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An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: C. v. R.
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Titel: An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 533, 547
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[533]

An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo.
Nach dem Gemälde von R. de Madrazo.

[547] An dem „Thore des verlorenen Sohnes“ der Kathedrale in Toledo. (Zu dem Bilde S. 533.) Die „Puerta del Niño Perdido“ ist eines der acht Thore, welche in die Kathedrale von Toledo führen. Diese Pforte stammt aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts und bildet einen prächtigen Rahmen zu unserem Bilde. Bis ins einzelne sorgfältig und naturgetreu hat der Maler den mächtigen Thorflügel mit den kunstvoll gearbeiteten Eisennägeln, die steinerne, reichverzierte Umrahmung der inneren Thüre und den mit dem Osterpalmzweig geschmückten Balkon dargestellt.

Gleichgültig schreitet das junge Mädchen an den Bettlern vorbei; es giebt ihrer ja so viele in Toledo, daß es unmöglich wäre, auf alle zu achten. Zudem blicken die dunklen Augen so traumverloren in die Ferne, als weilten die Gedanken der von der Andacht Kommenden weit von hier. Daß wir eine echte Tochter Spaniens vor uns haben, zeigt die schwarze Spitzenmantilla, die glücklicherweise nur in Madrid von dem modernen Hut verdrängt wird. Das reiche Haar beinahe bedeckend, fällt sie in schönen Falten auf Schultern und Rücken herab. Charakteristisch ist die Vereinigung von Rosenkranz, Fächer und Gebetbuch in der linken Hand des jungen Mädchens. Ohne Fächer würde keine Spanierin je das Haus verlassen. Sie bedient sich seiner auf die anmutigste Weise und verwendet ihn sowohl zum Gruß, wie zu einer fein ausgebildeten Zeichensprache, welche der Glückliche, dem sie gilt, wohl zu deuten weiß.

Die Alte, vermutlich die Dienerin, trägt die Mantilla weniger kokett auf dem ergrauten Haar. Von dem großen bunten Shawl wird sie sich auch im Sommer nicht trennen. Wie das schwarze Seidenkleid bei den Damen, ist bei den Frauen der arbeitenden Klasse der wollene Shawl beliebt und gebräuchlich. Das Mütterchen hält einen Feldstuhl im Arm. Die müden Beine erlauben ihm nicht mehr das lange Stehen und Knieen, und Bänke oder Stühle giebt es in den spanischen Kirchen nicht. Mitleidig reicht es der anscheinend blinden Bettlerin ein Geldstück, vielleicht weiß es aus eigener Erfahrung, wie weh der Hunger thut.

In ganz Spanien giebt es wohl keine Kirchenthür, an welcher nicht mehrere Bettler, Blinde, Lahme und Krüppel die Hand ausstrecken. Da heißt’s, Kleingeld und besonders Geduld haben.

Madrazo zeigt uns auf seinem Bilde nicht die Aermsten der Armen, und zeichnet sich hierin vorteilhaft vor vielen seiner Kollegen aus, die mit besonderer Vorliebe das Abstoßende und Schreckliche darstellen. C. v. R.