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Astrachan (Meyer’s Universum)

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CCCLIII. Madrid; die Strasse Alcala Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCLIV. Astrachan
CCCLV. Die Tempel von Mahabalipur in Indien
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ASTRACHAN

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CCCLIV. Astrachan.




„Wie seine Ahnfrau, die scythische Schlangenjungfrau im Hyläerlande, die dem Herkules die Rosse entführte und mit der er dann in der Bergeshöhle die Stammväter des Volkes erzeugte: so vereinigt das russische Reich in sich zwei Naturen. Seines Schlangenleibe eine Hälfte dehnt sich weit über den Norden Asiens bis nach Amerika hinüber, wohl zwanzig Nationen in ihren Ringen fassend, alle verschieden in Sprache, Religion, Sitten und Gesinnung; am Gürtel des Urals aber ist dem Ungethüm die Europäische Hälfte aufgesetzt, die sich fortzieht gegen den Mund der Donau und die Karpathen bis an der Oder Gebiet.

Erst diese Hälfte des Drachen ist ausgebildet; die Asiatische Hälfte erscheint noch fötusartig; noch gleichsam befangen in der Völkerscheide, dem Schooße der Natur erst halb entwunden. Doch wächst und reift und zeitigt es fortwährend an dem Riesen, und indem er immer neue Barbarenstämme unter die wachsenden Ringe aufnimmt und sich aneignet, wirft er im Reiche der Cultur beständig, und führt der Gesittung, trotz der eigenen Rohheit, immer neuen Stoff zur Veredlung herbei.“ –

Südwärts von dem eigentlichen Rußland liegt jenes offene, beinahe ganz ebene, Steppenland, durch welches der größte Strom des Welttheils, die Wolga, wie ein wogendes Meer sich dem Kaspischen Meere zuwälzt. Viele Jahrhunderte hat es den Völkermassen, die sich von der Mongolischen Hochebene in den europäischen West gewälzt, zum Durchzug gedient, deren Nachzügler in unstät umherschweifenden Horden dort noch immer zu finden sind. Die Tartaren stifteten im Mittelalter an der Unterwolga ein Reich – und Astrachan war dessen Hauptstadt. Tartaren und Russen, Mongolen und Slaven kriegten viele Jahre lang um die Oberherrschaft. Die letztern waren lange zinspflichtig den erstern. Endlich kehrte sich das Verhältniß um; die Unterdrückten wurden die Unterdrücker und der ehemalige Vasall, von der Macht unterstützt, welche größere Gesittung giebt, vertrieb die tartarischen Chane aus ihren Reichen. Astrachan ist seitdem Hauptstadt eines russischen Gouvernements. Wenn es dadurch auch im Range herabgestiegen ist, so hat es doch dabei nicht verloren: denn es zählt jetzt beinahe 5000 Häuser und über 50,000 Einwohner, und ist an Bevölkerung, Reichthum und Verkehr die fünfte Stadt des größten Reichs. Nur Petersburg, Moskau, Odessa und Riga sind noch bedeutender.

[74] Astrachan liegt auf einer Insel in der hier mehrere Stunden breiten Wolga, etwa sieben Meilen von deren Mündung in das kaspische Meer. Der Strom ist tief genug, große Seeschiffe zu tragen. Die ganze Gegend rund um ist ödes, unfruchtbares Steppenland, in welchem schwache Nomadenstämme (Kalmücken etc.) ihre Heerden weiden. Aber vermöge der Wolga, die Astrachan mit allen Theilen des Reichs, bis Petersburg und zur Ostsee, in direkte Verbindung bringt, und bei der unglaublichen Wohlfeilheit des Wassertransports ist die Stadt immer mit Lebensmitteln jeder Art im Ueberfluß versehen, und sie sind fast eben so wohlfeil, als an den Orten ihrer Erzeugung. Astrachans Lage für den Handel ist die günstigste im ganzen russischen Staate. Die Wasserverbindungen mit dem Binnenlande beherrschen ein Gebiet von mindestens 60,000 Quadratmeilen, und der Verkehr mit Centralasien (Persien, der freien Tartarei und den östlichen Provinzen der Türkei) mittelst des kaspischen Meeres, der ganz in den Händen des Platzes ist, ist einer nicht zu berechnenden Entwicklung fähig. Er ist schon jetzt sehr groß und erweitert sich alle Jahre. Nach Persien werden von Astrachan vorzüglich einheimische Fabrikate: Juchten, Saffian, Chagrin, Seidenwaaren, baumwollene Zeuche; – sodann wollene Tücher und europäische Manufakturwaaren verschifft, wogegen persische Waaren, rohe Seide, goldgewirkte Gürtel, Teppiche, Reis, Spezereien und Rhabarber zurückkehren. Bukhara bezieht jährlich für mehr als eine Million hiesige und ausländische Fabrikate, und führt dagegen Lämmerfelle, Federn, Seife, Gold- und Silberwirkereien, Corallen, Cochenille etc. ein. Die Kalmücken und Tartaren von Taschkent und Chiva bringen Vieh, Seife, Rhabarber, Moschus und andere kostbare Spezereien her. Ein sehr geräumiger Hafen erleichtert der Stadt die Benutzung ihrer guten Handelslage. Der Wolga-Verkehr wird durch etwa 2000 Barken betrieben, und der des kaspischen Meeres mittelst sogenannter Schuiten und Razschiten, die 100 bis 200 Tonnen tragen. Der Haupthandel ist mit den tartarischen Häfen Balk und Mongischlack; mit den persischen Astrabad und Balfrusch und mit Baku. In den letzten Jahren ist auch die Dampfschifffahrt eingeführt worden, und es existiren jetzt regelmäßige Course zwischen Astrachan und Kasan. Man beabsichtigt, die Fahrten in diesem Jahre bis nach Moskau auszudehnen und seewärts eine geordnete Dampfverbindung mit Astrabad einzurichten. Det gesammte Jahres-Verkehr Astrachan’s auf dem kaspischen Meere summirt ungefähr 4 Millionen Silberrubel.

Fast eben so bedeutend als der Handel ist für Astrachan der Fischfang. Es giebt keinen andern Punkt auf der ganzen Erde, an welchem das Wasser einen so unermeßlichen Reichthum an Produkten den Menschen bietet, als um die Mündung der Wolga. Nirgends ist der Fischfang so ergiebig wie hier, nirgends wird er so in’s Große getrieben, nirgends auch liefert er der Consumtion und dem Handel so werthvolle und so mannigfaltige Gegenstände. Zur Zeit der großen Fischerei, welche im April beginnt, kommen etwa 400 Barken von den benachbarten Küsten hier zusammen, welche die Bevölkerung um 15,000 Seelen vergrößern. Zugleich [75] kommen Handelsleute aus allen Theilen des Reichs, von Petersburg, Archangel, Moskau, – und die Käufer und Verkäufer aus allen Theilen des innern Asiens, bis nach Kiachta und dem Indus hin. Gegen zweitausend Buden aller Art sind dann aufgeschlagen, es bildet sich eine große Messe, auf welcher man die Produkte des Ostens und des Westens gegen einander tauscht. – Der Fischfang ist zwar Regal der Krone; wird aber von dieser nicht selbst betrieben, sondern an eine Gesellschaft Astrachanischer Kaufleute jährlich verpachtet. Diese giebt wieder ihre Lizenzen an kleinere Vereine, Watagen genannt, welche die verschiedenen Fischerei-Stationen an den Ufern der Wolga und den benachbarten kaspischen Küsten besetzen. Eine solche Watage besteht aus 50 bis 100 Mann. Die Hauptgegenstände des Fangs sind Störe, Hausen und Sewrjugen; auch Welse und Barben.

Der Fang geschieht mittelst starker Netze oder eines Gezeugs (Nest genannt), das aus Tauen besteht, an welchen tausende von Angelhaken mit Köder befestigt sind; auch mit Wehren und Dämmen und andern großartigen Verrichtungen. Zuweilen ist die Menge der Fische, welche aus dem kaspischen Meere in die Wolga herauf tritt, so ungeheuer, daß ihre Wucht die Wehre selbst zertrümmert. Das Geschäft ist für die Unternehmer in der Regel äußerst einträglich. Es gibt hier Leute, die sich damit Millionen erwarben. – Das Fleisch der gefangenen Fische wird theils gesalzen, theils getrocknet in das Innere des Reichs (im Winter gefroren bis nach Petersburg, Riga, Reval, Pernau etc. etc.) versendet. Der Roggen der Störgattungen wird frisch, ober ganz leicht gesalzen (man gibt etwa auf 40 Roggen 1 Pfund Salz), in Fässer gepackt und geht als Caviar durch die Welt; die Schwimmblasen der Hausen, der Welse etc. etc. aber geben, getrocknet, den Fischleim, welcher als Hausenblase ebenfalls überall hin versendet wird. Der Ertrag der Fischerei beläuft sich in einem Jahre auf 3 bis 4 Millionen Rubel. –

Nächst Fischerei und Handel beschäftigt die Salzgewinnung in den benachbarten Salzseen (der Salzverbrauch für die Fischerei ist sehr groß) ansehnliche Capitale und viele Hände, und unter den Gewerben treten die Juchten, Saffian-, Chagrin-, Seiden- und Baumwollen-Manufakturen großartig hervor.

Astrachan ist theilweise neu und schön gebaut – und schon aus seiner äußern architektonischen Physiognomie kann man auf die seiner Bevölkerung schließen. Alle möglichen Varietäten des orientalischen Style finden hier ihre Repräsentanten, und eben so reichlich sind die des abendländischen vorhanden. Neben dem Minaret der Moschee erhebt sich der vielgekuppelte Bau einer russischen Kirche, und der einfache protestantische Tempel neben dem finstern, phantastischen, tartarischen Palaste. Die Hauptstraßen sind breit; die öffentl. Plätze aber durch unscheinbare Buden entstellt. Die Bevölkerung ist eine Musterkarte der Nüançen der slavischen, mongolischen und caukasischen [76] Raçen. Jedes Gesicht fast ist mit andern, fremdartigen Zügen beschrieben. Tartaren, Russen, Armenier, Perser, Kalmücken, Kirgisen machen die Hauptmasse aus. Die Armenier sind meistens Kaufleute und viele sehr vermögend. Die Seidenfabriken haben die Perser in Händen, welche eine besondere Vorstadt, Gilan, einnehmen. – Die Gegend um Astrachan ist zwar eine Wüste; doch haben Geld und Beharrlichkeit die Steppe in der nächsten Umgebung zu Gartenanlagen umgeschaffen, wo Wein und feine Obstsorten vortrefflich gedeihen. Sie sind geschmückt mit artigen Villen, den Sommerwohnungen der Reichen und hohen Beamten.