Auf der Plattform des Straßburger Münsters
[679] Auf der Plattform des Straßburger Münsters. (Mit Illustration S. 677.) Langsam, aber stetig vollzieht sich gegenwärtig die nationale Wiedereroberung des wiedergewonnenen Elsaß-Lothringen, und Straßburg wird wie einst zu einer Burg des deutschen Geistes. Darum begrüßt man so freudig jede Nachricht von den Kundgebungen deutscher Wissenschaft in der Hauptstadt des Reichslandes, welche mit vollem Rechte im Volksliede „die wunderschöne“ genannt wird. Erst vor Kurzem tagten in ihren Mauern die aus allen deutschen Gauen zusammen geströmten Naturforscher und Aerzte. Mancher von ihnen wird wohl in Bewunderung gestanden haben vor dem Schönsten, was die Schöne aufzuweisen hat, vor dem herrlichen „steinernen Epos“, des Meisters Erwin von Steinbach, vor dem Straßburger Münster. Und Viele haben sich die Mühe nicht verdrießen lassen, über 330 Stufen zur 66 Meter hohen Plattform des Münsters emporzusteigen, und sahen sich durch das, was es so hoch da oben zu schauen giebt, reichlich für ihre Anstrengung belohnt.
[680] Vor Allem wird hier der Blick gefesselt durch die architektonischen Schönheiten des schlank aufsteigenden, die Plattform um 76 Meter überragenden Thurmes. Welch ein Geist spricht aus diesen wunderbaren Konstruktionen und Gliederungen der Riesenfensterbogen wie der überaus reichen Ornamente, welche, bis ins kleinste Detail fein ausgearbeitet, stets wechseln, so daß keines dem andern vollständig gleicht! Welche schöpferische Erfindungskraft gehörte dazu, alle diese Verbindungen von Säulen, Pfeilern, Stab- und Maßwerken zu ersinnen, alle diese wundersamen Verschlingungen und Lösungen der Ornamente, insbesondere an der prachtvollen Pyramide auszudenken!
Hat man sich aber sattgesehen an dem Wunderwerke, so lasse man die Blicke schweifen über die tief unten liegende alterthümliche Stadt mit ihren gekrümmten, engen Straßen und über die Mauern und Wälle der weit hinausgeschobenen Festungswerke auf das herrliche, von dem schimmernden Rheinstrom durchzogene Thal mit seinen grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern, seinen gewerbreichen Städten und blühenden Dörfern. Man schaue hin nach dem im Süden mitten in diesem Thale isolirt aufsteigenden Kaiserstuhlgebirge und der das linke Ufer des Stromes begleitenden schön-geformten Vogesenkette mit ihren hin und wieder durch eine Ruine, ein Schloß, ein Kirchlein geschmückten malerischen Kuppen. Man sehe endlich nach dem jenseits des Rheines das Thal begrenzenden Schwarzwalde, der fast in seiner ganzen Länge von Basel bis zu den Thälern der Oos und Murg sichtbar die gewaltigen Gipfel des Feldberg, des Belchen und des Kandel zeigt, ferner den schönbewaldeten Staufenberg mit seinem gleichnamigen Schloß, die kahle Hornisgrinde und den Knibis, und endlich im nördlichen Theile des Gebirgszugs den unfern der Heimath des Meisters Erwin, bei Steinbach gelegenen Yberg mit den Trümmern der Yburg, den Fremersberg und den hinter Baden-Baden emporsteigenden Gipfel des Mercuriusberges.
Ueber hundert Jahre sind verstrichen, seit der junge Wolfgang Goethe zum ersten Male (4. April 1770) diese Plattform betrat und mit Entzücken „die ansehnliche Stadt, die weit umherliegenden, mit herrlichen dichten Bäumen besetzten und durchflochtenen Auen vor sich sah“. Damals war das Elsaß ein Theil des französischen Reichs, ein „Halbfrankreich“, wie sich Goethe ausdrückt. Heute ist alles Land, was man von der Plattform des Straßburger Münsters überblickt, deutsch. Und daß es deutsch bleiben wird, dafür bietet eine sichere Bürgschaft die „neue Wacht am Rhein“, die starke Festung Straßburg selbst, das dahinter stehende geeinigte Deutschland und sein Volk in Waffen. M. B.