Auf der Hallig

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Autor: Helene Pichler
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Titel: Auf der Hallig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 208–212
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[208]

Auf der Hallig.

Von Helene Pichler.

Mutter, Mutter, die See brüllt doch! Ich höre, wie sie näher kommt, immer näher.“

„Sei ruhig, Tochter! Dein Kopf ist ’n bißchen heiß; darinnen schmerzt’s. Du mußt still liegen und ’n Trunk Wasser nehmen, dann wird’s besser. So – das thut gut! Hübsch kühl, nicht wahr? Ja, wir haben auf unserer Hallig das beste Wasser, viel besser, als sie’s drüben auf Pellworm haben. Nun guck’ ich noch mal nach unseren Jungens, ach die schlafen ganz prächtig; ’s sind doch ’n paar stramme Kerle und hübsch wie die dicken Engel in der Kirche von Tönning. Hast Du die mal gesehen, Beta? Nicht? Schadet nichts, unsere Kinder sind noch hübscher. Wie wird Arnt sich über die volle Wiege freuen! Nun schlaf’, Beta, und ich will ’s Schwatzen lassen.“

Beide schwiegen. Die Alte ging hinaus und kehrte bald zurück mit einer Schürze voll brauner Torfstücke, die sie zum größten Theil in das enge Thürchen des mächtigen, ein Drittel des ganzen Gemaches einnehmenden Lehmofens zwängte; den Rest legte sie daneben zum späteren Nachheizen. Dann guckte das alte, gute Gesicht [210] unter dem schwarzen Tüchlein noch mal auf die junge Tochter, welche, unter schweren Kissen fast begraben, mit hochrothem Antlitz in der festgefügten Bettstatt ruhte, auf die rohgezimmerte Wiege neben dem Bette, wo zwei süße Kindergesichter schlummerten, die kaum länger als zwei Mal vierundzwanzig Stunden im Lichte athmen mochten – dann schlich die Alte wieder hinaus, so vorsichtig und lautlos, wie es die beginnende Zittrigkeit und die plumpen Holzschuhe zuließen.

Da draußen vor der Hütte setzte sich die alte Frau auf einen rundgewaschenen Steinblock nieder, stützte den Kopf in die hohle Hand und schaute über die endlose graue Wasserfläche, welche sich ringsum ausdehnte. Wie ein winziges festes Pünktlein lag das kahle Sandinselchen in der schwankenden Unendlichkeit; hier und da am farblosen Horizont streckte sich ein etwas dunkleres Grau, von dem die Halligbewohnerin wußte, es sei der Sandrücken einer Nachbarhallig. Im übrigen bildete das niedrige Haus auf dem Erdhügel das einzige Zeichen menschlichen Lebens weit und breit.

Nicht geschützt durch Deiche und künstliche Wehr wie die größeren Inseln sind die Halligen, sondern sie ragen frei aus dem Meere auf, dessen Fluthen an ihrem Dasein nagen, und es giebt keine andere Schutzwehr als die unbezwingliche Heimathsliebe und das felsenfeste Vertrauen der armen Halligmenschen zu der Scholle ihrer Väter und der ewig wogenden See.

Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, waren die einzigen Menschen in dieser Meereseinöde. Nicht doch, in der Wiege lagen noch zwei neugeborne Menschlein, auf denen das ernste Auge der friesischen Mutter mit dem Ausdrucke unsäglichen Entzückens ruhte.

„Die Augen von Arnt, wenn er den Segen sieht, freuen mich im voraus,“ murmelte die Alte vor sich hin. „Daß er auch grad’ in dieser Zeit fort sein muß! Na, ’s macht nichts; die Beta kam auch auf die Welt, als ich hier allein saß und keinen weiter um mich hatte als den halbwüchsigen Andresen – was so ein Bengel wohl helfen kann? – ’s ging aber doch und die Beta ist groß und stark geworden. Freilich, mein Hansen, der kam nicht zurück; das Kind mußte ohne den Vater aufwachsen und Bruder Andresen mußt’ auch dran glauben, Anno acht, wo unsere Leut’ wider Recht und Neigung dem Franzosenkaiser zugeschickt wurden. Und Bruder Peter blieb bei der Hochfluth vor drei Jahren; weil das Lamm nicht verloren gehen sollte, mußt’ er selbst ’s Leben lassen. Ja, unsere Mannsleut’, ’s ist ’ne tüchtige Sorte!“

„Wahrhaftig, Beta hat recht, die See brummt, aber ’s ist doch still ringsum, wird wohl nichts zu sagen haben. Drüben nach der Küste zu steht ’s Eis ganz ruhig.“

Nicht in lauten Worten äußerte sich der Gedankengang der alten Friesin. Wer sie hätte vor der Thür ihres meerumtosten Hauses sitzen sehen, vor sich hinstarrend, die strengen Züge unbeweglich, der konnte wohl meinen, es sei eine der sagenhaften Frauengestalten aus längst verschollener, nordischer Götterzeit übrig geblieben und auf diese Sandscholle verbannt.

„Hm, ob Arnt dran denkt, daß unsere Wintergrütze beinah alle ist? Er wird schon, ist er doch ein verständig Mannsbild. Ja so, die Tüffeln wollte ich heut umschaufeln, ’s ist Petritag nahe, dann keimen sie.“

Die Alte stand auf und ging nach alter Gewohnheit erst rund um die Hütte, als wolle sie sich des Friedens von allen Seiten überzeugen.

An der Rückwand der Hütte befand sich ein ganz niedriger Schuppen, gleichsam ein Nestchen, angebaut, dessen Thür offen stand. Hier ließ die alte Frau einen langgedehnten hellen Ton über die Dünen erschallen, und alsbald kamen von den Sandbergen herbei zwei Schafe getrottet, die sich um die Alte drängten und von dieser in den Stall geschoben wurden, wo ein Kübel frischen Wassers für die Thiere bereit stand.

Noch immer zögerte die alte Frau, unter Dach zu gehen, obgleich die Mittagsstunde nahte, wo nicht nur die Mehlsuppe für Beta, sondern auch die Kartoffeln für sie selbst gekocht werden mußten.

„Arnt hätte doch nicht gehen sollen,“ murmelte sie, indem sie unter der zweitheiligen Thür stehen blieb und, die Hand über die Augen erhebend, das langsam steigende Hochwasser beobachtete. Von unsichtbarer Kraft getrieben, wuchsen die Fluthen rings um das Inselchen. „Nicht gerade sehr hoch, November letzten Jahres wuchs das Wasser schneller, aber ’s ist Vollmond heut, und der Südwest, o der Südwest!“

In der That wehte der am frühen Morgen mäßige Wind jetzt mit einiger Stärke, indeß nicht stark genug, daß ein unbefangener Mensch hätte etwas Besonderes darin finden können. Aber die Friesen sind ein Menschenschlag, welcher durch die tausendjährige Liebe zu und den tausendjährigen Kampf mit dem ewigen Meere gleichsam dessen Urgeist nahe rückt und seine leisesten Aeußerungen versteht, freilich ohne sich dessen bewußt zu werden.

Dieses unter der Herrschaft des nivellirenden Zeitgeistes immer mehr schwindende, rein instinktive, wahrheitstreue Naturverständniß fand sich von jeher bei ihnen stark ausgebildet, doch die höchste Stufe erreichte es bei den Inselfriesen, und unter diesen wieder bei den jedes menschlichen Schutzes entbehrenden Halligbewohnern. Insbesondere bei den Frauen war das Ahnungsvermögen in Bezug auf gewaltige Naturereignisse stark ausgeprägt, und die alte Nanninga, welche von Geburt an auf ihrer meerumtosten, dürftigen Scholle gesessen, galt weit und breit für eine Art Wetterprophetin, welche im geheimen von manchem aussegelnden Küsten- und Seefahrer um eine Voraussagung gebeten wurde.

Die Krankensuppe war fertig, aber das Mittagsmahl der alten Nanninga blieb ungekocht. Sie saß vor dem Bette der Tochter, nöthigte ihr einen Löffel voll nach dem andern ein und schaukelte die Wiege, dabei eintönig summend.

„Mutter, es weht! Wo ist Arnt? Ist nicht Vollmond heute, wo das Wasser steigt?“ sprach die Kranke, indem sie den Löffel zurückschob und, sich aufrichtend, einen Blick durch das kleine, vom Sandflug getrübte Fenster zu gewinnen suchte. Nanningas harte, runzlige Hand drückte sanft die Aufgeregte in die Kissen zurück.

„Alles ist gut, Arnt kommt heute abend heim mit ’ner Hand voll Geld und ’nem freudigen Sinn.“

„Wasser, Wasser!“ schrie Beta.

„Sollst haben, meine Tochter, ganz frisches hole ich.“ Sie nickte Beta zu und schlürfte hinaus. Der schmale enge Raum zunächst dem Eingange bildete Flur und Küche zugleich; ein mächtig ausgebauchter Schornstein, unter welchem ein aus Steinen zusammengethürmter Herd stand, nahm die größere Hälfte ein. Auf dem Herde glimmte ein stilles Torffeuer, dessen Gluth in heller Röthe aufflammte, so oft ein Windstoß durch den Schornstein einen Weg in die Hütte sich bahnte.

„Es weht aus West,“ murmelte die Alte, „nur bei West laufen die Funken; Herrgott, wollest in Gnaden uns behüten!“ Und sie nahm mit sicherer Hand die glimmenden Torfstücke, legte sie neben einander auf den Steinboden und goß Wasser darüber. Aber ja kein „frisches“, das ist viel zu kostbar für solche Verschwendung, sondern Salzwasser, das die See liefert. Einen Eimer, oder wie die Inselfriesen sagen, eine Back nehmend, die wie alle Holzgeräthe der dürftigen Wirthschaft und wie das Balkenwerk der Hütte selbst tiefbraun gebeizt ist von Salzwasser und langem Gebrauch, zum größten Theil auch aus solchem Holz besteht, welches der Sturm in Gestalt von Balken und Planken dem Strande zuwarf – ging Nanninga zu ihrem Fehding. Das ist das kostbarste Gut der Halligbewohner, die tiefe und ängstlich behütete Sandgrube, welche in einer Senkung möglichst geschützt liegt und in welcher das Regenwasser zusammenläuft, der einzige Brunnen, welcher die Bewohner dieser Eilande vor Durst schützt.

Hier bei der Wassergrube stellte die alte Friesin ihren Eimer aus der Hand, ging ein wenig strandab der See zu und starrte mit unbeweglichen Augen den feuchten Saum entlang, welchen das zurücktretende Meer an dem sandigen Eilande gebildet hatte.

Nur ganz schmal, kaum einen Fuß breit, dehnte sich die dunkle Linie.

Aus Westen drängten die Wogen aufs neue heran und aus gleicher Richtung stürmte der Wind daher, gegen welchen die alte Frau sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.

Tief am Horizonte schwankten einige Segel, bald in grelles Licht, bald in tiefes Dunkel getaucht, je nachdem aus dem jagenden Gewölk ein Sonnenstrahl sie traf oder die nächste schwarze Wolke sich herabzusenken schien.

Obwohl über Nanningas graues Haupt unzählige Stürme hinweg gebraust waren, flog doch ein Ausdruck tiefsten Schreckens über ihr gefurchtes Antlitz.

[211] „Es wird viele treffen; keiner denkt jetzt dran, und Wind und Wetter sind schneller als sie alle. O der Mond, der Mond!“

Fast mit beschwörender Gebärde hob die alte Frau den rechten Arm gegen den Himmel auf. Als sie ihn wieder sinken ließ, bemerkte sie, wie die feuchte Strandlinie wieder schmäler geworden war. Das Meer war nicht zu dem angemessenen Tiefpunkte der Ebbe zurückgetreten, sondern stieg nach geringem Weichen und nach kurzer Frist aufs neue.

Diese Wahrnehmung jagte Nanninga zurück. Ihr altes muthiges Herz hämmerte gegen die Brust. Die kranke Tochter, die Zwillingsenkelchen, das ganze dürftige kleine Heim auf der Sandscholle, Arnt, alles sah sie dem Untergange preisgegeben. Der Wind riß ihr dunkles Kopftuch ab, daß ihr graues Haar in langen Strähnen flatterte – sie ließ es flattern! Ihre Tochter, ihr Kind! Das war ihr einziges Fühlen. Sie sah weit draußen ein Schiff mit den anstürmenden Naturkräften kämpfen. – „Das ist verloren, aber Beta nicht, nein, nein, keines hier, so lange in diesen alten, zähen Armen noch ein Lebensfunken sich regt!“ das war ihr einziger Gedanke. Und das Pochen und Hämmern in Kopf und Brust überwindend, tappte sie zum Fehding zurück, füllte den Eimer und trug ihn keuchend ins Haus. Wieder ging sie hinaus zur Wassergrube, aufs neue Wasser holend, als müsse die Haushaltung auf Wochen versorgt werden. Als die alte Frau zum drittenmale zurückkehrte, fand sie vor der Thür der Hütte einen Menschen zusammengekauert sitzen.

„Arnt“ wollte sie im ersten Augenblick freudig rufen, doch der Ton stockte, denn Arnt trug nicht so feine städtische Kleider mit so hohem, steifem Kragen; er trug eine grobe Jacke und den Hals frei, auch waren seine Hosen nicht so eng, und die Hände – o die Hände – der fremde Mensch hatte ja weiße, kleine Mädchenhände und dazu lange braune, zurückgestrichene Haare; Arnts gelbe Haare waren über der Stirn kurz geschnitten und hingen über die Ohren herab.

„Häh?“ rief die Friesin den Menschen an, welcher, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf den Stufen niedergesunken schien. Erschreckt fuhr er in die Höhe und starrte die Alte an. Vielleicht glaubte er ein Wesen aus altersgrauer Zeit zu erblicken oder eine sturmerzeugende Wetterhexe; aber da er in ein Paar lebendiger Augen sah, so stand er auf und wollte, gegen das Windgeheul anschreiend, seine Anwesenheit erklären.

Die Alte machte eine abwehrende Handbewegung und deutete auf die Hütte, deren Thür sie aufstieß und, nachdem auch der Fremde eingetreten, sorgfältig mit einem schweren hölzernen Riegel schloß. Von dem Getöse draußen betäubt, mußte der Mann eine Weile die Augen schließen, ehe er in dem dunklen Vorraum der Hütte etwas zu erkennen vermochte. Was er sah, mußte ihm ebenfalls wie eine Hexenküche vorkommen, die braunen, plumpen Geräthe, der cyklopische Herd mit dem weit ausladenden Schornstein darüber, vor allem aber das alte Weib, welches sich um den Gast durchaus nicht bekümmerte, sondern eben aus dem Hintergrunde ein Thier hervorzerrte, ein Schaf, welches sie ohne weiteres bei den Füßen ergriff und auf ihre Schultern zu laden suchte. Doch die zitternden Kräfte reichten nicht hin, die Last zu heben; ächzend ließ sie das Thier sinken und ihre Augen richteten sich funkelnd auf den Fremdling, indem sie sagte:

„Zu schwer! Seht Ihr’s nicht?“

Sofort faßte er an, obwohl ihm vor dem Weibe graute. Mit vereinten Kräften gehoben, lag das Schaf auf Nanningas Nacken, welche nun damit die Sprossen der steilen Leiter hinaufstieg, die neben dem Schornsteine nach oben führte und hier in einer dunklen Oeffnung endigte. Der Mann hörte die Friesin oben umhertappen und -räumen. Nein, in diesem unheimlichen Hause bliebt er nicht; lieber wollte er draußen die Gewalt von Sturm und Wetter ertragen. – Endlich kam die Alte zurück.

„Wollt Ihr mir sagen, Frau, auf welcher Insel ich bin?“

„Keine Insel! Hallig Olderog,“ lautete die kurze Antwort.

„Ich bin bei gutem Wetter mit einem Boot abgefahren, um zur Winterszeit das Meer in seiner Pracht zu sehen; ich bin nämlich einer, der Bilder malt, da kam der Sturm und –“

Nanninga unterbrach ihn scharf: „Es ist jetzt nicht Zeit zum Schwatzen! Handeln, Herr! schaffen!“ Und schon kam sie mit dem zweiten Schafe angekeucht, dicke helle Tropfen standen auf der Stirn der alten Frau. Das konnte der Fremde nun nicht mit ansehen, er sprang hinzu und bot seine Schultern dar. Aber das zappelige Thier wollte nicht darauf liegen bleiben, weil er es wohl zu ungeschickt anfaßte. So blieb nichts anderes übrig, die Alte trug auch das zweite Thier auf den Boden. Sie bedeutete aber dem Fremdling, mit einem gefüllten Eimer Wasser ihr zu folgen. „Ist das Weib verrückt?“ dachte der Mann, that jedoch nach ihrem Geheiß. Oben stieß Nanninga eine Dachluke auf, daß der letzte Strahl des trüben Februartages in den Raum fiel und sie Ausblick gewannen über die kochende See. Nur die Friesin überschaute die wachsende Gefahr, der Fremde hatte keine Ahnung von derselben. Weit über den Stand des gewöhnlichen Hochwassers brandeten die Fluthen an dem Eiland empor; im fahlen Dämmerlicht stürzten aus Westen immer neue Wellenberge heran; ihre schneeigen Häupter reckten sich höher und höher auf, eines das andere überstürzend, als müßten sie das Inselchen rasch aus dem Wege räumen, um desto schneller das Festland zu erreichen. Schon war der blinkende Eisgürtel des Festlandes in Millionen Schollen zersprengt, welche stoßend und treibend sich in und über einander thürmten, gewaltige Spielbälle einer gewaltigen Macht. Ueber dem allem die sinkende Nacht und kein Hauch einer menschlichen Seele, nur das Donnern und Brausen der Sturmfluth.

„So muß Salvator Rosa das Meer geschaut haben, wunderbarer, großer Anblick!“ sagte der Fremde.

Doch die Alte rief plötzlich: „Ruhig, Herr!“ Durch das furchtbare Getöse in Luft und Wasser hatte ihr Ohr einen Ton vernommen, welcher auch im Brausen der Hölle nicht untergehen kann für ein Mutterohr – das Wimmern einer Kinderstimme. So rasch, daß der Fremdling ihr kaum folgen konnte, kletterte Nanninga die steile Stiege hinab und eilte zu Beta.

Im Stübchen herrschte fast völlige Dunkelheit; die Kindlein in der Wiege schrieen, da es sie hungerte, die Kranke aber hatte im Fieberwahn ihr Bett verlassen; sie riß das Fenster auf, welches der Wind sogleich in tausend Scherben zerschmetterte, und in die Nacht hinaus rief sie nach Arnt, nach der Mutter, nach ihren Kindern. „Ich will sie behalten, ich geb’ sie nicht her. Kommt die See? Laß sie kommen, ich halte meine Kinder fest. Brülle nicht so, o das thut weh! o mein Kopf! Sie kommt, sie kommt! Arnt ist noch nicht da.“

Bei diesen furchtbaren Klagetönen einer gequälten Seele überkam den Fremden mit einen Male die Gewißheit der grausigen Gefahr, in welcher die Hallig und mit ihr das Haus und die Menschen schwebten. Entsetzen durchrann seine Glieder und nur mit Mühe zwang er die Zähne, daß sie nicht bebend an einander schlugen. In dieser Weltauflösung zwei Frauen, von denen eine alt, die andere todkrank, mit zwei Kindern allein – furchtbares Schicksal!

„Fürchtet Ihr Schlimmes?“ fragte er Nanninga.

„Fürchten? Laßt das Wort nicht hören, sondern packt an und helft!“

„Wie und wo soll ich helfen? Befehlt nur, Frau!“ sagte er mit bebender Stimme.

Inzwischen hatte Nanninga an dem letzten Funken im Ofen einen Kienspan entzündet; sein rothes, qualmendes Licht beleuchtete die unheimliche Scene nur mangelhaft. Dann herrschte sie den Fremden wieder kurz an: „Das Fenster muß zugeschlagen werden!“ und wandte sich dann zu Beta, welche noch immer wilde Zwiesprach hielt.

„Wo finde ich Material und Handwerkszeug?“ fragte der Mann.

„Ist nicht Holz genug in der Stube? Da in der Ecke liegen Hammer und Nägel; braucht Eure Augen und Hände! Beta, mein Kind, nun komm, ’s ist Zeit zum Schlafengehen; Du mußt Dich legen, weil Du noch schwach bist. Der Arnt kommt schon, hör’ nur, ich glaube, das ist seine Stimme. Du brauchst nicht zu sorgen! Ich bin ja bei Dir, und heute nacht wollen wir auf dem Boden schlafen, da ist’s besser, viel besser.“

Welcher herzlichen, weichen Laute war diese strenge Frau fähig! Um zu lauschen, hielt der Mann inne mit seinen Hammerschlägen, durch welche er eine alte Bank vor die klaffende Fensteröffnung nageln wollte. Der Einfluß der weichen, ruhigen Worte auf die Kranke machte sich sogleich geltend; wie ein glückliches Kind ließ sie sich von der Mutter ankleiden. Doch mitten in der dabei unerläßlichen Bewegung brach die Kranke plötzlich ohnmächtig zusammen, so daß die alte Nanninga fast mit umgerissen wurde.

[212] Mit geschlossenen Augen lag das junge Weib da. Die alte Mutter, von der grauenhaften Lage doch einen Augenblick überwältigt, rang in verzweiflungsvollem Schmerz die welken Hände, und der fremde Gast, im Drange zu helfen, schaukelte heftig die Wiege, um die weinenden Kinder zur Ruhe zu bringen. Draußen sang in fürchterlicher Harmonie die wachsende Fluth.

Nanninga fand zuerst sich wieder. „Faßt an, faßt an!“ befahl sie dem Fremden, „sie ist nicht bei Sinnen, so geht’s am besten.“ Indem sie die Füße der regungslos liegenden Kranken ergriff, bedeutete sie ihn, den Oberkörper zu stützen, und so trugen sie Beta in den dunklem Vorraum, brachten sie mit unsäglicher Anstrengung die steile Leiter empor auf den kalten Hausboden, wo der Wind pfiff und schneidende Kälte herrschte. Hier ward Beta an trockenes Dünengras gelegt und vorläufig in der Finsterniß sich selbst überlassen. Es galt noch zwei kleine Menschen zu retten. Schon wollte der hilfreiche Gast die Wiege heben, als Nanninga sagte: „Halt doch! halt! Die Jungens schreien sich ja todt, ich habe noch ’n Rest Schafmilch stehen.“ Nach zwei Minuten kam sie aus der Küche mit zwei steinernen Flaschen, die durch kleine Schwämme geschlossen waren, legte dieselben den Kindern an die Mündchen, und sofort wurden diese stille. Nun ward auch die Wiege nach oben geschafft, doch nicht, bevor der glimmende Kien und der letzte Funken im Ofen gelöscht.

Die Nacht in ihrer finstersten Gestalt war hereingebrochen. Das Wasser stieg und stieg; schon war die Hallig Olderog bedeckt und leckten tausend Zungen an der Schwelle von Nanningas Hütte; losgerissene Eisschollen trieben in der schäumenden Fluth und knirschten gegen einander; noch immer heulte der Sturm und trieb zu neuer Höhe das wogende Meer; aus schweren Wolkenballen stürzten unermeßliche Regenmassen herab; wenn aber an einer schwächer bedeckten Stelle am Himmel der Wolkenschleier zerriß, dann schaute kein tröstlicher Stern herab, sondern der fahle Schein des Mondes huschte über die erregten Gewässer.

So gut es in der Dunkelheit ging, hatte Nanninga in der nach Osten liegenden Ecke des Hausbodens, wo der Anprall der Wellen etwas geringer als im Westen sein mußte, ein Lager für ihre Lieben eingerichtet. Sie selbst suchte durch die Luke noch einen Blick über die fortschreitende Verheerung zu gewinnen, doch nichts wie Finsterniß und Grauen bot sich dar und der niederpeitschende Regen zwang sie, die Oeffnung rasch zu schließen. Das Häuflein Menschen hockte zusammen und fühlte unter sich die Pfeiler des Hauses wanken. Die Kranke schrie nach Mann und Kindern, stieß wilde Verwünschungen aus gegen die grausame See oder flüsterte irre Gebete, in denen der Name Arnt fortwährend wiederkehrte. Ueber der alten Friesin Lippen kam kein Laut; weder Flüche noch Gebete hatte diese starke Seele in der Gefahr. Sie bettete den Kopf der kranken Tochter in ihren Schoß und streichelte ihr die heißen Wangen; sie netzte die trockenen Lippen mit Wasser, besänftigte durch ihre Ruhe die Aufregung, welche auch des fremden Mannes sich bemächtigt hatte, und liebkoste die Katze, die, dem Erhaltungstrieb folgend, Schutz suchend vor Nanningas Knieen miaute. Nur die beiden Schafe verhielten sich still im Heu; sie waren satt und lagen trocken; weiter reicht das Bedürfniß dieser Thiere nicht.

So vergingen einige Stunden, die zu qualvoller Ewigkeit sich dehnten; da schrie der fremde Mann, dessen Spannkraft zu Ende war, laut auf: „Hilfe, Hilfe, Brot, Brot!“

Wahrhaftig, Brot! Das hatte Nanninga doch vergessen, und der Gast, welcher schon am Tage eine weite Fahrt gemacht, konnte vor Hunger und Entsetzen vielleicht rasend werden. Noch würde es ja gehen, aus den unteren Räumen Brot zu holen, es mußte gehen. Ohne Säumen stieg die alte zitternde Frau in den bereits brausenden Schlund; sie stand fest auf den Füßen, als das eisige Wasser ihr fast bis unter die Arme stieg, sie wußte, der letzte Brotlaib mußte noch trocken liegen; er war in einem hochhängenden Spind verwahrt.

Keinen Augenblick verlor die alte Frau die Besinnung. In der gähnenden Finsterniß tappte sie, bis sie das Gesuchte fand. Dann hastete sie zurück, weil Balken und Pfosten knirschten und Eisschollen gegen die Wände donnerten. Kaum war sie oben angelangt, von Nässe und Kälte, nicht von Furcht geschüttelt, da – ein schrilles Reißen und Brechen und – die nach Westen gerichtete Seite des Hauses stürzte zusammen, in den offenen, wankenden Giebel fanden Sturm und Regen ungehinderten Eingang.

„Hilfe! Hilfe!“ kreischte der Mann, und die Kranke lallte unverständliche Worte; das Wimmern der Kinder ward im wahnsinnigen Getöse der Elemente nicht mehr vernommen.

Hilfe? Selbst die alte Friesin lachte kurz und bitter auf. Hilfe? Auf Meilen an der Festlandsküste und auf allen friesischen Inseln kämpften jetzt Tausende mit der gleichen Noth; das wußte Nanninga nur zu gut.

„Ruhe, Herr, wir müssen aufs Dach, denn der Boden weicht.“

Die Entschlossenheit der weißhäuptigen Alten gab dem Fremdling die Besonnenheit zurück. Die alte Frau reichte ihm ein Stück von dem Brot, hieß ihn einen tiefen Trank aus dem Eimer thun und trank selbst; dann machten sie sich daran, Beta auf das Dach zu bringen. Nach manchem Versuche glückte es dem Manne, festen Fuß auf der abschüssigen Fläche zu fassen und mit der Kraft der Verzweiflung den Körper der Kranken empor zu ziehen.

„Haltet sie fest, recht fest!“ befahl Nanninga, „der Giebel hält noch, er wird von dem Schafstall gestützt; mit den Zwillingen komme ich schon nach.“

Wirklich nach kurzer Zeit kletterte die alte Frau mit keuchendem Athem, zwei festgedrehte Bündel tragend, in denen je ein Kindlein steckte, zu dem Manne empor. Hinter ihr krachte der Boden zusammen.

* * *

Am andern Tage herrschte Kirchhofsruhe an den gesammten deutschen Nordseeküsten. Ueberall hatte die Sturmfluth gleich verheerend gewirkt in Ost- wie in Nordfriesland. Es gab keine Insel, kein Küstendorf, wo nicht, Dämme durchbrechend und überfluthend, das Meer sich Wege gebahnt hätte, alles niederreißend in seinem grausamen Gange. Häuser und Aecker, Menschen- und Thierleben zu Hunderten vernichtet! Ein See, wo gestern noch die Frühlingssaat ihr schüchternes Grün zeigte; auf der leise athmenden Fluth trieben Balken und Geräthe aus menschlichen Wohnungen, Thierleichen und auch Menschen, deren Augen auf ewig geschlossen. Auf den Trümmern aber saßen im trostlosem Jammer die Ueberlebenden, nach ihren Lieben suchend.

Auch ein Schiffchen suchte seinen Weg durch die Wasserwüste; ein Mann stand darin aufrecht und hielt scharfen Ausguck nach allen Seiten.

„Wir sind falsch gekommen,“ sagte er zu dem Kameraden, welcher das Segel etwas mehr schießen ließ.

Dieser antwortete:

„Ne, dat Water steiht noch to hoch, dat mott Olderog sin.“

Was? Dieser aus fluthendem Meere ragende Trümmerhaufen soll sein Olderog, seine Hallig, sein Haus sein, wo er Mutter, Weib und – Kind zurückließ? Sein Haar beginnt sich zu sträuben, er stöhnt.

„Lat man sin, Arnt, Do büst’t nich alleen,“ tröstet der Genosse. Da aber weht ja von dem Trümmerhaufen ein Stück Tuch, es muß noch ein Lebender dort sein. Hin! Hin! Um Gottes willen rasch hin, zwischen Trümmern und Leichen hindurch. Nach zehn Minuten schreit Arnt:

„Mutter, Mutter!“

„Arnt, bist Du’s?“ tönt es zurück.

„Lebt Beta?“

„Ja!“

„Und – und – und das Kind?“

„Es sind zwei, sie leben und sind gesund!“

„Und Du, Mutter?“

„Lebe auch!“

„Wer ist der Mann bei Euch?“

„Ein Binnenländ’scher, der wollte die See in Winterpracht sehen. Das hat er gehabt. Nun lang’ ’n Tau ’rauf, daß mir Beta ’runterlassen.“ –

Das war die Nacht des 3. Februar 1825, in welcher die Hallig Olderog vom Meere verschlungen wurde.