die Union ist und bleibt nun einmal das classische Land der Gegensätze und eigenartigsten Ueberraschungen. Das in Europa schier Unglaubliche ist in den Vereinigten Staaten oft das Alltägliche und Gebräuchliche. Nichts aber verblüfft den frischen Einwanderer und selbst den weitgereisten Touristen mehr, als das kirchliche Leben, welches jenseit des atlantischen Weltmeeres in einer Weise sich entwickelt hat und in Bahnen sich bewegt, die hier in Deutschland geradezu unverständlich erscheinen müssen. Der Yankee ist bekanntermaßen ausgesprochener Materialist. „Erwirb Geld, wenn Du kannst auf ehrenhafte Weise; wenn Du es nicht kannst – gleichviel, mache Geld!“ Diese Parole hört man tagtäglich aussprechen, sieht man stündlich befolgen. Aber trotzalledem werden in keinem Theile der Welt die Gotteshäuser zahlreicher und gewissenhafter besucht, als gerade in den Vereinigten Staaten, werden nirgends größere Summen für religiöse Zwecke, für Priestergehälter, Kirchenmusiken, Decorationen von Friedhöfen etc. verausgabt, als drüben in der Sternenbanner-Republik. Es ist nicht auffallend, wenn Städte mit einer Bevölkerung von nur 1500 Köpfen acht Kirchen und fünfzehn Geistliche aufzuweisen haben; es überrascht Niemand, wenn beispielsweise Prediger wie Henry Ward Beecher in Brooklyn 25,000 Dollars[1] festes Jahresgehalt beziehen und noch außerdem das Privilegium besitzen, über vier Monate Ferien zu verfügen, um gut bezahlte Vorlesungen in den südlichen und westlichen Staaten und Territorien halten zu können.

Dafür sind aber die amerikanischen Geistlichen in ihrer Existenz keineswegs so gesichert, wie in den europäischen Ländern, da sie überall auf halbjährliche, bezüglich ein- und zweijährige Kündigung angestellt werden. Sind die Predigten langweilig, geistlos, entbehren sie der Satire und des Witzes – nun, so kündigt der Kirchenrath ganz einfach dem Betreffenden und sieht sich nach einer neuen Kraft um. Und es wird ihm selten schwer, den gewünschten Ersatz zu finden, da die amerikanischen Geistlichen sich selbst anzupreisen wissen und die Zeitungsreclame keineswegs verschmähen. In doppelspaltigen Inseraten und in redactionellen Notizen der Sonnabend-Nummern pflegen sie sich und das Thema, über das sie Sonntags zu sprechen gedenken, anzukündigen. – „Gäste sind erbeten und genießen freien Eintritt“, lautet gewöhnlich die Schlußzeile der verlockenden Annonce.

Auch in deutsch-amerikanischen Zeitungen bürgern sich derartige Ankündigungen mehr und mehr ein. Da liest man: „Pastor Franz J. Schneider, ord. Geistlicher, 91 2. Ave., zw. 5. u. 6. Str., vollzieht Trauungen, Taufen in und außer dem Hause.“ Oder: „Billig, billig, billig ist Pastor Walter bei allen Ceremonien. Man spreche vor und überzeuge sich: 105 Delancey-Street etc. etc.“

Durchweg sind die amerikanischen Kirchen stattlich und stilistisch geschmackvoll. Alle Kosten für Neubauten bestreiten die Gemeindemitglieder durch Kirchensteuern, die sie sich selbst freiwillig und zwar nach deutschen Begriffen in einer enormen Höhe auferlegen. Sind dann die Kirchen fertiggestellt, so gewinnt man allerdings durch das Vermiethen der einzelnen Kirchenstühle hohe Summen. In der Plymouthkirche in Brooklyn löste man z. B. im Jahre 1881 48,000 Dollars, im Jahre 1882 42,000 Dollars und 1883 40,000 Dollars aus der Stuhlpacht. Die Versteigerung findet natürlich öffentlich und bei einem Freiconcert statt. In der Trinitykirche in New-York wurde 1879 der erste Stuhl für 2000 Dollars vermiethet.

Im fernen Westen wagen bei Gründung neuer Städte noch häufig Zimmer- oder Maurermeister den Bau eines Gotteshauses ganz auf eigene Gefahr. So kam ich vor zwei Jahren nach Flint in Montana. Der Ort stand erst seit sechs Monaten. Der Redacteur des dortigen Localblattes, das bereits auf eine Existenz von sieben Nummern zurückblicken konnte, theilte mir im Vertrauen mit, daß Flint dazu bestimmt sei, dereinst „die Königin des Westens“ zu werden. „Schon jetzt haben wir,“ fuhr der begeisterte Localpatriot in erhobenem Tone fort, „eine brillant redigirte Zeitung, einen Bahnhof“ – ich glaubte das Wort Grand Central-Depôt zu vernehmen – „zwei Töchterpensionate, einen Galgen, neun Pianinos, ein Gefängniß, elf Lagerbierstuben, einen ältesten Einwohner von 46 Jahren, und dies Alles nach kaum sechsmonatlichem Bestehen, nur die Kirchen fehlen noch . . .“

Aber auch sie kamen, wenigstens die erste, und zwar auf die folgende Weise. Nach Flint zog ein Architekt – diesen Titel hatte sich der Mann gegeben. Ohne irgend welchen Auftrag seitens einer Religionsgemeinschaft baute er ein wirklich schönes Gotteshaus, verschrieb auf seine Kosten einen jungen gewandten Prediger, [590] sowie einen geschulten Organisten, und plötzlich vernahm man an den Sonntagen Glockengeläute, Orgelklang und bekam eine thatsächlich gediegene Predigt zu hören. Der Baumeister hatte ein bedeutendes Capital riskirt, aber seine Berechnungen erwiesen sich als richtig. Der junge Geistliche fesselte zunächst die Besucher, bildete dann aus dem Kreise seiner Anhänger eine Gemeinde, die sich rasch vergrößerte, alsbald officiell constituirte und dem Erbauer die Kirche abkaufte, der sich selbstredend Gebäude wie innere Einrichtung gut bezahlen ließ, um wahrscheinlich in einem anderen westlichen Territorium das gleiche Geschäft noch einmal zu versuchen.

Aber auch in dem civilisirteren Osten experimentiren die Geistlichen mit den seltsamsten Mitteln, um sich einen zahlreichen Anhang und volle Kirchen zu sichern. Im Februar dieses Jahres führte mich mein Weg nach Syrakus, der großen Salzstadt unweit des Ontario-Sees. In der Hauptstraße, der North-Saline-Street, befinden sich drei Gotteshäuser in unmittelbarer Nähe beieinander. Jede der drei Gemeinden, welchen diese Kirchen gehören, ist bestrebt, die höchste Mitgliederzahl zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, verfährt man nicht gerade sehr wählerisch. Einer der drei Geistlichen schlug aber doch dadurch die „Concurrenz“ aus dem Felde, daß er eines Tages den Rabbiner in Syrakus bewog, in der christlichen Kirche eine Predigt über die Person Jesu Christi zu halten, während der Geistliche in der Synagoge über dasselbe Thema vom protestantischen Standpunkte aus predigte. Das ist eben nur in Amerika möglich, aber der Vorfall machte seiner Originalität halber gerechtes Aufsehen weit über den Platz Syrakus hinaus und trug den Namen des geistlichen Arrangeurs durch das ganze Land.

Fast mehr noch als Sänger und Künstler sind die amerikanischen Geistlichen von der Gunst und dem Wohlwollen der Presse abhängig. Nimmt man an einem Montage früh in New-York den „Herald“ oder in Philadelphia den „Public Ledger“ zur Hand, so sind ganze Spalten dieser hervorragendsten Organe der Tagespresse mit Recensionen über die Sonntags stattgehabten Predigten angefüllt, eine durch ganz Amerika verbreitete Sitte, die in vielen deutschen Kreisen nicht sonderlich sympathisch berühren dürfte, an der aber der Yankee nicht das Geringste auszusetzen findet. Das Amt eines Geistlichen ist eben in Amerika ein Geschäft wie jedes andere, und ein sogenannter geistlicher Stand, wie hier bei uns, ist schon der zahlreichen Secten wegen unbekannt. Heute Lehrer oder Redacteur, das nächste Jahr Kaufmann, fünf Jahre später Prediger, das ist nicht selten die Carrière, die der Einzelne durchläuft. Darum ist auch die Vorbildung der amerikanischen protestantischen Geistlichen eine so verschiedene. Der Eine war wohl früher in der alten Heimath, in England oder Deutschland, Theologe, der Andere genoß vielleicht auf einem amerikanischen „College“ und Priesterseminar eine wissenschaftliche Erziehung, aber vielen Geistlichen, besonders denen im Westen, geht die akademische Schulung völlig ab.

Das schließt natürlich nicht aus, daß auf der andern Seite auch Geistliche angestellt sind, die, mit der ganzen Bildung unseres Jahrhunderts bewaffnet, als Philosophen, Historiker und Linguisten des besten Renommée’s genießen. Drei Namen besonders sind es, die in dieser Hinsicht einen Weltruf erlangt haben: Henry Ward Beecher, Thomas Talmage und John Hall, Letzterer in New-York, Erstere in der „Kirchenstadt“ Brooklyn.

Beecher ist der Oberpfarrer an der Plymouthkirche in der Orangestreet. Es ist mir stets ein hoher Genuß gewesen, Sonntags an dem von ihm geleiteten Hauptgottesdienste theilzunehmen. Kurz vor zehn Uhr Morgens füllen sich die zahlreichen Gallerien und Emporen, die über 6000 Personen zu fassen vermögen und die, so oft ich anwesend war, sich stets bis auf den letzten Platz besetzt zeigten. Die Orgel ertönt in weichen Melodien, dann stärker und lauter, bis sie in mächtigen Accorden erbraust. Die Uhr zeigt 15 Minuten nach Zehn. Beecher erscheint auf der ungemein geräumigen Tribüne im schwarzen Gehrocke und ohne jedwedes priesterliche Abzeichen. Trotz seiner 71 Jahre ist er eine stattliche Erscheinung, und nachdem er mit einem flüchtigen Blicke die Menge gestreift, nimmt er auf einem einfachen Rohrstuhle Platz. Auf einem, bisweilen auf zwei und mehr Tischen, denen gegenüber er sich niedergelassen, liegen herrliche Blumenspenden für ihn, die vielfarbigsten, die duftreichsten besonders im Januar und Februar, wo man vor Schnee und Eis nur mit Mühe den Weg zum Gotteshause sich bahnen kann. Zarte Hände brachten sie als Zeichen der Verehrung dar, denn Beecher ist der größte „Damenpastor“ von den Gestaden des atlantischen Oceans bis hinüber zum Pacific.

Jetzt nimmt der Gefeierte das Wort, und wir haben Gelegenheit, ein Organ von seltener Klangfülle bei einer Rhetorik zu hören, die geradezu classisch genannt werden muß. Ob er mit effectvollem Pathos, mit beißender Satire redet, ob er die weiblichen Zuhörer zu Thränen rührt, um zehn Minuten später das herzlichste Lachen auf die Mienen seiner Anhänger zu zaubern, er bleibt stets der große Sprecher trotz gewisser rednerischer Kunststücke, trotzdem er fast unaufhörlich von einem Ende der Tribüne zum andern mit Riesenschritten sich hastig bewegt, die Hände wie die Flügel einer Windmühle hin- und herwirft, um schließlich, nicht selten in Schweiß gebadet, seine Predigt zu beenden. Beecher ist nur in Amerika möglich, und darum erscheint es weiter erklärlich, wenn der unerschrockene Rationalist zugleich als ein ausgesprochener Frauenrechtler und Wasserapostel sich uns präsentirt. Das geflügelte Wort der Anhänger der Frauen-Emancipation: „Ich glaube, daß die Ehe ein vollständiges Compagniegeschäft ist; daß die Frau jedes Recht hat, welches der Mann besitzt – und noch eins mehr nämlich das Recht, beschützt zu werden“ – rührt von Beecher her.

Am 24. Juni 1813 im Staate Connecticut geboren, hatte Beecher ursprünglich die Absicht, sich dem Dienste in der amerikanischen Kriegsmarine zu widmen. Indessen studirte er später fleißig Theologie, Philosophie sowie Naturwissenschaften und wurde 1847 an die Plymouthkirche in Brooklyn berufen. Anfänglich mit 4000 Dollars angestellt, bezieht er gegenwärtig, bedeutende Spesen ausgeschlossen, ein Fixum von 25,000 Dollars. Trotzdem veranstaltet er alljährlich, wie bereits erwähnt, Vortragstouren, die sich stets sehr lohnend für ihn erwiesen haben. Außerdem ist er als Schriftsteller ununterbrochen für zahlreiche Nevuen und Journale thätig. Sein Landhaus am Hudson weist eine geradezu fürstliche Einrichtung auf.

Beecher’s Concurrent ist Thomas de Witte Talmage, der Hauptprediger am Brooklyner Tabernakel. Am 7. Januar 1832 zu Boundbrock im Staate New Jersey geboren, besuchte Talmage das New Yorker Priesterseminar, wurde schon im Jahre 1856 ordinirt, kam 1859 nach Syrakus, 1862 nach Philadelphia und sieben Jahre später nach Brooklyn, wo er noch heute seelsorgerisch thätig ist. Bis 1870 mußte Talmage in einem bescheidenen Gotteshause predigen. Das neue Tabernakel war zu jener Zeit noch nicht gänzlich fertig gestellt, und obendrein lasteten etwa 50,000 Dollars Schulden auf dem der Vollendung nahenden Baue. Diese Summe wurde während eines einzigen Gottesdienstes durch die Initiative von Talmage gedeckt. Kaum hatte er nämlich seine Predigt beendet – Talmage spricht gleich Beecher im schwarzen Leibrocke und in weißer Cravatte – als er einen tiefen „Cylinderhut“ ergriff, eine kurze zündende Ansprache an die Versammelten des Inhalts richtete, das genannte Deficit von rund 50,000 Dollars freundlichst decken zu wollen, und sofort persönlich mit dem Hute in der Hand die Collecte vornahm. Talmage war selbst der erste Geber. Er legte eine Anweisung auf sein vierteljährliches Gehalt hinein, worauf er zu Gunsten des Tabernakels freiwillig verzichtet hatte, und rasch füllte sich seine Kopfbedeckung mit Checks, Diamanten aus zarter Hand, großem und kleinem Papiergelde, Golddollars etc. Nach zwei Stunden konnte der gewandte Sammler mit freudiger Stimme verkünden, daß die Collecte den Betrag von 48,000 Dollars ergeben habe. Die Orgel erbrauste, die Chöre jubilirten, und die stattliche Zahl der Kirchenposaunisten that das Uebrige, um den nöthigen Schlußeffect bei diesem Acte zu erzielen.

Man erbaut sich bei Talmage nicht nur, man amüsirt sich, man lacht auch. In Wortspielen, in derben Witzen ist Talmage unübertrefflich. Ein leibhaftiger transatlantischer Abraham a Santa Clara! Wie Beecher predigt er über alle möglichen Themen. Einmal über amerikanische Ehescheidungen, acht Tage später über die Arbeiterfrage, ein drittes Mal über Kindererziehung, aber stets in geistreicher, zündender Manier. Fast jeder Satz ist ein Gedanke, eine Wahrheit oder eine kühne Hypothese.

Das Tabernakel selbst ähnelt, wie so viele amerikanische Kirchen, im Großen und Ganzen einem Circus oder Theater. Kein Gemälde, nirgends eine Decoration, abgesehen von den kostbaren buntglasigen Fenstern. Vom Schiff aus steigen die [591] Sitzbänke amphitheatralisch empor, und bei der herrlichen Akustik ist jedes Wort von der Rednertribüne auch an den letzten und höchsten Thüren klar und deutlich zu vernehmen.

Mit Beecher und Talmage zusammen wird stets auch John Hall genannt. Hall ist der Prediger der Plutokratie und seine in New-York an der 5. Avenue und 55. Straße gelegene Kirche der Sammelpunkt der hervorragendsten „Monopolisten“, Eisenbahn- und Bergwerks-„Könige“, der Matadore der Börse, der „Fürsten“ des Handels etc. Als vor mehreren Jahren an einem Ostertage zufällig die verschiedensten Mitglieder der Familien Vanderbilt, Jay Gould und anderer im Hall’schen Gotteshause zusammentrafen, berechnete der gleichfalls anwesende Redacteur eines bekannten Finanzblattes, daß „700 Millionen Dollars der Hall’schen Predigt mit Aufmerksamkeit gelauscht hätten“. John Hall ist Schotte von Geburt (er erblickte das Licht der Welt am 31. Juli 1829) und kam erst vor 17 Jahren (1867) nach New-York, wo er sich schnell die Gunst der besten Kreise der Gesellschaft zu erwerben wußte. Seine Predigten, sorgfältig ausgearbeitet und fleißig memorirt, sind in würdigem, ernstem Tone gehalten.

Was deutsche Kanzelredner anbelangt, so verdienen unter ihnen Dr. Walther und Professor Mann in St. Louis (Missouri) in erster Linie Erwähnung. Auch Boston gilt als ein Platz, welcher durch Richard S. Storrs in dieser Hinsicht eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Unter den Methodisten befinden sich bisweilen selbst Predigerinnen. Eine solche, die sich vor einigen Jahren in Long Island City hören ließ, erfreute sich sogar eines ganz besonderen Zuspruches. Bei der farbigen Bevölkerung mangelt es nicht minder an Verkündigerinnen des Wortes Gottes. Miß Henrietta V. Davis, die indessen augenblicklich nur noch dramatische Recitationen und freie Vorträge veranstaltet, wirkte früher längere Zeit an einer der Negerkirchen im Süden, wo noch heutzutage die schwarzen Herren Pastoren mit Hut und Stock auf der Kanzel zu erscheinen pflegen.

Die zahlreicheren kleinen Secten und Congregationen weisen natürlich eine Anzahl mehr oder minder begabter Sprecher und Sprecherinnen auf. Die Atheisten haben in R. G. Ingersoll ihren Apostel, sogar die Chinesen haben in dem bekannten Hee-Sing eine talentvolle rednerische Kraft. Hee-Sing, der zehn oder elf Sprachen geläufig beherrscht, schuf sogar mit dem gegenwärtigen chinesischen Gesandten in New-York, Ah Yung Ming, die „himmlischen Brüderschaften“, eine Art Logen, bez. Unterstützungsgesellschaften, die in New-York, San Francisco und anderen größeren Städten der Union schon viel Gutes unter den bezopften und schlitzäugigen Gesellen des Reiches der Mitte gestiftet haben.

Alle derartigen und ähnlichen Sprecher, sowie die sonstigen Sectenredner überragt aber der jetzige Mormonenpräsident Johannes Taylor in Salt Lake City. Taylor spricht auffallend ruhig, nahezu monoton, er vermeidet Bilder, Phrasen, überhaupt jedweden rhetorischen Aufputz. Und doch begeistert er die Menge, fanatisirt er die Schaaren, die athemlos mit ihren Blicken an seinen Lippen hängen. Es ist die Logik der Thatsachen, die Kunst, Zahlen reden zu lassen, die ihm die Seelen der Menschen in so weitem Maße unterthan machen.

Uebrigens knüpft Taylor gleich seinem Vorgänger Brigham Young stets an das zunächst Liegende in seinen Predigten an. Vor der Erntezeit ertheilt er den neuangekommenen Colonisten praktische Winke von der Kanzel herab, Handwerker und Gewerbtreibende unterrichtet er oft über technische Neuheiten und Fortschritte, kurz seine Reden sind derartig, daß man ihnen in Deutschland das Prädicat „Predigt“ selten beilegen würde. Allerdings steht er damit unter den amerikanischen Theologen nicht allein da. Man will drüben durch eine Predigt nicht nur erbaut, sondern auch angeregt werden. Man wünscht ein klangvolles Organ, eine reine Aussprache, eine glatte angenehme Redeweise, wie nicht minder Belehrung über die großen Fragen, welche sowohl den Einzelnen als auch die Gesammtheit bewegen. Diesen Aufgaben muß ein amerikanischer Prediger in erster Linie gerecht zu werden versuchen, und darum erklärt es sich auch, warum jenseit des Oceans die Kirchen besser als hier besucht werden und gerade diejenigen, welche in der alten europäischen Heimath selten ein Gotteshaus betraten, in der transatlantischen Republik so fleißige Kirchengänger zu werden pflegen.



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