Auf dem Transport nach Sibirien

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Textdaten
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Autor: Théophil von Falken-Plachecki
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Titel: Auf dem Transport nach Sibirien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 405–407
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[405]
Auf dem Transport nach Sibirien.
Von v. Falken-Plachecki.


Anfangs des Jahres 1862 übernahm ich, obwohl Preuße von Geburt, die Stelle eines Generalbevollmächtigten über eine bedeutende Herrschaft in Polnisch-Litthauen, deren Besitzer der Adelsmarschall Graf C. war. Im Jahre darauf brach bekanntlich die letzte polnische Insurrection aus. Zwar stand ich dem Aufstande und seinen Zielen ganz fern, allein auf falsche Denunciationen hin war ich vom Gouverneur des Departements verhaftet, im Monat März 1864 vor die Untersuchungs-Commission berufen, dann nach der Gouvernementsstadt Kowno transportirt und hier zum Tode verurtheilt, nachmals aber zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien begnadigt worden.

Unterwegs nach Sibirien.
Nach einer im Besitze des Verfassers befindlichen Originalzeichnung.

Am Sonnabend vor Ostern des Jahres 1865 früh sieben Uhr trat ein Officier in meine Zelle und ertheilte mir die Weisung, mich sofort zu meiner traurigen Reise bereit zu machen. Nach wenigen Minuten führte man mich nach dem Gefängnißhof. Ich fand hier bereits etwa vierzig Personen, worunter auch Damen, die mein Schicksal theilten. Alle waren im Sträflingsanzuge und ein großer Theil in Ketten. Mir jedoch wurde aus besonderer Rücksicht – als Preußen – gestattet, in meinen eigenen Kleidern zu bleiben.

Die Sträflingskleidung der nach Sibirien Verbannten, ohne Unterschied des Standes, besteht in einem Hemde von grober Hanfleinwand, Beinkleidern von grobem, haarigem Stoff, plumpen ledernen Schuhen, einem langen Rocke vom Stoff der Beinkleider, auf dessen Rückseite ein gelbes Tuch aufgeheftet ist von der Form eines riesigen Carreau-As, und einer aus demselben Stoffe bestehenden Mütze nach dem russischen Militärschnitte, ebenfalls mit einem gelbem Carreau-As geziert. Fußlappen vertreten die Stelle der Strümpfe. Im Winter kommt dazu noch ein Schafpelz, welcher über den Rock gezogen wird. Eine etwa drei Fuß lange Kette an den Füßen vervollständigt das Ganze. – Dieselbe Kleidung müssen auch die nach Sibirien verurtheilten Frauen ohne Unterschied des Alters und bisherigen Standes tragen, jedoch mit Ausnahme der Beinkleider, wofür es ihnen gestattet ist, unter dem männlichen Sträflingsrocke ihre eigenen Kleider zu tragen; auch ist ihnen die Militärmütze erlassen und dafür jeder beliebige Kopfputz erlaubt.

[406] Ein schöner Zug der russischen Gerechtigkeitspflege – wenn man sich so ausdrücken darf – ist es, daß die nächsten Anverwandten die nach Sibirien Verbannten begleiten dürfen. Doch werden jene während des ganzen langen Transportes den Verurtheilten gleich geachtet und behandelt. Die Polen machen – ich muß es sagen – von dieser traurigen Vergünstigung den ausgedehntesten Gebrauch, und besonders zeichnet sich das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung aus. Fast allen Verurtheilten unter uns, Männern oder Frauen, folgte die Gattin oder Tochter, die Schwester oder Braut, bereit, alles Ungemach über sich ergehen zu lassen, um dem geliebten Wesen einen Trost zu gewähren. Es ist dieses fürwahr kein geringes Opfer, wenn man bedenkt, daß die häufig noch jungen Damen, von Geburt aus an alle Annehmlichkeiten des Reichthums und der vornehmen Stellung gewöhnt, ihr comfortables Boudoir, ihre glänzenden Salons verlassen mußten, um sich in den engen, unsauberen, mit Leuten beiderlei Geschlechts und jeden Ranges und Alters bis zum Uebermaß angefüllten Transport-Käfig stecken zu lassen und später unter unendlichen Beschwerden und Entbehrungen eine fast ein Jahr dauernde Fußwanderung unter militärischer Aufsicht anzutreten! Und nie hörte ich, daß diese freiwilligen Opfer sich beklagten oder ihren Entschluß bereuten. Ehre diesen Edlen!

Wir wurden nach dem Kownoer Bahnhöfe transportirt und in einem Gefangenen-Wagen verladen. Derselbe, kaum groß genug, um uns Alle aufzunehmen, hatte an jeder Seite zwei kleine Fenster mit Eisengittern und glich ganz den Viehwagen auf unseren Eisenbahnen. Da sich noch eine Menge Soldaten mit uns in denselben Raum zusammen drängte, so reichten die Sitzplätze nicht aus, und Viele von uns mußten stehen.

Vier Stunden hatten wir dergestalt zugebracht, als wir in Wilna anlangten, der Wagen-Käfig geöffnet wurde und wir allesammt – ob verurtheilt oder nicht – vom Bahnhofe aus nach dem Zuchthause geführt wurden. Wegen der herannahenden Feiertage wurden wir vorläufig nicht weiter transportirt. In dem Gefängniß ging es uns nicht besser als im Eisenbahnwagen, denn da aus den verschiedenen Gouvernements noch mehrere Transporte politischer Gefangenen eingetroffen, so war der Raum so beschränkt, daß wir in den Zellen der gemeinsten Verbrecher mit untergebracht werden mußten. Ich kam mit einem Fürsten M. zu sechsundzwanzig solcher Subjecte. Die Tage unseres dortigen Aufenthaltes bleiben mir ihrer Scheußlichkeit wegen ewig im Gedächtniß.

Nach fünf Tagen, die uns eben so viele Monate gedünkt hatten, traten wir unsere Weiterreise nach St. Petersburg an, und unsere vorigen Leiden begannen auf’s Neue. Noch hundert Personen mehr wurden uns zugesellt. Das schöne und das starke Geschlecht waren drei Tage und drei Nachte lang in allen Abstufungen des Alters und Standes in einen engen Raum gepfercht, vor welchen sich statt des Engels Gabriel mit dem hauenden Schwert ein Soldat mit geladenem Gewehr stellte, um Niemand, weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem Elysium herauszulassen. Die Damen waren unter dem Sträflingsrocke zumeist in feinster Toilette, an welcher die Crinoline nicht fehlte. Heiterkeit, Scherz, Gesang, Zeitvertreib aller Art mußte den Weg verkürzen; die feinsten Delicatessen wurden von schönen Händen freigebig vertheilt, denn Diejenigen, welche ihre verurtheilten Verwandten begleiteten, befanden sich ja im Besitze ihres Vermögens und hatten sich mit Geld, für welches in Rußland unter allen Umständen Alles zu erlangen ist, reichlich versehen. Der Maschinist gab aus der Maschine kochendes Wasser her, und so wurde denn der Genuß von Thee, Kaffee, Grog und Bouillon zu jeder Zeit möglich.

In St. Petersburg angekommen, wurden wir durch die belebtesten Theile der Stadt transportirt.

Hier muß ich einen Zug des russischen Volkscharakters hervorheben, der, wie ich glaube, in der ganzen Welt kaum seines Gleichen findet. Die russische Einwohnerschaft von Petersburg aller politischen Parteien soweit in Rußland von solchen überhaupt die Rede sein kann – verwünschte den polnischen Aufstand aus Herzensgrund, aber in uns, dessen Opfern, erblickten diese Leute nur Unglückliche, welche des Mitleids und Erbarmens bedürftig seien.

Auf dem Wege durch die Stadt drängten sie sich in solchen Massen an uns heran, um uns mit Geld zu beschenken, daß der Zug oft Halt machen mußte, weil es den Soldaten nicht gelang, die Menge von uns fern zu halten. Viele gaben zehn, fünfzehn, zwanzig Rubel und noch mehr. Die Aermeren begnügten sich mit Kopeken, deren wir nicht weniger als zweitausend zweihundert Stück erhielten! Noch vor dem Thore des Gefängnisses drängte sich ein kleines Mädchen an mich heran und drückte mir zwei Kopekenstücke in die Hand. Diese beiden Kupfermünzen zieren heute als ein mir werthvoller Schmuck, meine Uhrkette.

Unser Gefängniß zu St. Petersburg war ein großes stattliches Gebäude und das Schicksal, das manchmal wirklich komisch ist, gab uns hier einen mütterlichen Wink, daß wir uns künftig „recht artig“ betragen müßten. Unser Gefängnißhaus nämlich diente eigentlich zur Aufnahme – verwahrloster Kinder!

Wir fanden auch hier eine Menge Gefangener vor, die sich unserem Tansport, der in zwei Tagen fortgesetzt werden sollte, anzuschließen bestimmt waren. Man brachte uns in sehr großen geräumigen Zimmern unter, welche unverschlossen waren und uns den freien Verkehr innerhalb des Gebäudes gestatteten. Hier gelang es mir durch die Güte des als Commandant fungirenden Obersten, einen Brief direct in das hiesige preußische Gesandtschafts-Hotel zu befördern, in welchem Briefe ich meine Verurtheilung und mein Eintreffen in Petersburg meldete und die Bitte hinzufügte, mich persönlich dem preußischen Gesandten vorstellen und ihm meine Lage schildern zu dürfen.

Schon nach einer Stunde erschien als Vertreter des Gesandten Herr v. Magnus, der mir eine herzliche Theilnahme bezeigte. Derselbe war, in Folge der vielfachen Bemühungen der preußischen Regierung, meine Freilassung zu bewerkstelligen, schon früher in meinem Interesse thätig gewesen und höchlichst erstaunt über meine gegenwärtige Situation. Er rieth mir, ein Gnadengesuch an den Kaiser zu richten und dasselbe dem Consul in Moskau zu übergeben, den er veranlassen werde, es sofort dem Gesandten zu übersenden, welcher es in öffentlicher Audienz dein Kaiser vortragen würde. Ferner versprach er, dafür zu sorgen, daß in Moskau mein Transport so lange inhibirt würde, bis die Entscheidung des Kaisers einträfe. Ich erhielt von Herrn v. Magnus neben einer bedeutenden Geldsumme ein Empfehlungsschreiben an den preußischen Consul in Moskau und die Versicherung, daß er sogleich dem königlich preußischen Ministerium die nöthigen Mittheilungen über mein Schicksal machen werde. Er hat sein Wort gehalten.

Ich war getröstet und aufgerichtet und mein Herz von innigster Dankbarkeit erfüllt. Leicht und muthig fühlte ich mich, als wir wieder nach dem Bahnhöfe geführt wurden, um unsere Reise nach Moskau anzutreten. Wieder wurden uns auf dem Wege nach dem Bahnhofe milde Gaben zu Theil.

In Moskau war der Andrang des Volkes zu uns, um uns milde Gaben zu Theil werden zu lassen, so groß, daß sich der Transport nur sehr langsam fortbewegen konnte. Wir wurden auf einer prächtigen, von einem schönen Parke umgebenen Villa untergebracht, welche zuvor einem Kaufmann gehört hatte, der sich im Krimkriege mißliebig gemacht und dessen Vermögen im Betrage von etwa zwanzig Millionen confiscirt worden, während er selbst in Sibirien sein Ende gefunden hatte. In der Villa sowohl wie im Parke war uns freier Verkehr gestattet. Das sind russische, in Deutschland unbegreifliche Gegensätze.

Der wiederholte mehrtägige Transport in der oben geschilderten Weise halte meine schon durch die lange Haft angegriffene Gesundheit allmählich so geschwächt, daß man mich sogleich in ein freundliches und wohleingerichtetes Krankenzimmer brachte. Noch an demselben Tage besuchte mich der Generalarzt H., ein Deutscher, welcher die erkrankten Transportirten zu behandeln hatte. Er widmete mir seine vollste Theilnahme und erklärte, daß er meinen Weitertransport vor meiner völligen Wiederherstellung nicht zugeben werde. Auch stellte er selbst mein Empfehlungsschreiben dem hiesigen preußischen Consul zu. Vor Allem erfreute er mich aber durch die Uebersendung eines ganzen Jahrganges der „Gartenlaube“, und durch das Versprechen, mir außerdem jede Woche die neueste Nummer dieses Blattes mitbringen zu wollen. Der Leser wird ermessen, wie sehr mir durch diese angenehme Lectüre meine Haft erleichtert wurde und mit welchem Jubel ich jede neue Nummer begrüßte.

[407] Am folgenden Tage fühlte ich mich schon ein wenig kräftiger und schrieb nun ein Gesuch an den Kaiser, in welchem ich meine jetzige und frühere Lage, meine Untersuchungshaft, meine Freisprechung durch das Kriegsgericht und meine schließliche Verurtheilung durch den Generalgouverneur Murawieff darlegte. Ich bat Seine kaiserliche Majestät nicht um Gnade, sondern um Gerechtigkeit und um Revision meines Processes. Dieses Gesuch übergab ich dem preußischen Consul, welcher mich besuchte; auch er versprach, dafür zu sorgen, daß ich die Entscheidung meines Schicksals durch den Kaiser in Moskau abwarten dürfe. Ein mir verwandter preußischer General, der schon vielseitig in meinem Interesse gewirkt und mir dadurch manche Erleichterung verschafft, hatte sich ebenfalls beeilt, sich für mich bei dem Gouverneur von Moskau, dem Fürsten Obolinski, zu verwenden, letzterer besuchte mich denn auch und gab mir eine schriftliche Bescheinigung, daß ich vor Eintreffen der kaiserlichen Entscheidung nicht weiter transportirt werden solle. So durfte ich mich denn wohl der Hoffnung hingeben, einem schweren und unverdienten Geschicke noch in der elften Stunde zu entgehen. In der Etappe Moskau wird den Verbannten stets eine achttägige Rast gewährt. Während dieser Zeit durfte ich mich wieder am ungestörten Umgange mit dem Fürsten M. erfreuen, der beinahe drei Jahre eine Zelle und alle beiden des Gefängnißlebens mit mir getheilt. Unsere Verurtheilung erfolgte auch gleichzeitig und gleichlautend. Wir waren Beide nach dem Gouvernement Irkutsk verbannt und so war im Laufe der Zeit ein inniges freundschaftliches Verhältniß zwischen uns entstanden. Der Fürst war überglücklich, jetzt meine Erlösung für gewiß halten zu dürfen. Wir Beide vergaßen dabei, daß wir nach Ablauf der achttägigen Rast getrennt würden, um das wahrscheinlich für dieses ganze Leben zu bleiben.

Nur zu schnell kam der Tag der Trennung heran. Der Fürst lag weinend an meiner Brust. Er war jedoch stärker als ich. Denn während ich keines Wortes mächtig war, sprach er zum letzten Abschiede: „Wenn Du zurückgekehrt bist in Dein schönes Deutschland, in Dein geliebtes Preußen, o so vergiß des armen Freundes nicht! Sei glücklich, glücklich, glücklich!“ Der Zug setzte sich in Bewegung; ich konnte ihm nur ein halbersticktes Lebewohl nachrufen; meine Augen waren durch Thränen verdunkelt, er entschwand meinen Blicken für immer. Genug davon! Ich will die Leser nicht mit der Schilderung meiner Empfindungen behelligen.

In Moskau langten während meines dortigen Aufenthaltes wöchentlich Hunderte von Verbannten an, die ebenfalls immer nach achttägiger Rast weiterbefördert wurden. Es waren dies zum größten Theile Polen, welche nach der inzwischen niedergeworfenen Insurrection ihr Vaterland in Sibirien vergessen sollten, Männer und Frauen jedes Alters und Standes und vielfach begleitet von Verwandten, letztere zumeist weiblichen Geschlechts. Ich habe schon gesagt, daß uns hier in Moskau, in der Villa eines unglücklichen Kaufmanns, die größte Freiheit gestattet wurde und daß uns auch der dazu gehörige Park geöffnet war. Natürlich fehlte es nicht an militärischer Bewachung. Da mir von dem Generalarzt Bewegung in freier Luft empfohlen war, so besuchte ich den Park täglich und hatte hier abermals Gelegenheit, die Leichtlebigkeit der Polen zu bewundern. Das Loos der nach Sibirien Verbannten ist unter allen Umständen furchtbarer als es das der Aristokraten in der französischen Revolutionszeit war, die von kurzen Gefängnißleiden durch die Guillotine erlöst wurden. Aber wie diese Franzosen lächelnd das Blutgerüst betraten, so sah man hier nur an dem Sträflingsanzuge, nicht an den Mienen der Gefangenen, um was es sich handelte. Man erblickte in dem Park die elegantesten Toiletten von Damen, die ihren Sträflingsrock gleichsam wie einen Schmuck oder wie eine harmlose Verkleidung über die kostbarsten Stoffe, über die feinste Wäsche gezogen hatten. Hier führte ein Herr, mit der Kette an den Füßen, eine Dame im elegantesten Gesellschaftsanzuge unter dem schmutzig-gelben Rocke zu einer Verkaufsstelle von edlen Südfrüchten und feinen Delicatessen; dort tummelten sich Kinder des verschiedensten Alters, welche von der Krone ebenfalls mit der verhängnißvollen Kleidung versehen waren, unter den Bäumen im Grase. Das Ganze trug allerdings den Charakter der Ostentation: – „Seht, Leute, uns schickt die russische Regierung nach Sibirien!“

Unter den im Park Lustwandelnden waren auch eine bildschöne Comtesse und ein junger Edelmann, die sich im Gefängniß zu Kowno kennen gelernt und durch ein gar merkwürdiges Liebesalphabet verliebt, verlobt und geheirathet hatten. Die Gefangenen der beiden Flügel des Gefängnisses in Kowno nämlich unterhielten und verständigten sich durch eine ganz originelle Telegraphie, die so wenig Apparate brauchte, daß die berühmten Telegraphisten Siemens und Halske in Berlin dieselbe gewiß gern patentiren würden. Die vierundzwanzig eisernen Gittervierecke unserer Kerkerfenster stellten ebenso viele Buchstaben dar. Der Telegraphist stellte sich nun an das Gitter, fingerte wie der Blitz von einem Gitterviereck zum andern und schuf so Worte und Sätze. So oft ein Wort zu Ende, wurde dieses durch einen Doppelschlag mit dem Finger angedeutet. Auf diese Weise wurden Anekdoten, Schnurren erzählt, Räthsel aufgegeben, Erzählungen übermittelt, ja es wurde sogar eine Geschichte aus der Gartenlaube von hüben nach drüben telegraphirt. Vor allen Dingen aber diente diese Telegraphie als Sicherheitsmaßregel. Sie kündigte einen untersuchenden Beamten an, warnte vor Mittheilung geheimer Artikel aus dem Gefängniß- Kladderadatsch und schloß fast immer mit der Weisung, den Spürhunden eine tüchtige Nase zu drehen und gegenseitig Freundschaft zu halten. Studien in dieser Telegraphie wurden so sorgfältig gemacht, wie die Langfingerübungen eines Londoner Taschendiebclubs. Wie dieses Gitteralphabet zum Liebestelegraphen für das genannte Paar wurde, dürfte am wissenswerthesten sein. Die bildschöne Comtesse und der junge, geistreiche Edelmann, welche sich Beide früher nie gesehen, verliebten und verlobten sich, wie gesagt, auf diesem gewiß ungewöhnlichen Wege. Sie schrieben oder fingerten vielmehr einander so glühende, zärtliche billets-doux, daß Abälard und Heloise das glückliche Verhältniß gewiß beneidet hätten. Nach der Verlobung am Gitter wurde die Trauung vor der ganzen Gefangenschaft öffentlich gefeiert, was um so rührender ist, als die junge Comtesse bereits ihre Freiheit erlangt hatte und ihr Bräutigam zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt worden war. Sie entschloß sich aber dennoch, mit dem Manne in die Verbannung zu wandern, welchem sie ihr Herz geschenkt.

Im Park waren eine Menge Buden aufgeschlagen, aus denen man sich mit allen möglichen Lebensmitteln und Lebensbedürfnissen Genußmitteln, Luxusartikeln etc. reichlich versehen konnte. Hier wurde viel Geld verschwendet. Sogar ein Photograph hatte im Park sein Zelt aufgeschlagen, und es war den Gefangenen gestattet, sich einzeln oder auch in Gruppen photographiren zu lassen. Der Photograph war von früh bis spät beschäftigt und machte die glänzendsten Geschäfte. Alles lebte, die bevorstehenden Entbehrungen im Auge, im Genusse der immerhin noch heiteren Gegenwart, ohne der Vergangenheit und der späteren Zukunft zu gedenken. Es ist das eben polnisch.

Leider sollte meine Hoffnung auf baldige Befreiung getäuscht werden. Alle Versprechungen meiner Freunde waren redlich erfüllt worden, aber der Kaiser wie ich später erfuhr – war plötzlich nach Nizza gereist, wo sein ältester Sohn schwer erkrankt daniederlag und starb, und hatte keine Bestimmung für mich zurückgelassen. Nach drei Monaten also erklärte mir der Gouverneur von Moskau, daß er mein längeres Verbleiben nicht mehr verantworten könne und daß ich, da ich nun vollständig genesen, mit dem nächsten Transporte befördert werden müsse. Er drückte mir sein tiefstes Bedauern darüber aus. Die Interventionen des Generalarztes Dr. H., sowie die des Consuls blieben fruchtlos; die strengen Instructionen, welche der Gouverneur neuerdings hinsichtlich der nach Sibirien verbannten politischen Gefangenen erhalten, durften allein maßgebend sein.

So trat ich denn am 14. Juni 1865 in Gesellschaft von zweihundert und achtundfünfzig Unglücklichen die Weiterreise nach Sibirien an. Wie es die „Gartenlaube“ war, die mich von dem Tode rettete, zu welchem ich verurtheilt, und wie ich durch die Verwendung der preußischen Regierung, speciell des Grafen Bismarck, nach einigen Jahren der Verbannung der Freiheit in der Heimath wieder gegeben wurde, davon denke ich dem Leser in einem späteren Artikel zu erzählen.