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Auf schwankem Boden

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Auf schwankem Boden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22-24, S. 692-701, 724-735, 764-768
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[692]

Auf schwankem Boden.

Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Von W. Heimburg.[1]

So stehe ich denn einmal wieder in dem niedrigen Zimmer des alten Gasthauses zur „Rothen Forelle“, dem ersten „Hotel“ in der kleinen thüringischen Stadt, und schaue über die einsame, wohlbekannte Straße mit dem holperigen Pflaster und der Reihe alter einstöckiger Häuser, denen man dem Pfingstfest zu Ehren neuen Anstrich gegeben hat. Ich sehe den Brunnen mit seinen drei immer fließenden, krystallklaren Wasserstrahlen; der kleine eiserne Ritter auf der schmucklosen Säule, der diese Strahlen entquellen, ist St. Martinus, der besondere Schutzheilige des Städtchens. Es hat sich nichts verändert, aber auch nichts, und die Linde vor der Thür des Gasthauses hat heut wieder ebensolche junggrüne Blätter wie damals, als ich im Schatten des ehrwürdigen Baumes zum ersten Male aus der Extrapost stieg, um meinen Fuß auf Borndorfer Gebiet zu setzen.

Zu beiden Seiten des mächtigen Hausthores bemerkte ich vorhin Maien, mit rothen Schleifen verziert, und auch, just wie dazumal, auf dem altersbraunen Flügel einen rothen Theaterzettel. Wäre mir nicht statt des alten weißköpfigen Wirthes ein frischer junger Mann mit neumodischer Höflichkeit entgegengetreten, wahrhaftig, ich hätte meinen können, es sei noch einmal der Pfingstsonnabend des Jahres 1867 erschienen, der lange, lange vergessen ist von den meisten Menschen, nur von mir nicht – und von einer andern auch nicht.

Ich wende mich um, denn das rothbäckige Zimmermädchen ist eingetreten und fragt, ab Madame irgend etwas wünsche, vielleicht Kaffee; der Kuchen sei auch eben aus dem Backhause gekommen.

„Danke, nein! Aber Sie können mir gewiß dieses Billet in die Pfarre tragen, liebes Kind? Recht bald, wenn es möglich ist. Sagen Sie auch der Frau Pfarrerin, sie solle nicht etwa hier herunter kommen, ich sei flinker als sie und wolle nur ein wenig Toilette machen, dann käme ich. Das Billet ist nur, damit sie nicht erschrickt.“

Das hübsche Mädchen sieht mich, indem es mir den Brief aus der Hand nimmt, ganz verwirrt an. „Madame meinen die Frau Oberpfarrerin Steinkopf?“ fragt es dann.

„Ja, versteht sich! Doch, bitte, geben Sie mir den Brief zurück, ich habe es mir anders überlegt. Bestellen Sie einfach, Fräulein Martha möchte doch einmal herunter kommen, wenn ihre Zeit es erlaubt.“

„Ein Fräulein?“ fragt das Mädchen.

„Ja, Fräulein Steinkopf.“

„Es ist kein Fräulein in der Pfarre.“

„Meine Gute! Sie sind wohl nicht von Borndorf?“

„Nein, Madame, aber ich diene seit einem Jahre hier in der ‚Forelle‘ und kenne alle Leute in Borndorf. Nein, ein Fräulein ist nicht in der Pfarre.“

„Schicken Sie mir, bitte, den Wirth herauf!“ rufe ich ärgerlich; und sie verschwindet.

Der überhöfliche junge Mann, der sein gelbes fettiges Haar wie der Oberkellner irgend eines ersten Berliner Hotels frisirt hat, was so gar nicht zu dem kleinen „Forellenhotel“ passen will, wirbelt ins Zimmer und fragt, womit er der „gnädigen Frau“ dienen könne.

„Ich vermag mich nicht mit Ihrem Zimmermädchen zu verständigen,“ sage ich, „ich will, daß man in die Pfarre hinausschicke, um dort eine Empfehlung von mir zu bestellen: ich lasse Fräulein Martha Steinkopf bitten, so bald als möglich mich hier zu besuchen.“

„Gnädige Frau, leider ist der Befehl unausführbar, denn – hm –“

„Ist das Fräulein etwa verheirathet?“ frage ich erstaunt.

„Gnädige Frau verzeihen – hm – gnädige Frau ist vielleicht verwandt mit Oberpfarrers – nicht? Oder nahe bekannt? hm –“

„Aber, Gott im Himmel, so reden Sie doch!“ rufe ich gereizt. „Ist sie todt? Nein? – Nun, es kann doch kein Mensch [693] verschwinden aus diesem Nest, und um von Zigeunern gestohlen werden zu können, ist sie schon zu groß!“

„Verzeihen gnädige Frau – Fräulein Martha Steinkopf – sie hieß ja aber gar nicht so – ist mit – etwa ein Jahr mag es sein – ist davongelaufen, einfach davongelaufen.“

Ich winke ihm Schweigen. „Ich danke Ihnen, Herr Wirth, ich erfahre das Nähere in der Pfarre selbst. Danke!“

„Und die Frau Oberpfarrerin – gnädige Frau gestatten doch, daß ich das noch bemerke – sollen, wie sich die Leute erzählen, tiefsinnig geworden sein darüber. Sie sollen kaum ein Wort mehr sprechen und –“

„Ich danke Ihnen,“ unterbreche ich ihn heftig, „schicken Sie mir Kaffee!“

Er sieht mich verdutzt an und geht.

Aus dem kleinen Stübchen ist plötzlich aller Sonnenschein gewichen und die Luft schwer und dumpf geworden, oder ist’s mir nur so? Ich sitze im Lehnstuhl und schaue die entsetzlich grüne Tapete an, klar denken kann ich noch nicht. Die Bildnisse des Landesfürsten und seiner Gemahlin an der Sofawand tanzen vor meinen Augen, und der alte Kaiser Wilhelm schüttelt den Kopf – Herr Gott, ich kann’s ja noch immer nicht fassen – meine Elisabeth tiefsinnig! Das sanfte stille Geschöpf, die gute treue Gefährtin der Mädchenzeit! Und das Kind geflohen! – –

Seit vier Jahren hatte ich Elisabeth nicht wiedergesehen. Damals war sie an unserer Küste in einem kleinen holsteinischen Seebade gewesen mit Mann und Kind, und welch ein reizender Backfisch war aus diesem Kinde geworden! Ich hatte glückliche Stunden mit ihnen verlebt; später waren noch manchmal Briefe zwischen uns hin und her geflogen; aber dann wurde ich nachlässig, große Reisen hatten mich verhindert, meine alten, liebgewordenen Korrespondenzen wieder aufzunehmen, ich hatte auch wohl einmal auf einen Brief keine Antwort erhalten, und die äußeren Zeichen der alten Freundschaft unterblieben schließlich. Aber als ich nun wieder häuslich geworden war auf Räcknitz, gaukelte mir eines Tages so verführerisch der Gedanke vor, Elisabeth zu überraschen, um einmal wieder wie früher so oft das Pfingstfest in ihrem Hause zu verleben, daß ich ihn auszuführen beschloß – und nun?

Eine Thräne nach der andern drängte sich mir aus den Augen, und das eine wußte ich genau, ich konnte sie so nicht wiedersehen; ich wollte nach einer Rücksprache mit dem Oberpfarrer, den ich morgen, sobald der Gottesdienst vorüber war, hierher zu bitten beschloß, um näheres zu erfahren, wieder abreisen.

Draußen hatte sich indessen der Himmel bezogen, drohendes Rollen verkündete ein Gewitter. Bald regnete es, und mehr als das; bei uns zu Hause sagt man: „Es pallscht in Ström.“ – Das Mädchen bringt endlich den gewünschten Kaffee, legt auch das Wochenblatt daneben. Es giebt so Augenblicke, wo man vor heftiger Erschütterung gar nichts fühlt, wo man thun und handeln kann, als wäre einem nichts Furchtbares zugestoßen. Ich trinke ruhig eine Tasse Kaffee, und am Fenster sitzend lese ich in dem Wochenblatt:

„Sonntag, den 5. Juni
Hoftheater in Borndorf
Große Vorstellung zum Benefiz
des Herrn Theaterdirekors von Kranowsky
Faust
eine Tragödie.“

Seltsam! Als ich an jenem Maitag 1867 zum ersten Male hier war, wurde auch „Faust“ gegeben, denke ich und fühle so etwas wie Schwindel bei den Erinnerungen, die mich bestürmen. Unaufhörlich strömt der Regen hernieder; das Dienstmädchen ist wieder hereingekommen und ich starre in das Wetter hinaus.

[694] „Wünschen Madame Theaterbillets zu nehmen? Es ist morgen des Direktors Benefiz. Thun Sie es doch, Madame,“ bittet das Mädchen, „ich glaube, der Truppe geht es schlecht. Eine ist dabei, die sitzt immerfort und weint; sie ist, seit sie hier angekommen sind, noch nicht aus der Stube gewesen, nur einmal abends. Immer ist sie da oben,“ sie deutet mit dem Finger nach der Decke, „und gestern hat sie geschrieen, daß ich es hier unten hören konnte, und als ich ’naufkomme, da liegt sie dem Direktor zu Füßen und bittet ihn, – und er ist böse, ach so böse.“

Das alles dringt fast unverständlich in meine Ohren. Ich nehme sechs Mark heraus und erhalte eine Menge rother Zettel dafür. Das Mädchen bedankt sich, als ob ihr etwas geschenkt worden sei, und geht. Ich greife noch einmal zum Wochenblatt. Hinter „Margarethe“ steht der Name der Darstellerin nicht, er ist durch drei Punkte ersetzt; unten auf dem Zettel steht: „Margarethe: Fräulein Korinska, engagirt am herzoglichen Hoftheater und nur noch kurze Zeit bei hiesiger Truppe.“

Ich muß den Namen Korinska schon einmal gehört haben! Dann ertappe ich mich dabei, daß ich zur Decke emporsehe; dort oben, ja, ich glaube, es war die nämliche Stube, wo damals –. Mit aller Gewalt zwinge ich mich, klar zu werden, meine Erinnerungen, die sich mit der Gegenwart verwirren, zu ordnen, und während ich in die Dämmerung hinausblicke und das Rauschen des Regens zugleich mit der wonnig duftenden Luft in das Gemach zieht, da steht sie plötzlich greifbar deutlich vor mir – die Vergangenheit:

Pfingsten 1867! Endlich war ich imstande, der Einladung Elisabeths zu folgen; ich that es um so lieber, als ich wußte, daß sie Trost und Anregung nöthig hatte wie das liebe Brot und die frische Gottesluft. Unsere Bekanntschaft stammte aus der Pension; sie, eine stille, zarte Natur, schloß sich innig an das wilde Mädchen da oben von der Nordsee an. Wie unser Wesen, so war auch unsere Auffassung der Dinge verschieden. Sie, zu leiser Sentimentalität geneigt, leicht verletzlich, aus einer sehr frommen Familie stammend, kannte kein höheres Verlangen, als Diakonissin zu werden, womöglich an einem Kinderkrankenhause, denn Kinder, besonders die zarten, die immerfort gehütet werden müssen, liebte sie unsagbar, während mein Sinn nach einem großen Rittergute stand, natürlich auch nach dessen Besitzer und – seiner Zeit nach einer wohlgefüllten Kinderstube mit wenigstens sieben Kleinen. Ich dachte mir es herrlich, so recht herumwirthschaften zu können, über Mägde und Diener zu herrschen, meine wilden Jungen mit dem spanischen Röhrchen in Zucht zu halten und an der Seite meines Mannes in die Felder zu fahren, um den Stand der natürlich immer vorzüglichen Ernte, denn ein echter, rechter Landwirth mußte er sein, zu bewundern.

Elisabeth war Rheinländerin und sprach so „lieb“ nach meinen Begriffen, daß ich ganz entzückt zuhörte, wenn sie mit ihrem „nit“ und „als einmal“ anhub. Dafür lachte sie zuweilen still über mein ehrliches Holsteiner Platt, aber nur so lange, bis ich ihr einmal etwas von Klaus Groth – ich glaube, es war das rührende Gedicht „Min Jehann“ – vorlas und übersetzte.

Als wir eingesegnet waren und aus der Anstalt entlassen wurden, kam die Trennung. Sie ging in den schwesterreichen Familienkreis nach Bonn zurück – ihr Vater war ein höherer pensionirter Offizier; ich in die Einsamkeit unseres Gutes. Wir schrieben uns fleißig. Dann kam einmal – der Brief hatte sich mit dem meinigen, der die Kunde meiner Verlobung enthielt, gekreuzt – die Nachricht von ihr, daß sie in ein Diakonissenstift zu Berlin eingetreten sei und sich sehr glücklich in ihrem Berufe fühle. Zu meiner Hochzeit kam sie und stand im Kreise der geputzten Brautjungfern in der Kirche schier fremdartig anzuschauen mit dem schlichten schwarzen Kleide, das ihr Beruf vorschrieb. Das liebe Gesichtchen, umrahmt von der Diakonissenhaube, sah so engelhaft zufrieden aus, daß ich mich meines irdischen Glücksrausches beinahe schämte.

„Seg, min oll leiw Deern,“ fragte ich, als sie mich umarmte und beglückwünschte, „bist Du denn nu glücklich un tofreden mit Din Los?“

„Lieb Annchen, frag nit so, Du mußt’s ja sehen,“ war ihre Antwort. „Sehr glücklich bin ich, sehr, und ich wünsche Dir ebenfalls so viel Glück, wie’s der liebe Gott nur geben kann.“

Das waren für lange Zeit die letzten Worte; ihr stilles Gesicht nickte mir noch einmal mild freundlich zu aus dem Schwarm der Gäste, als ich abends an meines Mannes Seite unter Musik, Hurrah und Fackelglanz vom väterlichen Hofe fuhr, um in den weiten Räumen von Schloß Räcknitz als Herrin zu walten.

Als ich nach zwei Jahren, eine tieftrauernde Witwe, allein in dem alten Schlosse saß, kam unter vielen, vielen andern Schreiben, die trösten wollen und es doch nicht können, auch ein Brief von Elisabeth. Es war der einzige unter allen, der mich zum Weinen brachte, bis jetzt hatte ich noch keine Thräne gefunden. Sie schrieb, daß sie meinen ungeheuren Verlust um so tiefer zu fühlen vermöge, als auch sie jetzt mit ganzem Herzen einen Mann liebe, dem sie in einiger Zeit angetraut werden würde.

„Es bringt mich die Liebe zu ihm Dir näher wie je, Anna,“ hieß es unter anderm, „könnte ich Dir nur den Trost verschaffen, den sein Wort zu geben vermag! – Sobald wir in unserem einfachen Hilfspredigerhäuschen eingerichtet sind, mußt Du kommen, Anna; versprich es mir!“

Es vergingen aber Jahre, ehe ich diesen Besuch ausführte. Ich sollte meinen Gram überwinden lernen, ward in der Welt umhergeschleppt und legte damals vielleicht den Grund zu meinem Nomadenleben, das ich bis jetzt mit Vorliebe führe, denn Ruhe habe ich eigentlich nicht wieder gefunden seit dem Tode meines Mannes. Im Sommer regierte ich Räcknitz, das mir zugefallen war, und im Winter war ich mit einer Gesellschafterin bald in Florenz, bald in Rom, in London oder Paris; ja, sogar Petersburg war so wenig sicher vor mir wie Konstantinopel oder Athen. Trotzdem blieb ich von Elisabeths Leben unterrichtet. Ich wußte, daß ihr Mann mittlerweile Oberpfarrer geworden war, daß sie in das altehrwürdige Pfarrhaus in Borndorf übergesiedelt seien unter Glockengeläut und über blumenbestreute Wege, und daß in den weiten altväterlichen Stuben sich drei Blondköpfchen tummelten, die das größte Entzücken meiner kleinen heiligen Elisabeth ausmachten.

Da war ich auch mal wieder zu Pfingsten in Räcknitz gelandet, irgendwo her – ich glaube, von den italienischen Seen. Meine Koffer waren noch nicht ausgepackt, ich hatte eben den Inspektor über Ernteaussichten gehört und war im Begriff, in meinem kühlen Wohnzimmer einen langen Schlaf zu thun, als mir das Stubenmädchen einen Brief brachte, der am Morgen schon angelangt war.

„Verehrte Frau!“ begann der von kräftiger Männerhand niedergeschriebene Brief. „Da meine arme Elisabeth zum Schreiben noch immer nicht fähig ist, so beauftragt sie mich – wir nehmen an, daß Sie wieder in Ihrer Heimath sind – Ihnen mitzutheilen, daß wir in der Zeit vom 15. bis 25. Dezember unsere drei lieben Kinder an der Diphtheritis verloren haben! Gottes Hand ruht schwer auf uns, Er allein weiß, weshalb Er uns dies reiche Erdenglück wieder genommen hat. –“

Weiter las ich nicht. Ich steckte den Brief in die Tasche meines Reisekleides, sagte meiner Wirthschafterin und den Beamten Bescheid, daß ich abermals fortmüsse, wünschte meiner die Hände ringenden Gesellschafterin vergnügte Feiertage und fuhr nach Verlauf einer halben Stunde, mit dem Nöthigsten versehen, zur nächsten Bahnstation, wo ich den Schnellzug noch glücklich erreichte, der mich wieder in die Richtung führte, woher ich heute früh gekommen war.

Am Pfingstsonnabend, mittags, stand ich vor der Posthalterei des kleinen Städtchens, in dem mich die Eisenbahn im Stiche ließ, so daß mir nichts weiter übrig blieb, als mit Extrapost zu reisen, wenn ich überhaupt noch heute Borndorf erreichen wollte. Diese Fahrt und alles, was sich daran reihte innerhalb der nächsten Tage, ist mir bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich im Gedächtniß geblieben. Der Weg stieg durch herrlichen mit lenzgrünen Buchen gemischten Tannenwald langsam bergan, die Sonne spielte auf dem Waldboden, die Luft war duftig nach einem warmen Regen und der Himmel leicht bewölkt. Es schien alles dem Feste entgegen zu jubeln und zu jauchzen, und das mochte auch wohl der Postillon aus dem Bocke denken, der sich auf den morgenden Tanz freute, denn er blies schier übermüthig und in ganz grimmigen Tönen:

„Du hast ja die schönsten Augen –“

Ich habe es nie vermocht, jemand im Frohsein zu stören durch meine trübe Stimmung; heute aber wurde es mir sauer, diese Musik anzuhören. Als dann jedoch die lustige Melodie mit aufsteigender Nachmittagskühle anfing in eine melancholische überzugehen und „Es ist bestimmt in Gottes Rath“ mich thatsächlich bis zum Weinen brachte, da bat ich den Mann, lieber innezuhalten. Die Töne summten mir noch in den Ohren, als mein Wagen über das Pflaster des Städtchens rollte, in dem es nach Kuchen und Maiengrün duftete, und vor der Thür der „Rothen Forelle“ hielt.

[695] Ich nahm mir kaum Zeit, das Zimmer anzusehen, das der alte Wirth mir durchaus zu zeigen wünschte; ich fragte nach dem Pfarrhaus von St. Martin und wurde in eine Straße gewiesen, die im letzten Abendsonnenschein steil vor mir aufstieg. Ja, da schauten richtig zwei ehrwürdige alte Thürme über die Dächer hinweg, und eben begann das Pfingstgeläute. Die scheuernden, fegenden Mädchen vor den Hausthüren, die jungen Bursche, welche die Maien festnagelten zur Seite der Steinbank, hörten auf mit ihrer Hantierung und horchten einen Augenblick auf die mächtigen Zungen der Glocken; schier betäubend schwirrten in dieser Nähe die Klänge in mein Ohr. Nur die blondköpfigen Kinder lärmten weiter in der Vorfreude des morgenden Festtages. Ich hielt eine der hübschesten kleinen Dirnen am Zopf fest.

„Komm,“ bat ich, „führe mich nach dem Pfarrhause!“ – Das liebe Ding sprang eifrig vor mir her, und in wenigen Minuten hatte ich das der Kirche gegenüberliegende Haus erreicht. Eine hohe dunkelbraune Hausthür mit blitzendem Messingklopfer, die steinernen, fein gemeißelten und mit Figuren aus der biblischen Geschichte geschmückten Einfassungen der Fenster und Thüren, sowie der schiefe Oberstock von Fachwerk, mit dem ebenso schiefen Erkerlein daran, in dessen Gebälk Sprüche und Daten eingegraben waren, ließen das hohe Alter des Hauses erkennen.

Ich trat ein. Ein ungeheurer Flur empfing mich, die Schelle rasselte überlaut durch den Raum, und gleich darauf erschien eine alte Frau; sie trat aus der nach dem Garten zu liegenden Küche.

„Die Frau Pfarrerin ist nach dem Kirchhof gegangen,“ antwortete sie auf meine Frage nach ihrer Herrschaft, „und der Herr Pfarrer studieren im Garten seine Predigt für morgen.“

Da ich den Pfarrer nicht stören wollte, ließ mich die Alte in Elisabeths Zimmer treten. Es wurde mir auf einmal ganz beklommen; machte es der starke Fliederduft, der einer großen Vase voll Blüthen entquoll, ober die leise einbrechende Dämmerung in dem unbekannten Raum, oder die kleinen getragenen Kleidungsstücke, die dicht vor mir auf dem Tische ausgebreitet lagen und einen Geruch ausströmten, wie er lange nicht geöffneten Kleiderspinden eigen ist – ich weiß es nicht. Mir erschienen diese kleinen, entschieden erst kürzlich wieder geordneten Sachen hier ganz grausig; gleichwohl hingen meine Blicke wie gebannt an den Gegenständen; ich vermochte noch deutlich die Flecken auf einem abgeschabten Sammethöschen, das verblichene Blau der Schleife des Säuglingskeides und die zerrissene Kittelschürze mit einem Tintenklecks zu erkennen; daneben Spielzeug: zerbrochene Thierchen, Puppen u. s. w. Dazu der Duft verwelkter Cypressenkränze, vermengt mit jenem der frischen Blumen, denn in dem Puppengeschirr hatte eine Hand, wie Kinder es zu thun pflegen, mit Wiesenblumen „Kochen“ gespielt. Der gelbe feste Stengel der Maßliebchen lag da zierlich als goldgelbe Butter servirt auf einem winzigen Teller, und die weißen Blätter schwammen in der kleinen mit Wasser gefüllten Terrine als Reissuppe.

Mich schauderte es förmlich. Ich ging, unfähig, den Anblick länger zu ertragen, zum Fenster hinüber und öffnete es, indem ich die stille Straße hinabsah, auf der Elisabeth kommen sollte.

Sie muß sehr krank sein, sagte ich mir, sehr krank! Und das Mitleid kam über mich mit erschütternder Gewalt. Ich meinte, die lieben Blondköpfchen aus den Ecken des spukhaften Zimmers auftauchen zu sehen, lächelnd, rosig – und sah dann wieder kleine weiße todtstarre Gesichter unter Blumen hervorlugen, die kein noch so heißes Gebet wieder lächeln machen konnte. Gott hatte mir viel versagt, ich hatte gemurrt und geweint, aber besser – nie ein Kind besitzen, als es trotz allen Betens und Ringens hergeben zu müssen, machtlos der finstern Gewalt gegenüber, ob man gleich das eigene Herzblut opfern möchte, um das süße Leben zu erhalten. Es muß übermenschliches Leid sein! – Ich bekam plötzlich Angstzustände in dieser Umgebung. Schon im Begriff, nach der Küche zu flüchten, sah ich eine schwarze Frauengestalt durch die Dämmerung auf der Straße daherkommen.

Gottlob, es ist Elisabeth!

Sie trat gleich darauf in die Stube; das Mädchen hatte ihr von einer „Fremden“ gesagt.

„Anna?“ klang ihre Stimme. „Ja, ich wußte gleich, Du bist es – aber bitte, komm hinaus, das ist nichts für Dich –. Du, verzeihe nur – Kathrine ahnte nicht –“

Und im Wohnzimmer küßte sie mich, und als sie mein blasses Gesicht sah, da tröstete sie mich mit der alten süßen Stimme.

„Armes liebes Aennchen, das kannst Du ja nicht verstehen, und das drüben ist auch nur für mich da.“ Und noch einmal schlang sie die Arme um meinen Hals und begann zu schluchzen, ward aber ihrer Bewegung sofort Herr.

„Laß uns gar nicht davon sprechen,“ flüsterte sie, und ihre klaren Augen sahen ganz starr aus, „hörst Du, ich bitte Dich; gar nicht davon sprechen, denn das kann ich nicht ertragen.“

Und mit einer Fassung, über die ich erstaunen mußte, ging sie den Pflichten der Hausfrau nach, der ein lieber Gast unverhofft geworden ist; aber sie war doch anders wie sonst, die Bewegungen gewaltsam, das Auge unstät, und bei einer Anrede fuhr sie erschreckt auf.

Im Gartenhause war der Tisch gedeckt; zum ersten Male sah ich Elisabeths Gatten. Es war ein großer, ernster, traurig blickender Mann, an den Schläfen stark ergraut, um den Mund einen milden Zug. Mit seiner Frau ging er so zart und sorgsam um, als sei sie ein Kind. Er danke mir für mein Kommen, aber vermied es vollständig, die Veranlassung desselben zu berühren. Elisabeth redete kaum ein Wort. Ich brachte endlich das Gespräch in Fluß, indem ich von meinen Reisen erzählte, und fand in ihm einen vorzüglichen Kenner Roms; er hatte mehrere Winter als Reisebegleiter zweier Prinzen dort zugebracht.

Wir hatten wohl bis zehn Uhr im Dunkeln gesessen und die wundervolle Kühle der Mainacht genossen, als sich die Stimme der Köchin vom Hause her vernehmen ließ: „Frau Pfarrer!“

Elisabeth erhob sich sofort und ging hinüber. Ich saß allein mit dem Manne, dessen Kopf sich nach der Richtung gewendet hatte, in der seine Frau verschwunden war.

„Sie hat sich sehr verändert, nicht wahr?“ fragte er.

„Ja!“ sagte ich und schluckte an meinen Thränen.

„Es ist hart, was uns getroffen hat,“ fuhr er fort, „aber noch Härteres droht, wenn Elisabeths Zustand so bleibt. Es muß etwas geschehen, das sie aus diesem Zustande völliger Willenslosigkeit aufrüttelt; der Arzt sagte mir, es sei die höchste Zeit. Sie macht ganz unsinnige Geschichten. Ihre Hausfrauenpflichten erfüllt sie zwar still und musterhaft wie immer, aber sie spricht nie mehr ein Wort über ihre verlornen Lieblinge, sie weicht einer gemeinschaftlichen Erinnerung mit mir förmlich aus, und dabei treibt sie einen ganz kindischen Verkehr mit den Andenken an sie. Jetzt, ich weiß es ganz genau, jetzt sitzt sie zwischen all den kleinen Sachen, die den Kindern gehörten, und stachelt ihren Schmerz in gewaltsamer Weise auf. Es ist gerade, als ertappe sie sich auf einer schweren Sünde, wenn sie sich einmal unbewußt hinreißen läßt, dem Leben seinen Zoll zu zahlen. Neulich, zum Beispiel, schleppte ich sie mit in die Kirche, wo ein berühmter Orgelspieler ein Konzert gab auf der schönen alten Bachorgel. Sie liebt Musik; ich sah es ihr an, sie vergaß ihr Leid unter diesen Klängen; etwas von dem weichen süßen Ausdruck, den ich so liebe an ihr, erschien auf dem Gesichte, und dann –“ er stockte. – „Ich hatte nur kurz einmal meinen Blick gewandt,“ fuhr er fort, „da hörte ich mitten in einer wunderschönen Stelle das scharfe Klappen unserer Emporenthür und – sie war verschwunden. Ich eilte ihr nach und fand sie hier, in ihrem Zimmer, das Gesicht in einem Kleidchen ihres Jüngsten geborgen, mit bebenden Gliedern und heißen Thränen sich anklagend, daß sie auch nur einen Augenblick vergessen konnte!“

„Aber,“ fragte ich ergriffen, „wo ist Elisabeths Ergebenheit in den Willen Gottes geblieben?“

Eine Weile schwieg er; „Frau Anna,“ sagte er endlich, „welcher Mensch hat nicht einmal gezweifelt an einem gütigen barmherzigen Gott? Wie viele giebt es, die angesichts solcher Prüfungen imstande sind, zu sprechen: ‚Dein Wille geschehe, Herr, ich murre nicht!‘ Es ist so echt menschlich, daß sie fragt: ‚Warum gabst Du, um wieder zu nehmen?‘ – Haben Sie nicht Aehnliches gefragt, als Sie am Sarge Ihres Mannes standen, der Ihnen in frischer Jugend entrissen wurde?“

„Ja!“ gestand ich ehrlich zu.

„Nun habe ich ihr gesagt, sie sei noch reicher als viele. Sie hat liebe Geschwister; eines von ihnen, ihren jüngsten Bruder, will ich zu Johanni in mein Haus nehmen, er soll das hiesige Gymnasium besuchen. Sie hat viele Freunde in der Stadt, die sie durch ihr liebliches, kindliches Wesen gewann; wir fühlten es so recht in den Schmerzenstagen. Und sie hat doch auch mich,“ setzte er leise hinzu.

Es klang rührend bescheiden, was er zuletzt sagte.

[698] Er brach ab. Eben schritt ihre dunkle Gestalt daher. Sie hatte einen merkwürdig leichten Gang, man hörte kaum ein Steinchen unter ihrem Fuß knirschen.

„Dein Zimmer ist bereit, Anna,“ sagte sie.

„Das ist ja schön, Elisabeth,“ erwiderte ich, „aber ich muß nothwendig noch einmal in das Gasthaus, um meine Sachen zu holen, und da bitte ich mir Deine Begleitung aus – am liebsten wäre es mir, Ihr kämet beide mit.“

„Ich bitte, mich zu entschuldigen, aber Hermann, nicht wahr? Hermann, Du –“

Er war bereit, und bald gingen wir mit einander die Straße hinauf. Die Nacht hatte so etwas Festliches heute, es roch nach den frischen Maien, ein wunderbarer Mondenschein lag wie Silberduft über dem Städtchen und den Bergen jenseit desselben, die Brunnen plätscherten leise und irgendwo ward eine Harmonika gespielt.

„Ach, wie wär's möglich dann –“

sang eine helle Mädchenstimme.

Unter der Linde meines Gasthofes saßen alle Bänke voll Menschen und die Bierseidel klapperten dazu; ein ganzes Rudel Jenenser Studenten, deren bunte Käppchen im Lichte der Laterne aufleuchteten, sangen da ihre Lieder, eine ausgelassene Gesellschaft. Auch zwei Damen bemerke ich darunter, und ich erinnere mich, wie ich mich nach der einen nochmals umwandte; – es war eine schlanke jugendliche Frau, die eine förmliche Krone von mattblondem Haar auf dem Haupte trug; sie stand mit untergeschlagenen Armen am Stamme des Baumes; es lachte alles an ihr, der rothe Mund und die großen dunklen Augen. Der hübsche Student vor ihr mochte ihr eben etwas sehr Angenehmes gesagt haben, als er ihr zutrank.

Ich war stehen geblieben. Menschliche Schönheit, solche wirklich überraschende Schönheit hat mich immer zur Bewunderung hingerissen. Sie bemerke wohl mein Anstaunen, denn diese großen schwarzen Augen flammten plötzlich drohend zu mir herüber und ein verächtlicher Zug legte sich um ihren Mund. Dann nahm sie ein Glas vom Tische und trank langsam, ihre Blicke jetzt wieder auf den Studenten richtend.

„Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren“

– begann der Chorus, während ich, mich nur schwer von dem fesselnden Bilde trennend, in die Hausdiele trat. Der Pfarrer war längst in die völlig leere Wirthsstube gegangen; er wolle dort auf mich warten, hatte er gesagt.

Ich suchte ihn auf und versprach ihm, so rasch als möglich zurückzukommen; dann begann ich oben mit thunlichster Eile meine Siebensachen, deren ich noch wenig ausgepackt hatte, mit Hilfe des Stubenmädchens zusammenzuräumen.

„Sagen Sie,“ versuchte ich das Mädchen auszufragen, „wohnt die schöne blonde Frau hier im Hause – die da unten bei den Studenten steht? – Sie ist wohl eine von den Schauspielerinnen?“

„Hm! – Die!“ sagte das Mädchen verächtlich; „ich begreife nicht, daß der Herr die Leute im Hause behält. Ihr Mann ist ja ziemlich ordentlich, aber sie, sie denkt, weil sie Frau Direktorin ist, sie kann nur befehlen; und außerdem verträgt sie sich nicht mit ihrem Mann, es ist ein Leben wie zwischen Hund und Katze. Madame können froh sein, daß Sie hier hinauskommen, oben darüber wohnt die Gesellschaft; der Lärm ist entsetzlich, man glaubt manchmal, der Mann schlägt sie gleich todt.“

Als ob die Wahrheit des Gesagten sofort bestätigt werden sollte, flogen plötzlich da draußen auf dem Gange Schritte vorüber, denen Männertritte nachpolterten, und gleich darauf schallte der Angstschrei einer weiblichen Stimme über mir, dem ein schwerer Fall folgte. – Gott weiß, ich habe nie danach getrachtet, in Streitereien meiner Mitmenschen mich einzumengen, aber hier hatte ich keinen freien Willen, es war, als ob mir die Schönheit des jungen Weibes es angethan hätte. Ich lief über den Flur, die Treppe hinauf; – unten mochte man nichts gehört haben, niemand kam, auch war es jetzt still geworden. Schon wollte ich umkehren, da erblickte ich in dem flimmernden Lichte einer kleinen Oellampe, die trübselig auf einem Bördchen als Flurbeleuchtung diente, dicht vor mir auf der obersten Stufe ein Kind.

Es saß im Hemdchen da, ein paar dicke Thränen auf den vollen Bäckchen und doch lachend mit seinem kleinen rothen Mund und aus einem Paar wanderbar schwarzer Augen. Das Geschöpfchen mochte drei und ein halbes Jahr alt sein, das ich da anschaute, als sähe ich ein Wunder. Ich habe viele reizende Kinder gesehen; in Spanien kleine Wesen, wie sie Murillo malte, blonde englische Köpfchen, die etwas Ueberirdisches an sich hatten, und einmal ein Zigeunerkind, das so schön war, daß ich es am liebsten seinen Eltern abgekauft hätte – so etwas Liebliches aber wie hier vor mir hatte ich doch noch nicht erblickt.

„Papa meine Mama haut,“ sagte es lächelnd, und erschreckt schmiegte es sich im selbigen Augenblick an mich, als du drinnen eine heftige Männerstimme anhub:

„Ich bitte Dich nur am Eines, Tosca, reize mich nicht mehr durch Reden auf! Du weißt, ich habe Dich wahnsinnig lieb, aber wenn Du mich zur Eifersucht aufstachelst, so kenne ich mich nicht mehr! Es ist genug davon gewesen in der letzten Zeit; um des Kindes willen laß ab von Deinem Treiben, ich ertrage es nicht –“

Es hatte zuletzt ganz weich geklungen.

Eine Gegenantwort mochte gekommen sein, obgleich ich nichts vernommen hatte, denn jetzt bat der Mann schluchzend: „Tosca, das wirst Du nicht thun, Du wirst mich nicht verlassen, Du kannst es ja nicht!“

Ich stand ziemlich rathlos da. „Geh zu Deiner Mutter, Kleine!“ bat ich, „Du erkältest Dich hier, es ist kühl.“ Ich versuchte die Aermchen abzustreifen, um mich frei zu machen, da erhob sie ein klägliches Geschrei. Im Augenblick wurde die Thür geöffnet, und die Frau stand vor mir. Das Haar hing ihr wirr um den Kopf, das weiße Gesicht war auf der linken Seite stark geröthet, und der zierliche Spitzenbesatz am Aermel schien zerrissen.

„Ihre Kleine bringe ich Ihnen, Madame,“ sagte ich gefaßt, „sie saß an der Treppe und hätte leicht hinabstürzen können.“

„Danke sehr, die fällt nicht,“ erhielt ich zur Antwort, „sie kennt auch unsere Thür.“ Und indem sie das Kind an sich riß, verschwand sie mit einem kurzen: „Bemühen Sie sich nicht weiter“ in der Thür ihrer Stube, die sie krachend hinter sich zuwarf.

Ich entschuldigte mein längeres Ausbleiben unten bei meinem Gastfreund, der still noch auf derselben Stelle im Wirthszimmer meiner harrte; und vom Hausknecht begleitet, traten wir den Rückweg an. Die Herren Studenten unter der Linde waren jetzt nach dem Gartensaal übergesiedelt, denn der Nachtwächter mochte den Gesang draußen, den Bürgern zuliebe, unterbrochen haben. Nur einer stand nach da und starrte zu ein paar erleuchteten Fenstern im Dachgeschoß empor wie verzaubert.

Ich schlief in dieser Nacht wenig; die Nachtigallen hatten es im Garten fast gar zu eifrig mit dem Singen, auch war ich übermüdet von der langen Eisenbahnfahrt der letzten fünf Tage. Ich dachte nach über die beiden Menschenpaare, in deren Leben ich heute einen Einblick gethan hatte; das eine im Frieden und Schutz geordneter Verhältnisse, das andere auf schwankendem Boden, umhergeworfen wie ein Schiff im Sturm, heute hier, morgen dort, und beide unglücklich. Es waren keine Pfingstgedanken, die mich beschäftigten, ich gestehe es offen; das Leben zieht uns oft gewaltsam ab von dem, was wir eigentlich thun sollten: es giebt nichts Widerspenstigeres als Gedanken, sie lassen sich nicht ablenken von dem Gegenstand den sie just erfaßt haben, und jemehr man ihrer Herr zu werden sucht, desto störrischer sind sie. – Erst gegen Morgen schlief ich ein und verschlief – o Schande! – die Predigt. Ich glaube, es war elf Uhr, als Elisabeth vor mir stand in ihrem tiefschwarzen Kleide und mich besorgt ansah.

„Warum wecktest Du mich nicht?“ fragte ich.

„Sei froh, daß Du schlafen kannst, Anna; was versäumst Du auch?“

„O, ich habe die Kirche und meine Morgenandacht versäumt, und das in einem Predigerhause!“

Sie antwortete nicht. Wie in unserer Mädchenzeit begann sie mir zu helfen beim Anziehen, und ich ließ es geschehen. Mit derselben leichten Hand kämmte sie mir das Haar aus.

„Ja, Lieschen,“ seufzte ich, „ik hev all grise Haar da mit tüschen. Kind, wir sind ja eigentlich noch jung; was sind dreißig Jahre?“

Sie schüttelte den braunen Kopf. „O, ich bin so alt geworden seitdem, Anna.“

„Ja, Du thust so, es ist aber unrecht, Elisabeth.“

„An Jahren nicht, aber hier!“ Sie zeigte auf ihr Herz.

„Min fötes Kind! Bist Du denn Deinem Mann nicht ein bißchen mehr gut?“

Sie sah mich ängstlich an. „Wir verstehen uns nicht mehr, Anna, er kann mich ja auch nicht mehr verstehen. Aber sprich nicht mehr davon, sprich nicht davon –“

[699] Ich hielt sie fest. „Ja, sprechen wir gerade davon! Wenn Du noch einen Funken Freundschaft für mich besitzest, so stehe mir jetzt Rede und Antwort! Weshalb glaubst Du, daß Ihr Euch nicht mehr versteht, Elisabeth?“

„Er hat die Kinder kaum vermißt!“ stieß sie heftig hervor, „er liebte sie nicht, duldete sie nur; sie störten ihn – –“

„Um Gotteswillen, Elisabeth, wie ungerecht macht Dich der Schmerz!“ rief ich entsetzt.

„Nein, Anna, nein, nicht ungerecht; es ist leider die Wahrheit.“

„Elisabeth, bitte, sage, woraus Du das schließt.“

Sie zögerte noch ein Weilchen, dann begann sie stockend, mit fast heiserer Stimme. „Die beiden Jüngsten waren den Tag vorher begraben, aber der Junge war noch gesund. Ich hatte ihn in den Garten geschickt, damit er soviel als möglich ins Freie käme, um dem Ansteckungsstoff im Hause zu entgehen. Es war ein ungewöhnlich lebhaftes Kind. Ich stand am Küchenfenster und sah zu, wie er auf dem Rasen umher tollte; es war sonst den Kindern verboten, aber ich dachte heute nicht daran, ich hatte nur die Hände gefaltet und alles war bei mir ein Gebet: ‚Lieber Gott, laß mir den Einzigen, laß ihn mir!‘ – In Hermanns Studierstube, Du weißt, sie liegt nach dem Garten, hatte es schon ein paarmal an die Scheiben geklopft – ich glaube, Hermann arbeitete, er konnte arbeiten, er mußte vielleicht – dann rief er hinaus: ‚Johannes, sei still, augenblicklich gehorchst Du!‘

Ich weiß nicht, was dem sonst so folgsamen Kinde einfiel – war es ein unbewußter Abschied von seinem jungen lieblichen Dasein, war es schon Fieber, was hinter der kleinen Stirn raste – er stand einige Sekunden still, um dann auf die Schaukel los zu stürzen und mit einer Heftigkeit zu schaukeln, daß ich vor Angst, er könnte sich mit dem bald hoch in die Luft fliegenden, bald am Boden dahin sausenden Brettchen überschlagen, hinauseilte, um ihn zur Ruhe zu mahnen. Als er mich über den Grasplatz daherlaufen sah, schrie er: ‚Hussa, Mama, jetzt fliege ich in den Himmel, ganz hoch, ganz hoch!‘ – ‚Johannes!‘ rief ich angstvoll, aber da stand Hermann schon hinter mir, griff erst nach den Stricken der Schaukel und dann nach dem Kind. – Ich sehe noch die großen Blauaugen unter dem Pelzmützchen, die sich mit Thränen gefüllt hatten, und die Angst in dem kleinen Gesicht.

‚Hermann!‘ schrie ich, ‚schlage ihn nicht, schlage ihn heute nicht!‘ Aber es war zu spät – das gezüchtigte Kind – die Schläge waren nicht einmal stark gewesen – lag plötzlich wie bewußtlos mir in den Armen. Ich war hingekniet mit ihm auf den feuchten Rasen, und endlich sagte es leise: ‚Mama, ich habe so Kopfschmerzen,‘ und dabei griff es nach seinem Hälschen, und dann“ – Elisabeth hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und mir den Rücken zugewandt – „dann ward es krank, und –“

Was sie noch sagte, ging in einem Schrei, so weh und jammernd, unter, daß ich alles verstand, daß ich sie in beide Arme nahm und mit ihr, die wie außer sich an meiner Brust schluchzte, weinte.

„Elisabeth,“ sagte ich endlich, „Du weißt, wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Er hat ja nur die kleine Unart strafen wollen. Sieh –“

„Das,“ stieß sie hervor, „das hat er mir auch gesagt, aber Du weißt nicht, wie das war. Diese Veränderung in dem lieben Gesichtchen, diese großen angstvollen Blicke – was hatte er denn gethan, der kleine Kerl? Wild war er gewesen, wie Knaben es sind. Du kannst es nicht wissen, Anna, wie die Augen der Kinder blicken, wenn ihnen unrecht geschieht, so fragend, so todttraurig. Das letzte auf Erden war ein Schmerz, der ihm angethan ward, weil er gejubelt und gelacht hatte! Ich kann seitdem kein Kind mehr weinen hören, ich bin wie von Sinnen, wenn eins geschlagen wird, und ich habe Hermanns Hand von der kleinen Leiche hinweggestoßen wie außer mir. Ich weiß, ich bin anders wie sonst, aber man hat mich erst dazu gemacht – –“

So schluchzte sie fort, als bräche heute erst der ganze wahnsinnige Schmerz hervor. „Es ist eine Scheidewand zwischen ihm und mir auf ewig!“ schrie sie. „Gott erbarme sich meiner, aber so kann ich nicht weiter leben!“

Ich fand kein Wort des Trostes; sie erwartete es auch nicht. Sie drückte mir die Hand, und mit einem leise geflüsterten „Laß es genug sein!“ verließ sie das Zimmer.

Beim Mittagessen ward kein Wort gesprochen; Elisabeth verschwand nach Tisch in ihr Zimmer, der Pfarrer ging in die Kirche, und auch ich nahm das Gesangbuch und schritt hinüber zum Gotteshause. Ein junger Diakonus predigte vor etlichen Kindern und alten Mütterlein. Alles, was gesunde Füße hatte, war draußen in den Wäldern, um Pfingsten zu feiern. Ich entschloß mich, etwas umher zu schlendern nach dem Gottesdienst, und führte auch meinen Entschluß aus. Es hat für mich immer einen unsäglichen Reiz gehabt, in so kleinen alten Städten auf Entdeckungsreisen auszugehen; zudem litt es mich kaum in dem Hause.

Die Straßen lagen unter der strahlenden Pfingstsonne wie ausgestorben; ich ging so hindurch, ohne nachzudenken: wohin? Hier und da saßen einige alte Leute auf der Bank vor den Häusern und genossen das Fest auf ihre Weise. Einige breitere, hübschere Straßen durchwanderte ich, freute mich über alterthümliche Häuser, stand dann sehr erstaunt vor dem stillen, jetzt unbewohnten Fürstenschloß, hinter dem sich weite Gärten auszubreiten schienen, und fragte einen Jungen, ob man im Schloßgarten spazieren gehen dürfe.

„Ei ja, soviel Sie wollen!“ war die freundliche Antwort, der auch noch die Beschreibung des Weges folgte, und so kam ich endlich durch einige ganz enge Gäßchen zu einer prachtvollen Lindenallee, in welcher, wie es mir schien, die ganze Jugend Borndorfs umhertobte, und sah nicht weit von mir die geöffnete Pforte des fürstlichen Gartens, an der die verständige Verordnung auf einer Tafel angebracht war, daß Kinder und Hunde nur in Begleitung Erwachsener eintreten dürfen.

Große, sehr vernachlässigte Rasenplätze breiten sich da aus; ein kleiner rascher Gebirgsbach durchströmt den Park. Dichte Boskette blühender Gebüsche, in deren Schatten verlockende Ruhesitze sich bieten, und vor allem wundervolle hohe Bäume, die einen köstlichen erfrischenden Schatten spenden, machen diese Schöpfung vergangener Zeit zu einem wahrhaft vornehmen Garten.

Kein Mensch hier. Neben einer der Queralleen stand ein Wegweiser mit der Inschrift: „Zum fürstlichen Hoftheater.“

Ich verfolgte diesen Weg, und bergab steigend kam ich zu einem weiten Platz, auf dem ein baufälliges Miniaturtheater stand. Sämtliche Thüren und Fenster waren geöffnet, und ein alter Mann fegte wahre Staubwolken heraus.

Ach, heute abend sollte ja „Faust“ gegeben werden!

Ich faßte den Entschluß, hinzugehen, denn solche Wandertruppen haben immer etwas Reizvolles für mich. Elisabeth wird es recht sein, überlegte ich, sie ist ja am liebsten ganz allein.

Ich fragte den Alten, ob er Billette verkaufe.

„Nein,“ war die Antwort; aber zufällig sei die Frau Direktorin da; wenn ich nur hier gleich an die Thür klopfen wolle. – Ich war nämlich eingetreten in das dumpfe Gebäude und stand einer Thür gegenüber, die nach dem Bühnenraume führen mußte.

Auf mein Pochen kam keine Antwort; ich klinkte die Thür auf und fuhr erschreckt zurück. Der Bühnenraum lag in völliger Dämmerung, nur durch eine offene Luke über den Soffiten zuckte ein einziger blendender Sonnenstrahl. Hier stand die Gesuchte, die Schönheit von gestern abend; ihre lichte Gestalt hob sich grell aus dem Halbdunkel; die schwarzen Augen sprühten aus dem weißen Gesicht zu einem schlank gewachsenen Studenten hinüber, der, vor ihr stehend, mir den Rücken zuwandte. Wie ein feuriges Schwert lag zwischen ihnen der scharf begrenzte Sonnenstrahl, in dem Millionen Stäubchen tanzten.

Leise und schnell drückte ich die Thür wieder zu und verließ das Haus; ich athmete erst aus, als mich draußen die reine warme Luft umfing. Alles Blut war mir zum Herzen geströmt, als hätte ich da drinnen einen Spuk gesehen und könne mein Grauen nicht bemeistern. Und jetzt – ich stand unwillkürlich still – trat dort ein Herr aus der Allee, das Kind, das ich gestern gesehen hatte, an der Hand führend. Es war zierlich in Weiß gekleidet, und die langen blonden Haare trugen blaue Schleifen.

Ich hatte das Gefühl, als ob ein Unglück im Anzug sei, aber – ums Himmelswillen, was gingen mich jene wildfremden Menschen an und ihr häusliches Leben und Treiben? Diese Ansicht verhinderte mich indessen nicht, mich immer wieder nach dem Kinde umzuschauen. Das hatte ebenfalls sein Köpfchen auf dem Rücken, und als ich ihm eine Kußhand zuwarf, machte es sich von dem Vater los und setzte mir einen reizend ungeschickten kleinen Knix hin, der seine schelmische Lieblichkeit nur noch erhöhte.

Auf großen Umwegen kam ich wieder nach Hause, just zur Abendessenzeit. Elisabeth kam mir im Garten entgegen. „Arme Anna, Du langweilst Dich gewiß,“ sagte sie traurig, „wenn ich nur wüßte –“

[700] „Ach, sei doch gut, Lieschen, ich bin auf köstlichen Entdeckungsreisen gewesen.“

Wir saßen schweigend im Garten; ich brachte das Gespräch auf unsere Jugend. „Weißt Du noch, lüttje Elisabeth, wie Du Plattdütsch lerntest?“

Sie nickte. „Ich kann das Gedicht auch noch, Anna,

‚Ik wull, wie weern noch kleen, Jehann,
Do weer de Welt so grot,‘“

sagte sie; „ich habe mich einmal damit abgequält, es ins Hochdeutsche zu übersetzen, aber es gelang mir nicht.

‚Mitünner inne Schummerntid
Denn ward mir so to Moth.
Denn löppt bi den langs den Rügg so hitt,
As damals bi den Sot‘ (Brunnen).

Ach ja, die Kinderzeit, Anna, sie ist heilig wie das Kind selbst.“

Sie schwieg, denn ihr Mann kam daher.

Erst heute abend achtete ich auf das Verhältniß der beiden zueinander, erst während des schweigenden Mahles fiel es mir mit Centnerlast aufs Herz: wie nahe und doch wie weit sind sich die beiden! Fast ängstlich mied sie es, ihn anzuschauen, während er ihre Blicke suchte. Sie hatte jede Aufmerksamkeit für ihn, die er, wie es schien, gewöhnt war; sie mischte ihm den Thee, sie strich ihm die Brötchen, sie antwortete auch auf seine Fragen, aber es war fast automatenhaft. Er schüttelte wiederholt stumm seinen Kopf, indem er sich bemühte, mit mir auf irgend eine Weise Unterhaltung zu machen. Es war wie gestern auch, nur auffälliger, nachdem ich Elisabeths Beichte gehört hatte.

Als es halb elf Uhr schlug, fand ich es genug der Marter, die ich ausgestanden, und erhob mich, um Gute Nacht zu sagen. Da kam im Mondenschein, der glänzend weiß auf dem kiesbestreuten Weg lag, die Kathrin dahergelaufen, so rasch, wie ich es ihren alten Füßen nicht mehr zugetraut hätte.

„Herr Pfarrer –“ sie konnte die Worte kaum finden, „Herr Pfarrer, Sie möchten rasch in die ‚Forelle‘ kommen, der eine Schauspieler hat seine Frau erstechen wollen! Ach, Herr Pfarrer, laufen Sie doch nur – ehe sie stirbt!“

Eilig schritt er hinweg. Ich saß starr neben Elisabeth da und wußte, als wäre ich dabei gewesen, den Hergang der ganzen Geschichte. Jedes Wort hätte ich dazu nennen können, jede Einzelheit der That. „Das arme Kind!“ rief ich, der Kleinen gedenkend.

Dann war ich aufgesprungen und wollte dem Hause zueilen.

„Ein Kind, Anna?“ fragte Elisabeth und hielt mich am Arme. „Hat die Frau ein Kind?“

„Ja, ein Mädchen, ein liebes kleines Geschöpf.“

„Und die Mutter stirbt?“ forschte sie athemlos weiter.

„Ich weiß ja nicht, Elisabeth; ich will nachsehen.“

„Warte, ich komme mit Dir –“

Nach ein paar Minuten langten wir vor der „Forelle“ an. Eine Unmenge Menschen stand dort und gaffte zu den Fenstern des Hauses empor, Leute, von der Pfingstfreude angeheitert, mit grünen Zweigen an den Hüten und erhitzten Gesichtern, Mütter, mit kleinen Kindern auf dem Arm, und junge Mädchen in hellen Kleidern, die vom Tanzsaal heruntergelaufen waren. Alle wollten sie das Unglaubliche hören, womöglich auch sehen. „Der Oberpfarrer ist vorhin ’naufgegangen,“ hörten wir sagen, „und der Bürgermeister – die Polizei auch –“

Unter der Linde, zu der wir uns jetzt mühsam durchgekämpft hatten, saß eifrig redend ein ganzer Kreis älterer Männer; aus den Fenstern des großen Tanzsaales, der nach dem Garten zu lag, zogen die wiegenden Klänge eines Walzers in die warme bratwurstdunstige Luft hinaus und übertönten das Klappern der Bierseidel. – Endlich waren wir im Hausflur; nur ein Polizeidiener stand da, der uns den Eintritt verweigern wollte, dann aber, als er Elisabeth erblickte, zur Seite trat.

„Sie ist schon todt, Frau Oberpfarrerin,“ sagte er.

„Wo ist das Kind?“ war Elisabeths Frage.

„Das Kind wird wohl bei den Schauspielerinnen sein auf Nummer sieben; die sind ja alle mit hergelaufen vom Theater.“

„Geschah das Unglück im Theater?“ forschte ich.

„Ja, Madame, mitten auf der Bühne – er hat da, glaube ich, was zu spielen gehabt mit ’nem Messer –.“

Elisabeth eilte jetzt die Treppe empor und öffnete, ohne erst anzuklopfen, die Thür von Nummer sieben. Ich werde den Anblick nie vergessen! Ein dünnes Talglicht auf einem Porzellanleuchter erhellte nothdürftig das ziemlich große Zimmer, und da saßen und standen wohl sechs bis sieben Frauenspersonen, nach im Theaterkostüm, mit Gesichtern, die unter der Schminke erblichen waren.

Frau Marthe, sie mußte es dem Aeußern nach sein, hielt das Kind auf dem Schoß; die andern, die jedenfalls zum Volk gehört hatten, in wunderlich zusammengestoppelten altdeutschen Kostümen, schienen das Schreckliche noch immer nicht glauben zu wollen – ich sah nie so entsetzte Gesichter.

„Ist das die Kleine der verstorbenen Frau?“ fragte Elisabeth.

Die alte Person in ihrer Matronenhaube fing statt der Antwort an, zu schluchzen. Das Kind, durch die verstörten Gesichter ängstlich geworden, begann leise zu weinen.

„Ist der Mann wirklich der Mörder?“ fragte die kleine Frau an meiner Seite, ohne die Augen von dem blonden Geschöpfchen abzuwenden.

„Ja!“ lautete die einstimmte Antwort.

„Er gab den Valentin,“ sagte ein junges Mädchen. „Sie hatten nach dem ersten Akt einen so argen Wortwechsel; er behauptete, sie habe immerfort mit einem Studenten geliebäugelt. Ich sah es ja auch, er saß mit zwei oder drei andern in der Prosceniumsloge. Sie hat’s ja immer so gemacht, und der Direktor war so eifersüchtig wie Othello.“

„Ja,“ bestätigte eine andere, „schon vor ein paar Wochen in E., da dachten wir, er schießt sie todt. Nun wird er ins Zuchthaus kommen.“

„Wenn nicht Schlimmeres –“ schluchzte Martha.

„Ja, der wird hingerichtet –“ klang es förmlich schaurig aus einer Ecke.

Der Aufschrei einer andern machte die schreckliche Prophetin verstummen.

„Nein,“ vertheidigte eine dritte, „sie hat ihn soweit gebracht! Meiner Seel’, ich will’s beschwören – ich –“

„Hat der unglückliche Mann oder die Frau Verwandte?“ unterbrach Elisabeth das Hin- und Herreden.

„Nicht ’ne Katze gehört zu denen.“

„Was wird aus dem Kinde?“ klang abermals Elisabeths Stimme.

„Ja, das wissen wir auch nicht.“

Und jetzt erhob Frau Martha ihre dünne kranke Stimme und wollte der Todten einen Nachruf halten, der uns entsetzte, so schwerer Beschuldigungen voll waren schon die ersten Worte.

„Schweigen Sie,“ sagte Elisabeth ernst, „wir sind allzumal Sünder, steht in der Bibel; vielleicht erinnern Sie sich des Wortes noch aus Ihrer Kinderzeit.“

Sie stand jetzt plötzlich dicht vor der verblüfften Frau und nahm ihr ohne weiteres das Kind aus dem Arm. „Komm!“

„Zu meiner Mama,“ weinte die Kleine und legte doch ihr Aermchen zutraulich um den Hals und das Gesichtchen mit den schlaftrunkenen Augen an die Wange meiner Elisabeth.

„Ja, zu Deiner Mutter,“ tröstete sie. Als sie sich zur Thür wandte, trat der Pfarrer ein. Er sah seine Frau an wie eine Erscheinung.

„Elisabeth,“ sagte er stockend.

„Ich behalte es,“ klang es leise und fest.

„Komm heraus mit ihm, der Vater will Abschied nehmen –“

Die Thür fiel hinter uns zu. Da stand auf dem Flur, umgeben von zwei Polizisten und dem Gendarm, ein großer schlanker, noch junger Mann, dem die Haare an der feuchten Stirn klebten, mit todtenbleichen Zügen.

„Aengstigen Sie sich nicht um das Kind,“ sprach Elisabeth mild, „ich will es getreulich pflegen, wenn Sie es mir lassen wollen.“

Die Augen des Mannes hefteten sich auf die sanften Züge der Frau, als forschten sie, wem er seinen einzigen Schatz auf dieser Welt jetzt anvertrauen sollte.

„Es ist die Frau Obepfarrerin, Sie können froh sein!“ flüsterte ein Polizist ihm mitleidig zu.

Da flog es wie ein erlösender Schein über das starre Gesicht. Er riß das weinende Kind in seine Arme und küßte es, als wollte er es ersticken, und als er es Elisabeth wiedergab, sagte er kaum verstäudlich: „Gesegne es Ihnen Gott, daß Sie Erbarmen haben mit dem Kinde eines Mörders und einer Ehrlosen!“

Es war, als rüttelten diese Worte mich wieder wach, denn bis jetzt hatte ich das alles mit angesehen wie im Traume. – „Elisabeth!“ sagte ich.

Es war still geworden; die Schritte des Gefangenen und seiner Wächter verhallten; nur sie, der Pfarrer und ich standen noch auf dem Flur. Sie antwortete nicht, sie band sich ein Tuch [701] ab und hüllte das Kind hinein, das schon im Nachtkleidchen war; ihr Mann sah regungslos zu.

„Nun kommt!“ bat sie.

Wir gingen hinunter. Die Menge war hinter dem Armen dreingelaufen, der nach dem Rathhause geführt wurde; unsere Straße lag still und menschenleer.

Was mochte in dem Herzen des Mannes vorgehen, der da neben mir schritt? Elisabeth war voraus; so leichtfüßig ging sie durch den klaren Mondenschein, als trüge sie keine Bürde. Wir langten vor dem Hause an; er trat hinzu und öffnete seiner Frau die Thür. „In Gottes Namen denn!“ hörte ich ihn sagen.

[724] Ich schritt der breiten Treppe zu, um in mein Zimmer zu gelangen. Unten hatte ich nichts mehr zu thun; ich sah nur noch, wie der Pfarrer die Gestalt Elisabeths umfaßte und sie über die Stubenschwelle geleitete, denn es war, als wanke sie jetzt unter ihrer Last. Was mochte sie hineintragen in dies stille Haus mit diesem Kinde – an Leidenschaft und Sünde? Mich schüttelte ein Grausen, als ich das Wort wiederholte: „Das Kind eines Mörders und einer Ehrlosen!“ – Dachten sie denn gar nicht daran, daß es einen Gott giebt, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern?

Ich konnte nicht schlafen; ich öffnete das Fenster und schaute in den Garten; die Nachtigallen sangen, der Mond schien so leuchtend hell, jedes Blättlein versilbernd. Er schien auch wohl in die Kerkerzelle des Mannes, welcher die Frau so unsäglich geliebt, der er den Tod gegeben hatte, und in die Fenster unter den meinigen, wo Elisabeth dem Kinde ein Lager neben dem ihrigen bereitete. Es war noch immer leises Kommen und Gehen dort unten, ich hörte es bis herauf.

Dann ward es stiller, und nun vernahm ich leise und doch deutlich die weiche Stimme Elisabeths: „Hermann, ich danke Dir!“

Dann antwortete er laut und bewegt: „Ja, Elisabeth, laß wieder Frieden werden zwischen uns, es ist die höchste Zeit. Dein Kind – unseres – den lieben Jungen, den strafte ich nicht aus Unduldsamkeit oder aus Aerger wegen seines Ungehorsams. Ich hatte Angst, die furchtbarste Angst, daß er sich bei seinem Umhertoben erkälten könnte; Du –“

Sie weinte jetzt ganz laut, und er schloß das Fenster. Auch ich machte das meinige zu.

So etwas vermag auch nur Elisabeth, dachte ich und sperrte das Mondlicht ab durch die dichten Vorhänge. Weich und trübe war es mir zu Sinne. Ich hätte den Muth nicht gehabt. – Welche Fülle von Seelenstärke, welche Selbstlosigkeit und Liebe, welch Gottvertrauen gehört dazu, dieses Kind ans Herz zu nehmen! –

Am andern Morgen sagte ich meine Ansicht klar und offen dem Pfarrer, als wir – es hatte früh gewittert und eine wundervolle kühle Luft wehte – im Garten auf- und abgingen. Ich sah an seinem blassen Gesichte, daß auch er gesorgt und gewacht hatte in dieser Nacht.

„Liebe Frau Anna,“ erwiderte er, als ich ihm bemerke, daß ich an die Erblichkeit der Charakterfehler und Eigenschaften überhaupt glaube, „wir können nichts weiter thun als unsere Schuldigkeit, und das werden wir mit allen Kräften an dem Kinde thun. Das andere liegt in Gottes Hand. – Elisabeth kam heute früh mit verweinten Augen vom Kirchhofe zurück; ihr Schmerz ist milder geworden, sie lebt wieder, sie ist wieder die Alte mir gegenüber. Ich danke es diesem kleinen Fremdling; Gott segne ihn!“

Ich drückte ihm die Hand, „und segne Sie beide,“ setzte ich hinzu.

Einige Tage später reiste ich ab. Meine Ertrapost rasselte vor das stille Pfarrhaus, und als ich mich noch einmal an der Straßenecke zurückwandte, sah ich Elisabeths feine Gestalt auf der Sandsteintreppe vor der Hausthür stehen, das Kind auf dem Arm, und sie winken und nickten.

„Sie ist besser als Du,“ sagte ich einmal wieder wie schon so oft.

Seitdem hatte ich nur Gutes gehört und gesehen von den drei Menschen im Borndorfer Pfarrhause. Ein überaus liebliches Kind war die Kleine geworden, nicht gerade ein Muster von Artigkeit, wie mir Elisabeth schrieb oder sagte, aber auch durchaus keine Absonderlichkeiten ausweisend in ihrem Charakter. Sie hing mit aller Innigkeit an den Pflegeeltern, die sie nur als ihre eigenen kannte. Von dem Vater hatte man nur einmal in der Zeitung gelesen, daß er bei einer allgemeinen Amnestie aus dem Gefängniß entlassen worden sei, das war aber schon Jahre her. Er hatte sich nicht bekümmert um sein Kind; vielleicht hatte er erfahren, daß es wohl aufgehoben war, und mochte gedacht haben, daß er mit seinem verlornen Dasein den Frieden ihres Lebens nicht trüben dürfe, kurz – er war einer richtigen Adoption nicht in den Weg getreten und Martha Steinkopf längst das rechtmäßige Kind der Pflegeeltern geworden.

Ich hatte, wie gesagt, den heranwachsenden, wirklich allerliebsten Backfisch in dem kleinen Nordseebade gesehen, hatte mich an der Schönheit und dem lieblichen Wesen des Mädchens erfreut [726] und sie nach Tantenart gründlich verwöhnt, was Elisabeth in ihrer stillen Weise wirklich kunstvoll abzuschwächen verstand. Sie war sehr fromm damals, die Kleine; über ihrem Bettchen hing ein Christusbild und abends pflegte sie in dem langen weißen Nachtkleide vor dem Lager hinzuknieen und laut zu beten.

„Elisabeth,“ sagte ich einmal, als wir den Strand entlang gingen zur Ebbezeit und Martha und ihr Vater eifrig Muscheln suchend uns weit voraus waren, „wenn sie noch ein bißchen größer ist, ganz utwussen, dann borg mi dat oll Gör mal en beten.“

Elisabeth sah mich an. „Nein, lieb’ Annche,“ erwiderte sie fest, „das paßt für das Kind nicht.“

„Warum denn nicht?“

„Nein, denn was Du willst, Du altes liebes Weltkkind, das weiß ich: Du willst mit ihrer jungen Schönheit Staat machen. Da gehst Du nach Berlin mit ihr und nimmst sie auf Bälle mit oder gar auf weite Reisen, und überall wird ihr was in den Kopf gesetzt. Nein, Anna, noch ist sie nicht fest in sich, noch lasse ich sie nicht aus den Händen, es wäre gewissenlos.“

„Du kannst sie doch nicht einsperren, Elisabeth?“

„Sicher nicht! Thun wir denn das? Sie hat vollauf der Freuden in ihrem Leben. Sieht sie aus, als ob sie entbehrte? Sei nicht böse, Anna, Du ahnst nicht, welch ein Angstkind sie mir immer war!“

„Also doch! – Sei gut, Elisabeth, ich will Dir das Kind nicht verderben,“ sagte ich gerührt.

„Versteh mich nicht falsch, Anna; mein eignes Kind, ich hätte es Dir auf Jahre gegeben, aber dieses – nein. dieses nicht!“

Dann schrieben wir uns nach oft, bis vor anderthalb Jahren; seitdem bekam ich keinerlei Antwort, und – – – – – –

Ich fahre plötzlich empor aus meinen Erinnerungen und bin wieder in der Gegenwart. Es ist dunkel geworden, noch immer rauscht der Regen auf den Lindenblättern und dem Pflaster. Lieber Gott, was mag aus diesem Kinde geworden sein indeß!

Eben will ich nach Licht klingeln, da klopft es schüchtern, und als ich „Herein“ rufe, kommt etwas ganz langsam über die Schwelle, langsam und hustend, und gegen den hellen Hintergrund erkenne ich, daß es ein altes Weiblein ist im Umschlagtuch und weißer Haube.

„Sie kennen mich wohl nicht mehr, Madame, ich bin die ‚oll Kathrin‘ aus der Pfarre, wie Sie immer zu mir sagten.“

„Ei, Kathrin,“ rufe ich, „das ist freundlich von Ihnen!“ Und während ich die Alte zu einem Stuhl geleite und nach Licht klingele, frage ich: „Woher wissen Sie denn, Kathrin, daß ich hier bin?“

„Das will ich wohl nachher sagen, Madame, muß mich nur erst ein bißchen verpusten.“ Und sie hustet wieder und holt tief und rasch Athem.

„Sind Sie denn noch in der Pfarre, oll Kathrin?“

„Ach, Gott bewahre mich! Was sollten sie denn noch mit mir altem Kröpel? Nein, Madame, seit einem Jahre bin ich in dem Altweiberspittel, drunten an der Weißgasse, da, Madame, wissen Sie, wo der Todtenkopf über der Thür ist. Die Herrschaft hat mir da eine Stelle verschafft.“

Das Mädchen bringt jetzt Licht und sieht ganz verwundert die Alte an.

„Da hab’ ich’s ja nun gut und kann geruhig leben,“ fährt sie fort, „wenn man nur den Kummer nicht hätte auf die letzten paar Jahre.“ Das runzelvolle Gesicht von „oll“ Kathrin drückt jetzt, wo ich sehen kann, eine ehrliche Bekümmerniß aus. Sie hat mich scharf ins Auge gefaßt. „Ja, so wie Sie, Madame, sieht sie nicht mehr aus – ganz weiße Haare, und die Augen sind so groß geworden – lieber Gott!“

Ich ziehe mir einen Stuhl herüber zu dem Platz, wo die Alte sitzt, und bitte: „Nun erzählen Sie mir alles, Kathrin.“

„Ja, ich will’s versuchen, und wenn ich so’n bißchen vom Weg komme, dann helfen Sie mir wieder drauf, Madame, und wenn ich husten muß, nehmen Sie’s nicht übel.“

„Ei bewahre, Kathrin.“

„Sie wissen ja, wie’s geschah, daß das Kind in unser Hans gekommen ist. – Ich hab’ damals die Hände überm Kopf zusammengeschlagen, aber die Herrschaft hat’s besser gewußt, die haben gedacht, mit ihrer Liebe und Güte und mit ihrem Gebet ziehen sie aus dem wilden Pflänzlein eine schöne Blume. – Ach, Madame, war das ein feines Kind vom Aeußeren, und auch so in seinem Wesen; als wenn sie von Königs abstammen thät, so stand sie unter den andern Kindern. mit denen sie spielte, und es waren da welche drunter vom Bürgermeister und vom Oberförster und von all denen, die vornehm sind. Und gut ist sie gewesen und schmeicheln hat sie können! ‚Mein herzliebe Kathrin‘ hat’s immer geheißen, wenn sie in der Küche ihr Puppentellerchen voll Milch gewollt hat, oder ein paar Rosinen zum Kochenspielen. Und dann die Klugheit! Was man ihr vorgesagt hat, konnte sie auswendig, aber gleich, und das hat sie denn so hersagen können, so schön, wissen Sie, so mit Handbewegungen. Der Herr Pfarrer hätt’s nicht schöner machen können auf der Kanzel. Nücken und Tücken hat sie auch gehabt, dann hat’s aber Strafe gegeben. Ja, die Frau Pfarrerin ist streng gewesen, obgleich’s ihr schwer wurde, man hat’s ihr allemal angesehen. Dem Herrn Oberpfarrer aber, dem war sie ans Herz gewachsen wie ein eigen Kind.

Wie sie eingesegnet worden ist, da haben alle Leute in der Kirche nur nach ihr geschaut; wunderschön hat sie ausgesehen in dem einfachen schwarzen Kleidchen und mit dem goldenen Kreuzchen auf der Brust, gerad so golden wie ihr Haar. Und wie sie da nachher aus der Kirche trat neben der Frau Oberpfarrerin, da hat’s allenthalben hinter ihr her gewispert, wie schön sie wär’, und der junge Herr Landrath hat den Kneifer ins Auge gethan und sich den Bart gestrichen und hat gesagt: ‚Prachtvoll!‘ Ich war schon draußen, hab’ alles gehört und gesehen, der Frau ihr unwilliges Gesicht und dem Kind sein Erröthen und sein Augenaufschlagen, und da war gerad zum allerersten Mal in den schwarzen Augen etwas, das ich noch nicht darin bemerkt hatte, so – ja ich kann’s nicht ausdrücken, so eine Art Freude, die mir nicht hat passen wollen zu dem Tage und der Stunde. Und wie ich abends hinaufkam, um in ihrem Stübchen nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist, da steht sie vor dem Spiegel und beschaut sich und lächelt sich an. – ‚Herr, Du mein‘ rief ich, ‚Martha, was hast Du zu gaffen? S’ ist wirklich nichts Absonderliches an Deinem Gesicht, die Nase derlänge und der Mund derquer.‘ Da hat sie gelacht und ist roth geworden. Ich hab’s aber wohl gemerkt, daß da ein Funke in den Zunder geflogen war, der ganz heimlich weiter geglimmt hat, bis sie in vollen Flammen stand.

Es ist ja nichts Böses, Madame, es ist sogar natürlich, daß ein junges Mädchen sich seiner Lieblichkeit freut; aber bei ihr war’s etwas anderes. Die Lust am Beifall der Menschen, die hat sie schon als kleines Kind gehabt; damals war sie glückselig, wenn sie als ‚sehr artig‘ gepriesen wurde, nun kam aber ihre Schönheit ins Spiel. – Um die Zeit, da bin ich gerad so ein bißchen elendig geworden und die Herrschaft hat mir zur Stütze ein junges Dienstmädchen angenommen, und unser Kind hat sollen mit der die Wirthschaft führen; mir haben sie gesagt, ich solle mich ausruhen, ein bißchen spinnen und Sommers in der Sonne sitzen und mich wärmen. – Die Ernestine, die hat noch wenig verstanden, aber lustig ist sie alleweile gewesen und singen konnte sie bei ihrer Arbeit, als wenn die ganze Pfarre ihr allein gehören thät. Allerlei Lieder hat sie gewußt, die man auch gekannt hat in seiner Jugend, und weil’s das Fräulein gern hörte, hat sie immerfort in der Küche gesteckt.

Die Frau Pfarrerin hat nichts darüber gesagt, wenn unser Kind im Garten beim Nähen, oder in der Stube drinnen die Lieder nachsummte; sie hat sich nur immer gefreut über sie. Es war ja auch nichts Unrechtes, Madame; es war nur, daß die Ernestine gar soviel schwatzen durfte mit unserem Kind, das von der Welt noch nichts wußte und verstand. – Der Frau Pfarrerin ihr Bruder hat das Kind gern gehabt, hat es auch wollen heirathen, aber da hatten die Eltern gemeint, es sei noch zu jung, und er solle noch warten. Hätten sie nur das nicht gethan! Mit achtzehn Jahren heirathet doch manche! – Liebe Zeit, Madame, still ist’s ja bei uns immer gewesen im Hause; wenn mal eine Gesellschaft war, so hat ein junges Mädchen nicht viel Freude daran gehabt. Lauter ältere Herrschaften, die haben klug geredet und gesprochen, und die Jugend will doch ein wenig Thorheit und Lustbarkeit. Die rothen Bäckchen von dem Kind, die sind allmählich blasser geworden, und wenn sie am Fenster saß, dann hat sie mit ganz großen sehnsüchtigen Augen hinausgeschaut, und ein paarmal habe ich sie sommerabends getroffen, an der Gartenmauer stehend und auf die Dächer hinunterschauend, [727] und die kleinen Füße haben den Takt getrippelt zu dem Tanz, den sie da unten aufspielten, und ihre Augen haben voll Wasser gestanden.

‚Kathrin,‘ fragte sie mich einmal, ‚hast Du in Deiner Jugend getanzt?‘ – Na, lügen mag ich nicht; ich hab’ getanzt und, es ist wahr – schön ist’s gewesen, besonders wenn man mit einem tanzt, dem man gut ist. Ich hab’ aber gesagt: ‚Ja, Kindchen, ’s bringt aber nichts ein als lahme Füße und Herzeleid!‘ und bin rasch davongegangen. – Manchmal hab’ ich zwar gedacht, es ist doch keine Sünde, das Tanzen! Sie hätten’s ihr gönnen sollen; aber davon war keine Rede.

Ich neckte sie einmal mit dem Bruder der Frau Pfarrerin, da ward sie aber arg böse und sagte, der sei wie Mehlsuppe, so einen könne sie nicht leiden! Wahr ist’s, ich hätte ihn auch nicht gemocht, so einen Sanften, Immersüßen; aber ein guter Mann ist er doch.

Nun ist’s gerad anderthalb Jahr, da kommt eines Morgens der Postbote und bringt ein Schreiben mit großem Siegel, und darauf tritt die Frau Pfarrerin in die Küche und sagt zu dem Kinde: ‚Der Vater und ich müssen verreisen auf ein paar Tage, ’s ist wegen einer Familienangelegenheit; Du wirst haushalten müssen, mein Marthchen, ich kann mich ja auf Dich verlassen. Was?‘ Hat das Kind da gebeten: ‚Mutter lieb, nimm mich mit, ach nimm mich mit, es ist so schön in der Welt da draußen, und ich möchte den Rhein so gern sehen, ach so lebensgern sehen!‘ Und sie ist der Frau um den Hals gefallen und hat sie gestreichelt und geküßt; ‚nimm mich mit, ach bitte, bitte!‘ – Hat aber nichts genutzt. Es war gerad im September, das Obst reifte und die Frau Pfarrerin hatte gesagt, das müsse alles gut besorgt werden und das Kind solle brav und lieb sein. Es sei eine Geschäftsreise wegen des Testaments eines verstorbenen Onkels. Sie, die Martha, würde schon mal hinausfliegen in die Welt, vielleicht im nächsten Sommer.

Na, kurz und gut, sie sind allein abgefahren, und das Kind hat ein paar Stunden geweint, dann hat es geträllert; bei ihr war Lachen und Weinen in einem Sack. – Ich sollte nun aufpassen auf das Haus und gut Obacht geben auf die beiden jungen Menschenkinder. Ja, liebe Zeit, Madame, da kommt mir ein Hexenschuß, daß ich krumm und lahm zu Bette liege. Das Kind hat mich gepflegt, gut war es, sehr gut; an die drei Tage hat sie sich kaum von meinem Bette gerührt, hat mir vorgelesen und die Kissen aufgeschüttelt und mich lachen gemacht trotz meiner Schmerzen. Eines Nachmittags kommt sie in meine Stube und bringt mir Kaffee; sie sah aus wie eine Rose, ich meine, das ist vom Herdfeuer – sie kochte gerade Essigpflaumen ein – aber das war’s nicht, denn sie rief schon von weitem: ‚Kathrin, heut abend mußt Du aber doch mal allein bleiben, ich gehe aus.‘ ‚Bist Du bei Schmidts eingeladen?‘ frage ich; denn die Frau Pfarrerin hat die junge Frau Diakonus gebeten, sich um das Kind zu bekümmern. ‚Ja, freilich, Marthachen, da geh nur; die Ernestine kann mir doch wohl auch mal die Suppe kochen.‘ – Da setzt sie sich an mein Bette und sagt: ‚Nein, alte Kathrin, zu Schmidts gehe ich nicht – wenn Du das wüßtest – wohin? rath’ mal!‘ – Ich rathe dann die ganze Stadt durch, aber sie schüttelt nur immer den Kopf, und je mehr ich ins Rathen komme, desto mehr lacht sie und endlich sagt sie: ‚Laß nur, Du triffst’s doch nicht; ich soll mit Mila Krafft ins Theater gehen; vorhin hat Frau Krafft das Mädchen geschickt. Sie ist unwohl und kann ihr Billet nicht benutzen, da wollt’ sie es mir nun gönnen, weil ich so allein bin.‘

Ich denke, ich höre nicht recht! – Sie kennen Kraffts wohl nicht, Madame? Na, das schöne Haus an der Marktecke haben sie und Geld wie Heu und alles scherwenzt hier um sie. Die Mila war noch aus der Schule her mit unserem Kinde bekannt, aber die Frau Pfarrerin hat sie nicht recht gut leiden können, so ein gefallsüchtiges keckes Ding ist’s gewesen; ganz abweisen können hat sie den Umgang aber auch nicht, und die Martha ist immer ab und zu mal zum Thee hingegangen. ‚Was!‘ rief ich, ‚mit Kraffts Mila willst Du ins Theater? Nein, mein Goldkind, mein Püppchen, das erlaube ich nicht!‘ – Sie sah mich ganz starr an. ‚Sei doch nicht häßlich – Kathrin, es wird so ein schönes Stück gegeben, Krawall und Liebe –‘ ‚Na, das wäre das Richtige,‘ ereifere ich mich, ‚Krawall und Liebe, das mag was Sauberes sein; daraus wird nichts!‘ Aber sie hörte mich gar nicht, sie lachte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen, und kniete sich vor mein Bette und schluchzte vor Lachen in die Kissen. ‚Kathrin, ach Kathrin‘ schreit sie, ‚wie kann man nur so was verstehen!‘ Und endlich, als sie sich beruhigt hat, sagt sie: ‚Du kennst doch den weißen Gipskopf in Vaters Stube auf dem Bücherspind, der, dem Du die Nasenspitze abgestoßen hast mit dem Besen, die ich so schön wieder angekittet habe?‘ – ‚Ja, Kind, was soll denn der arme Heilige dabei?‘ – ‚Aber‘ – und ihr tolles Lachen fängt wieder an – ‚das ist ja Friedrich Schiller, der das Stück geschrieben hat.‘ ‚Nun?‘ frage ich, ‚ist’s wahr, Kind?‘ – ‚Ganz, gewiß, Kathrin‘, und ihre Augen blicken ganz ernst. ‚Und nicht wahr,‘ schmeichelt sie, ‚da kann’s nichts Schlimmes sein, Kathrin!‘

Na freilich, wenn unser Herr Pfarrer so einen in seine Stube stellt – was konnte ich dagegen thun? Und ich denke, das ist gewiß so’n Theaterstück von Luther und seiner Käthe, drin lauter liebe Engelein mit vorkommen, und sage: ‚Ja, wenn ich nur wüßte, ob –‘ Aber da wirft sie mir schon die Arme um den Hals und küßt mich auf mein altes Gesicht, so herzlich und oft, daß ich denke, sie thut gerad so feurig, als hätte sie ihren Liebsten zu herzen. Und dann läuft sie davon und kommt erst wieder, als schon die Lampe brennt, hat ihr bestes dunkelblaues Kaschmirkleidchen an und sieht aus wie eine Centifolie so schön.

‚Kind, Dein bestes Kleid!‘ – ‚Ja, Mila sagt, wir sitzen in der Loge, und außerdem ist doch der Fürst zur Jagd da und kommt mit seinen Herren ins Theater,‘ entschuldigt sie sich.

Hab’ gar nicht gewußt, daß unser gnädiger Fürst so fromme Stücke gern sieht – denke ich – ‚Ade, Kathrin,‘ sagt das Kind, und an der Thür wendet sie sich nochmal, und unter der weißen Kapuze mit Pelzbesatz blitzen die großen schwarzen Augen so recht schalkhaft zu mir herüber. ‚Kathrin,‘ ruft sie, ‚ich werde den Hofmarschall von Kalb von Dir grüßen!‘ ‚Wen?‘ frage ich, aber sie ist schon fort.

Da aber fängt’s mich an zu reuen, und so eine unbestimmte Angst überkommt mich. Sehen Sie, Madame, es giebt Ahnungen – lachen Sie mich nur nicht aus! – an dem Abend habe ich gefühlt, daß dem Kind was zustößt, und drunten in des Herrn Pfarrers Stube ist das Bild von der Frau Pfarrerin, wie sie als Braut war, von der Wand gefallen, und in dem Glase ist ein Sprung gewesen. Freilich, es kam auch alles bald genug! – So gegen elf Uhr erst ist die Martha aus dem Theater gekommen; sie hat so recht still in ihr Stübchen hinaufschleichen wollen, ich habe aber gerufen, bis sie hereingekommen ist.

‚Wo bist Du denn so lange geblieben, Kind?‘ frage ich, sie hat aber nicht geantwortet und ausgeschaut zum Erbarmen. – ‚So sprich nur, Kind; ist Dir denn etwas Böses passirt, war’s denn nicht hübsch?‘

‚Nicht hübsch? Wundervoll ist’s gewesen.‘

‚Hast Du geweint, mein Täubchen?‘

‚Ach so sehr, Kathrin.‘

‚Um das Gespiele? Liebe Zeit, Kind, das ist doch aber nur Gethue!‘

Sie steht mich ganz verächtlich an, dann ist sie gegangen mit einem kurzen: ‚Schlaf’ wohl!‘ Sie war gar nicht wie sonst. In der Nacht aber, so gegen den ersten Morgenschimmer, weckt mich das leise Knarren meiner Thür, und sie kommt in Nachtkleidern an mein Bett und sagt: ‚Ich muß Dich doch was fragen, Kathrin, ich kann nimmer schlafen, ehe ich’s nicht weiß.‘

‚Meine Güte, was machst Du für Geschichten!‘ rufe ich, ‚Du willst Dich gewiß erkälten! Erst thue Dir ein Tuch um.‘

‚Es ist nur ganz kurz, Kathrin; ich will nur wissen, ob es wahr ist, daß mein richtiger Vater ein –‘ sie stockt – ‚ein,‘ wiederholt sie nochmals und es will ihr nicht aus der Kehle – ‚daß er meine Mutter erstochen hat?‘

Und das klingt so, als ob einer spricht, der just mit dem Sterben zu thun hat.

‚Mein Jesus, wer hat Dir so etwas gesagt?‘ schreie ich auf.

‚Ist’s denn wahr? Ich will wissen, ob es wahr ist! Daß ich ein angenommenes Kind bin, das weiß ich, das haben sie mir schon in der Schule erzählt. Aber –‘

Ich weiß es nicht!‘ lüge ich in voller Angst, ‚frag’ die Eltern, wenn sie wiederkommen. Es ist eine Schande, Dir so etwas zu sagen; wer hat das gethan?‘

[730] ‚Eine von den Schauspielerinnen, welche die alte Millern gab,‘ antwortet sie mit sonderbarer Stimme.

‚Wie kamst Du zu den Schauspielerinnen?‘

‚Die Alte hatte mich von der Bühne her schon immer angesehen; ich saß mit Mila und ihrem Vater in der Prosceniums-Loge, und im dritten Akt, wie ich so recht hinsehe und Herzklopfen habe vor Angst, was wohl mit dem armen Liebespaar wird, da klinkt hinter mir die Logenthür und eine Stimme ruft leise meinen Namen. Ich stehe vorsichtig auf, um nicht zu stören, weil ich denke, die Ernestine ist’s, die mir sagen will, daß Du kränker geworden bist, oder daß die Eltern gekommen sind – da steht draußen auf dem Gange leibhaftig die alte Millern und sagt, sie müsse mich nach der Vorstellung auf einen Augenblick sprechen, sie wisse, daß ich das Pflegekind sei von dem Pfarrer und sie könnte mir etwas sagen von meiner Mutter; ich sähe ja aus, als sei ich ihr aus dem Gesichte geschnitten. Und da – da haben wir verabredet, Kathrin, daß sie an der Kirche drüben warten soll. Mila und ihr Vater haben mich nach Hause begleitet, und dann habe ich gethan, als ob ich ihnen noch nachschauen wollt’, und bin ganz fix der alten Millern entgegengelaufen, die im Kirchenportal wartete. Sie meinte aber, ich sollte auf eine Stunde mitkommen in ihre Wohnung, und weil ich doch so gern – ach so furchtbar gern von meiner wirklichen Mutter was wissen wollte – da – schilt mich nicht, Kathrin! – da ging ich mit.‘

Ich schelten, Madame! Ich fand ja gar keine Worte vor Schrecken.

‚Die alte Millern,‘ erzählte das Kind weiter, ‚war noch gar nicht so alt, als sie die Schminke abgewaschen hatte. Sie wohnt da beim Kaufmann Meyer an der Ecke, ganz oben; sie hat mich in die Arme genommen und immerfort geküßt und geweint und erzählt, sie sei damals dabei gewesen, als mein Vater – – ach, Kathrin – und eigentlich hatte sie mich zu sich nehmen wollen, denn sie sei Mamas beste Freundin gewesen, aber sie habe nur das Bedenken gehabt, was sie als junges Mädchen mit mir habe machen sollen.‘

Und auf einmal fühle ich, wie sich das Kind vor meinem Bette niederwirft und bitterlich, so mit wahrer Inbrunst zu schluchzen anfängt, wie sie gestern gelacht hatte. Und dazu ich alter Kröpel, der sich nicht rühren kann, und dem die Angst bis an die Kehle sitzt!

‚Kathrin, ist’s denn wahr, ist’s denn wahr?‘

Ja, was sollt’ ich sagen, Madame? Schweigen ist ja auch eine Antwort. Und wie sie’s verstand, da hat auch sie stillgeschwiegen mit ihrem Jammern. Es war so grad die erste fahle Dämmerung des Morgens heraufgekommen und ich habe gesagt: ‚Geh’ zu Bette, mein Kind, morgen spreche ich mit Dir und dann wirst Du ruhiger; und in das Theater sollst Du auch nicht wieder, und wenn die alte Millern sich hierherwagt, dann fliegt sie hinaus, daß sie Schuh und Pantoffeln verliert.‘

Sie ist auch aufgestanden und der Thür zugewankt, ohne ein Wort weiter zu sprechen. Aber hingelegt hat sie sich nicht; sie ist da immer auf- und abgegangen in ihrem Stübchen. Gott sei Dank! habe ich gedacht, daß übermorgen die Herrschaft wiederkommt. Ich will doch heute morgen noch die Ernestine zur Frau Diakonus schicken, sie soll das Kind hinüber bitten, das arme Kind! – Wenn der Herr Pfarrer wüßte, daß sie in der Stube einer ‚Millern‘ gesessen hat –!

Ja, wie der andere Tag anbricht und der liebe Herrgott den Schaden besieht, kommt ein Brief von der Frau Pfarrerin: ihr Mann ist krank geworden in Bonn, und sie muß dableiben, um das Gesundwerden abzuwarten, denn sie kann ihn nicht verlassen; Martha solle nur ja recht fleißig schreiben, ob sie wohl ist, und der kranke Vater habe so große Sehnsucht nach seinem Liebling. – Martha sieht so merkwürdig aus, als sie den Brief vorgelesen hat, daß ich mich wundere; so gar nicht, als ob es ihr leid thut. Sie hat da mit den Schwarzaugen wie träumend durch das Fenster geschaut, dem sie gegenüber saß, und nichts geredet.

Madame, es war ja so leicht für das Kind, mich zu betrügen; ich lag hilflos im Bette, und die Ernestine, dieser Durchgänger, für die war’s ja nur so recht nach dem Gusto, das Kind noch zu bestärken in dem, was es that, vielleicht thun mußte. Sehen Sie, Madame, ich habe zwar seit meinem achtzehnten Jahre in Pfarrhäusern gedient, aber das habe ich doch trotz allem Predigen immer gesagt, der Mensch thut, was er muß, aber nicht, was er will; der eine wird regiert von einem Engel, wie die Frau Pfarrerin, und der andere, den hetzt der Leibhaftige. Und die, bei denen schon Vater und Mutter und Großeltern und Elterneltern immer nur was mit Engeln zu thun gehabt haben, denen wird’s nicht schwer, eben hübsch in der Mitte weiter zu gehen; aber so ein Kind wie unseres, wo alle Sünden schon zur Kindtaufe eingeladen sind, das hätte müssen Riesenkräfte haben, um auf dem Mittelweg zu bleiben; und sie war ein schwaches junges Menschenkind. Ja, ja, Madame, so sag’ ich, denn Art läßt nicht von Art.“

„Aber, Kathrin!“ unterbrach ich ihre Philosophie.

„So ist’s! Und kurz und gut, Madame, der Leibhaftige hat ihr den Strick um den Hals geworfen, wie ich vorhin sagte, und das Schauspielerblut in ihr, das ist rebellisch geworden. Sie ist heimlich alle Abend in das Theater gerannt, die Billette hat sie von der alten Millern – sie hieß eigentlich Fräulein Fuchs – bekommen, und wie wir dann nachher gehört haben, ist sie nicht im Zuschauerraum gewesen, sondern immer hinter die Coulissen geschlüpft. Ich habe recht oft gehört, wie sie am Tage so vor sich hinflüsterte, und einmal habe ich sie ganz laut etwas sprechen hören unter meinem Fenster, als sie Birnen auflesen sollte, und habe mich ein wenig hochgerappelt im Bette und sehe sie da stehen unter dem Baume mit ausgebreiteten Armen; die schönen Bergamotten sind ihr aus dem Schürzchen gefallen, und ganz laut ruft sie: ‚Ich bin gefangen, ich bin in Banden!‘ und dann noch so Aehnliches von einem Fischer und einem Nachen. der sie hätte retten können. – Ich hab’ wirklich gemeint, sie sei übergeschnappt. Wär’ ich nur nicht so elendig gewesen, ich hätt’s doch wenigstens hinhalten können, bis die Eltern kamen – aber so –.

Einmal hat’s im ganzen Hause gerochen, wie wenn’s Festtag wär’; das Kind hat mir auch Waffeln gebracht zum Kaffee und hat gemeint, es sei doch gewiß nicht schlimm, sie habe gerade solchen Appetit darauf gehabt. Eine Stunde später ist’s mir gewesen wie Tassenklappern und Sprechen im Hause, aber Ernestine hat ganz frech gesagt, es seien nur ein paar Freundinnen vom Fräulein da. Ich mußte es glauben. – Zum Unglück ist zu der Zeit auch noch der Klapperstorch zu Diakonussens aufs Dach geflogen und die haben sich nicht um Martha mehr bekümmern können; so ist denn alles ganz kommod und ohne Störung vor sich gegangen. – Ich freue mich noch eines Tages, als ich das Wochenblatt lese, daß die Schauspieler sich mit einem Gedicht verabschieden, und denke, na, das eine Mal wird’s ja nichts geschadet haben, und es ist gut, daß die alte freche Millern fortkommt. Daß sie mit dem Kinde jeden Abend beisammen gesessen haben, daß sogar der erste Liebhaber, wie sie so einen nennen, in unseres Herrn Pfarrers Studierstube, die seit Menschenalter kein unfrommes Wort gehört hat, mit dem Kinde Komödienstücke eingeübt hat – du liebe Zeit, davon ließ ich mir ja nichts träumen auf meinem Krankenbette!

Tags vorher, ehe die Bande abzieht, kommt ein Brief aus Bonn, der die Heimkehr der Herrschaft auf übermorgen anzeigt. Hab’ ich da aufgeathmet! –

Es war nun schon Oktober, und ich habe der Ernestine gesagt, sie solle Tannenzweige aus dem Walde holen zu Guirlanden und das Kind solle Sandtorte rühren, das ist dem Herrn Pfarrer sein Lieblingskuchen. ‚Ja, ja!‘ hat’s geheißen von allen Seiten; und gegen Abend ist das Kind in meine Stube gekommen, der Mond hat durchs Fenster geschaut und ich hab’ sie ganz deutlich sehen können, ihr liebes weißes Gesichtel und die goldschimmernden Zöpfe und die großen Augen.

‚Komm her, mein Schäfchen,‘ hab’ ich gebeten, ‚setze Dich zu mir! Gelt, Du freust Dich auf die Eltern, sehr freust Du Dich?‘

Sie hat sich auch hingesetzt auf mein Bett, wieder mit dem Gesicht nach dem Fenster, aber gesagt hat sie kein Wort.

‚Marthekind,‘ necke ich sie, ‚Du bist so anders als sonst. – Hast etwa einen, dem Du gut bist? Gelt, das wird fein, wenn hier mal Hochzeit gehalten wird in der alten Pfarre; ’s wird auch kommen, wie der heutige Tag gekommen ist.‘

Da hat sie scharf aufgelacht: ‚Mich wird auch einer wollen, das Schauspielerkind, dessen Vater im Zuchthaus gesessen hat!‘

‚Ei der Tausend, Martha, spukt Dir das noch immer im Kopfe? Hat Dir der liebe Gott nicht die besten Eltern von der Welt gegeben?‘

[731] ‚Natürlich, Kathrin, ’s ist bloß das, daß einer immer nur auf seine besondere Art glücklich werden kann.‘

‚Wirst schon auch noch glücklich werden, mein Aepfelchen.‘

‚Das will ich auch, Kathrin!‘ ruft sie laut, und in den Augen leuchtet’s auf, ‚das will ich auch!‘

Dann hat sie die Arme um meinen Hals geschlungen und gesagt: ‚Gute Kathrin, betest Du denn noch immer für mich abends wie früher, als ich noch klein war?‘

‚Ja, mein Käferchen, freilich, immer, jeden Abend.‘

‚Dann thue es auch fernerhin, liebe Kathrin, bitte, bitte!‘

Und dann hat sie mich noch einmal geküßt, und dabei ist mir ein heißer Tropfen auf dem Gesichte zurückgeblieben, und ehe ich mich noch besinnen kann, ist sie fort.“

Die alte Frau schluchzt jetzt ganz laut.

„Madame,“ stößt sie hervor, „wie ich’s erfuhr von der Ernestine am andern Morgen, daß sie mit in die Welt gelaufen ist, ins Elend hinein, da haben mich Schreck und Schmerz und Angst so gepackt, daß ich noch am selbigen Abend in gänzlicher Bewußtlosigkeit gelegen habe; und das hat Wochen gedauert. Ich hab’s nicht mit erlebt, was die Eltern sagten, als sie das leere Nest fanden, ich weiß nicht, wie groß der Aufruhr in der Stadt gewesen ist, und ob der Herr Pfarrer Schritte gethan hat, um sie zurückzuzwingen – nichts weiß ich, gar nichts! Als ich wieder klar denken konnte, da lag Schnee auf den Dächern und die Wintersonne schien durch die Eisblumen an meinen Fenstern; und drunten im Wohnzimmer, da saß die Frau und sah auf die Straße hinaus, ganz still und ruhig, und ihr Haar war so weiß wie der Schnee da draußen. – Kein Wort des Vorwurfs habe ich gehört, und als ich erzählen wollte, da hat der Herr Pfarrer nur die Hand gehoben und Schweigen gewinkt.“ –

Eine lange Pause entstand; ich erhob mich und trat zum Fenster, um es zu schließen, denn die Nachtluft wehte kühl herein. Dann blieb ich stehen. Ja, so ungefähr hatte ich es mir gedacht. Das ererbte Blut, die Lust an diesem bald heiteren, bald so furchtbar ernsten Vagabondenleben hatte seine Rechte geltend gemacht. War denn das so wunderbar? Es geht ein Zauber von dem Wort „Theater“ aus, eine Poesie, die jedes junge Herz einmal berauscht, und nun gar ein Schauspielerkind! Die Kunst! die Kunst, und wären die Bretter noch so erbärmlich, wäre der Tempel auch in einer alten Scheune aufgeschlagen, die Kunst hält auch über dieses Elend ihre Hände und macht es zu etwas Zaubervollem. Ich selber hatte ja als Backfisch einmal Schauspielerin werden wollen, obgleich ich die Jünger und Jüngerinnen Thaliens nur ein einziges Mal in der Schenke meines heimathlichen Dorfes gesehen hatte, wo sie „Minna von Barnhelm“ aufführten. Der Abend steht mir noch heute als einer der stimmungsvollsten meines ganzen Lebens in Erinnerung. – Arme kleine Martha, mußtest Du wirklich, wie oll Kathrin sagt? Arme Elisabeth, die einsam blieb auf ihre alten Tage, deren Liebesmüh’ so verloren war!

Ich senkte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und biß auf mein Taschentuch, um nicht laut zu schluchzen.

Da räuspert es sich hinter mir. „Madame,“ sagt oll Kathrin, „nun möchte ich nur noch fragen, wollen Sie dem Kind denn nicht ein paar gute Worte gönnen? Sie hat’s gehört, daß Sie hier sind, und meint, Sie könnten ihr helfen – sie hat nicht nachgelassen, bis ich –“

„Wie?“ frage ich athemlos, „Martha ist hier?“

„Ja, mit den Schauspielern; droben in der Mansarde, Madame. Deshalb kam ich ja zu Ihnen!“

Ich stehe sprachlos da, während die Alte schüchtern fortfährt: „Das arme Ding meint, der Herr Direktor würde auf Ihre Fürbitte erlauben, daß sie hier nicht aufzutreten braucht –“

„Hier soll sie spielen? Mit dieser Truppe ist sie hier?“

Ich fange an, im Zimmer auf- und abzugehen.

„Um Gotteswillen, das darf Elisabeth nicht erleben! – So rufen Sie sie,“ sage ich; „wie nennt sie sich jetzt?“

„Wie ihre Mutter hieß – Tosca von Korinska. Ach, sehen Sie, Madame –“

„Schon gut, Kathrin; holen Sie Fräulein Tosca von Korinska!“

Die alte Frau geht. Sie mag wohl mein aufgeregtes Wesen für Stolz halten, während es einfach Verlegenheit ist – wie soll ich die behandeln, die mir jetzt gegenübertreten will? Ich habe sie einst in den Armen gehalten, sie geherzt und geküßt, sie meinen Liebling, mein süßes Kind genannt; wie nun, nachdem sie Verrath an der Frau geübt, die mir so theuer ist wie eine Schwester? – Ich schelle und lasse noch eine Lampe bringen, denn ich will sie genau sehen, und gehe dann wieder im Zimmer auf und ab; es dauert eine Ewigkeit, bis sie kommt.

Endlich kopft es, und auf mein „Herein!“ öffnet sich langsam die Thür und eine Erscheinung tritt über die Schwelle, die ich kenne, die ich gesehen habe vor Jahren dort unter der Linde inmitten der singenden Studenten – nur schöner noch und jugendlicher ist die, die ich heute schaue! Wir stehen uns stumm gegenüber. Sie hat den Blick zu Boden geschlagen und sieht sehr bleich aus. Sie trägt ein gelblich weißes Kaschmirkleid – offenbar hat sie erst Toilette gemacht – wie sie es wohl in modernen Lustspielen auf der Bühne benutzt. Es hat billige geringe Spitzen an Hals und Aermeln und sieht aus, als wäre es vor ein paar Minuten aus der Kleiderkiste hervorgezerrt worden, so zerdrückt ist es. Die goldigen Haare aber liegen noch mit dem nämlichen einfachen Scheitel um den schön geformten Kopf, und die zwei prächtigen Zöpfe hängen noch ebenso über den Rücken herunter wie damals, als ich die „lütte Martha“ am Meeresstrand sah und meine Freude an ihr hatte. In einem sonderbaren Gegensatze stand diese kindlich einfache Haartracht zu dem modernen billigen Kleidertand.

Das ist Martha Steinkopf!

Ich weiß nicht recht, was ich aus ihr machen soll. Halb Theaterdämchen, halb vornehme Erscheinung – halb Weib, halb Kind. Wie alt ist sie denn eigentlich? Richtig, zwanzig Jahre; das Köpfchen aber wie das einer Sechzehnjährigen! Mir wird ganz wunderlich vor diesem Räthsel.

„Tante Anna,“ klingt es endlich zu mir herüber.

Ich kann nicht antworten. Wie es still bleibt, schlägt sie die Augen auf, in denen Thränen funkeln; ein flehender zärtlicher Ausdruck liegt auf ihrem Antlitz.

„Martha,“ sage ich, mit Gewalt die Rührung bekämpfend, die mich bei diesem Blicke überkommt, „ich hatte mir unser Wiedersehen anders gedacht –“

„Ach, Tante Anna – wenn Du wüßtest –“

„Setze Dich und sage mir, was Du von mir willst!“

„Tante Anna,“ beginnt sie hastig, „ich kann hier nicht spielen, ich glaube, ich würde wahnsinnig darüber; ich ertrage den Gedanken nicht, daß die Borndorfer in Strömen kommen, um Pfarrers Martha auf den Brettern zu sehen. Ich kann nicht spielen in der Erinnerung an den Vater und die Mutter, an die unschuldige selige Kinderzeit – ich – kann nicht!“

Sie hat die Hände vor das Gesicht geschlagen und weint. „Tante Anna, um der Mutter willen geh’ zum Direktor – Du bist ja reich – kaufe ihm mein Spiel ab – ich kann nicht!“

„Du bist ja nicht mehr Pfarrers Martha, armes Kind –!“

„Ja,“ ruft sie, „hier bin ich es, in der Erinnerung! Ach, Tante, jeder Stein hier kennt mich, jeder Baum im Walde und jedes Fenster in den Häusern schaut mir vorwurfsvoll ins Auge, ach – und die Menschen! Und, Tante, wenn der Vater das liest, was morgen auf dem Zettel steht! – Tante, sie dürfen nicht ausgetragen werden!“

„Was steht denn darauf?“

Sie reicht mir mit zitternder Hand ein Theaterprogramm: Faust – Margarethe * * * – wiederum drei Punkte, und ich lese:

„Die talentvolle junge Tragödin dürfte dem hochverehrten Publikum unserer kunstliebenden Stadt nicht unbekannt sein. Sie hat noch vor anderthalb Jahren in diesen Mauern geweilt als gehegtes und geliebtes Pflegekind eines unserer ersten Mitbürger. Die Liebe zur Kunst, die ihr angeboren – sie ist die Tochter jener unvergleichlich schönen jungen Schauspielerin, die vor Jahren hierselbst durch die Hand ihres eifersüchtigen Gatten einen raschen Tod fand – trieb sie aus dem friedlichen, aber eng begrenzten Kreis. Wie fast jedes bedeutende Talent mußte auch sie Fesseln brechen, ehe sie zur Freiheit gelangte, aber herrlich hat es sich gelohnt etc. etc.“

Es war noch eine lange Litanei.

„Wo ist der Direktor?“ frage ich.

„Ich will Dich hinführen, Tante Anna – ach, ich danke Dir!“

[732] Ich muß eine schlecht beleuchtete Treppe hinaufsteigen, die mir nur zu genau bekannt ist. Auf den Stufen begegnen uns zwei Herren. Ein kleiner, jovial aussehender, beleibter Mensch ruft, ohne sich durch mich beirren zu lasen: „Ah, die Pfarrerstochter in Weiß! Wohin denn, mein Täubchen? Wieder zum Alten? Laß Dich nicht blicken bei ihm, er ist rasend wüthend auf Dich!“

Der andere, ein schlanker, hochgewachsener junger Mann, dessen Gesicht, soweit ich’s beurtheilen kann bei dem Dämmerlicht, einen idealen Typus zeigt, ungefähr wie Byrons Porträt aus seiner Jugendzeit, ist, den Hut in der Hand, zurückgetreten und läßt uns vorüber.

„Sei nicht so thöricht, Martha,“ murmelt er, und seine Augen blicken sie zürnend an.

„Ist er oben?“ fragt sie anstatt der Antwort.

Er nickt kurz und fixirt mich mit einem kühlen, fast feindseligen Blick. –

„Wer sind die beiden, Martha?“

„Der Kleine – unser Komiker.“

„Und der andere, Martha?“

„Der erste Liebhaber,“ stottert sie.

„Und die dutzen Dich?“

Sie wird glühend roth. „Wir dutzen uns alle untereinander,“ sagt sie, „das ist so Sitte.“

Im nächsten Augenblick stehe ich vor dem Gestrengen in der kleinen Mansardenstube; sie ist draußen geblieben.

„Meine Gnädigste,“ erwidert er auf meine Bitte, „Sie wollen doch nicht verlangen, daß – aber Gnädigste können ja unsere Verhältnisse nicht beurtheilen! Stellen Sie sich vor, es regnet morgen, dazu spielt Fräulein Martha Steinkopf, die durch verschiedene Vorkommnisse in hiesiger Stadt ein riesiges Interesse erregt, erregen muß; was ist die Folge? Ein ausverkauftes Haus –! Meine Gnädige, gerade so gut könnten Sie zu einem Landwirth sagen, er solle aus irgend einem unvernünftigen Grunde sein Heu nicht einfahren lassen, obgleich die Sonne scheint.“

„Ich biete Ihnen Ersatz, Herr Direktor.“

Er sieht mich lächelnd an mit den halbverschleierten grauen Augen. Er steht da wie eine sehr schlechte Nachäffung von Friedrich Haase in irgend einer Lustspielrolle, die linke Hand unter der Weste verborgen, die andere auf den Tisch gestützt. „Ich bin außer stande, den Schaden auch nur annähernd zu berechnen, der mir erwachsen könnte, gnädige Frau; auch hätte ich mit dem besten Willen keinen Ersatz für eine derartige Rolle. Gnädige sollten uns die Ehre schenken und sich das Spiel der Kleinen ansehen.“

„Danke sehr! Wenn Fräulein Tosca nun aber krank wird, wie dann, Herr Direktor?“

„Ah, meine Dame, das sind abgebrauchte Witze. Sie kann sechs Wochen hindurch nicht jeden Abend einen Krampfanfall vorgeben; einmal muß sie hier zuerst an die Lampen, und – je eher, je besser. Außerdem war ich bereits beim Kreisphysikus und sagte ihm für einen derartigen Fall Bescheid. Lassen Sie sie nur getrost hier spielen; später, wenn durchaus Ihr Herz nach Fräulein Tosca von Korinska verlangt, will ich sie Ihnen ohne Entschädigung überlassen.“

Er lacht und zieht die Uhr und legt einige Broschüren von einem Platz des Tisches auf den andern.

„Was soll das heißen?“ frage ich.

Er zuckt die Schultern. „Daß im Leben nichts aus ihr wird,“ sagt er geringschätzig, „kein Funke von Talent, kein Feuer, nicht eine Ahnung davon, wie sie sich zur Geltung zu bringen hat.“

‚Sie wäre ganz unbefähigt?‘ frage ich athemlos.

„Ganz,“ erwidert er. „Es ist ja auch nicht anders möglich; das ursprüngliche Talent ist erstickt in den frommen Tabakswolken der pfarrherrlichen Studierstube. – Nichts Halbes – nichts Ganzes – gar nichts! Konfirmandenmanieren statt naiver Frische, und bei tragischen Scenen ein Betstundengesicht; ganz unmöglich für die Bühne, rein unmöglich! Die Mutter, der sie so ähnlich sieht, ja, da war Rasse drin! O, das wäre ein Stern ersten Ranges geworden!“

„Aber, Herr Direktor, wenn dem so ist –“

„Hier muß sie spielen, Madame, ihr Vertrag läuft bis Johanni, und hier füllt ihr Name das Haus derartig, als wäre sie irgend eine große Berühmtheit.“

„Wenn Sie, Herr Direktor, auf meinen Wunsch eingehen und den Vertrag sofort lösen, zahle ich Ihnen dreitausend Mark,“ sage ich kühl. „Sie können mir Ihre Entscheidung bis heute abend zukommen lassen. Leben Sie wohl!“

Es kommt mir vor, als sei die ehrfurchtsvolle Verbeugung des Mannes kein übles Zeichen. Er geleitet mich bis zur Thür und sagt: „Hab’ die Ehre, Frau Baronin – aber – ich würde ja sehr gern gefällig sein –“

„Leben Sie wohl, Herr Direkor!“

Sie sitzt draußen noch auf der Treppe, auf dem nämlichen Platz, wo ich das erste Mal ein kleines süßes Kind gesehen habe. „Komm mit in mein Zimmer!“ bitte ich. Dort unten spreche ich: „Ich hoffe, er besinnt sich, Martha; laß den Kopf nicht hängen! Ueberdies, man kann Dich doch unmöglich an den Haaren auf die Bühne ziehen. Wie gesagt, ich denke, er giebt Dich frei, und Du fährst dann morgen früh mit mir fort. Und hör’, mein Deern, im Gedenken daran, daß Du meiner Elisabeth theuer warst, werde ich Dich zu mir nehmen, natürlich in der Voraussetzung, daß Du – der Direktor sagt mir, Dein Vertrag läuft bis zu Johanni –“

Ich breche auf einmal ab. Des Mädchens Hände sind niedergesunken, funkelnd treffen mich die schwarzen Augen.

„Ich will nicht,“ sagt sie barsch, „denn ich liebe meine Kunst, ich liebe sie über alles! Bei dieser Truppe wäre ich so wie so nicht geblieben, ich gehe an das fürstliche Theater zu D., Se. Durchlaucht selbst hat mir das Versprechen gegeben, daß ich angestellt würde.“

„Kind!“ schreie ich entsetzt, „weißt Du denn nicht, was es heißt, bei diesem Fürsten in Gunst zu stehen?“

„Nein,“ erwidert sie, „Durchlaucht ist hinter die Coulissen gekommen, hat mich gelobt und mir versprochen, daß –“

„So sehr gefiel ihm Dein Spiel?“ frage ich ironisch.

„Ja!“ sagt sie stolz, „und ich weiß, ich habe gut gespielt an jenem Abend. Nein, Tante,“ fährt sie fort und tritt mit gefalteten Händen vor mich hin, „denke nicht, daß ich meinen Beruf verachte – ich schwärme für ihn, ich möchte ihm nicht entsagen um allen Luxus der Welt, den ich bei Dir haben würde, um alle Güte nicht, mit der Du mich dulden würdest, ich bin mit Leib und Seele Künstlerin. Nur hier, hier kann ich nicht spielen; ich weiß es, ich würde wie gelähmt sein. Ach, Tante, erbarme Dich, was soll ich beginnen, ich kann das den Eltern nicht anthun.“

„Und konntest ihnen doch weit Schlimmeres anthun!“ mahne ich streng. „Weißt Du, daß Deine Pflegemutter in Melancholie verfallen ist, und daß Dein Vater, der Dich wie ein eigenes Kind an sein Herz genommen hatte, ein gebrochener Mann geworden ist?“

„Ach, Tante, ich will mein Leben hingeben, um es wieder gutzumachen, aber nicht meine Kunst!“

Ich zucke die Achseln; was soll ich sagen?

„Du bist böse auf mich, Tante,“ stammelt sie, „Du glaubst nicht an meinen Beruf!“ Und mit thränenerstickter Stimme fährt sie fort: „Ich habe ja auch Stunden, in denen ich vor Sehnsucht nach den Eltern sterben möchte, nach dem alten trauten Hause. Wie oft bin ich im Traum darin! – Tante, verdamme mich nicht ganz; sage es den Eltern, ich sei gut geblieben, ich wolle lernen und streben. Und wenn ich zu der Stufe gestiegen bin, die ich mir vorgesteckt habe, dann will ich kommen und Euch alle um Verzeihung bitten. Tante, es kann doch jeder Stand ehrenwerth sein!“

Sie ist mir etwas näher gekommen und macht eine Bewegung, als ob sie ihren blonden Kopf an meine Schulter schmiegen möchte, um „Tanting, goldenes Tanting“ zu sagen wie einst. In ihren großen sprechenden Augen liegt etwas wie Heißhunger nach Zärtlichkeit und Liebe, aber sie wagt nicht, mich zu berühren; ich ziehe sie endlich zu mir heran und streichle sie, und da fängt sie an zu weinen.

Sie ist so jung noch, so voller Ideale; noch liegt ein Hauch der frommen Kindertage über ihr, als sie auf des Vaters Knieen saß und die Bilderbibel besah und die Mutter ihr die kleinen Finger an die Stricknadeln fügte; noch liegt er über ihr, jener Hauch, wie duftiges echtes Schaumgold auf einem Weihnachtsapfel – aber wie lange noch?

„Geh wenigstens nicht nach D. an das fürstliche Hoftheater, Martha,“ sage ich rauher, als ich gewollt, „ich meine es gut mit Dir. Lieber bleib bei Deiner Wandertruppe!“

[734] Sie fährt empor. „Tante, denkst Du, ich genüge nicht?“

„Deshalb nicht! Die Damen, die sich dort engagiren lassen, sind – nun, ich möchte Dich nicht mit ihnen in eine Linie gestellt wissen.“

Sie ist ein Weilchen still, wie erschreckt. „Ach, Tante,“ antwortet sie dann, „jetzt verstehe ich Dich; aber sieh, ich bin dagegen gefeit. Daß man über mich spricht, muß ich mir gefallen lassen, ich trat ja an die Oeffentlichkeit; aber ich wünschte nur, ich könnte Dir sagen, welch einen starken Schutz ich habe durch das Andenken an die Eltern, und außerdem –“

„Denke daran, was Emilia Galotti sagt, als sie von ihrem Vater den Dolch erbittet, um sich zu tödten.“

„Ja, Tante, ich habe die Emilia gespielt, aber Du weißt nicht, Tante –“ Sie ist purpurrot geworden und sieht zu Boden, dann schlingt sie wieder den Arm um meinen Hals und küßt mich, als wollte sie mit diesem Kuß gewaltsam ein Geheimniß zurückdrängen, das ihr schon auf den Lippen schwebte. „Tante,“ flüstert sie endlich, „ich wollte, Du könntest mich einmal spielen sehen; ich weiß, Du hast ein Urteil.“

„Ich will Dich nicht sehen, Martha, es thut mir zu weh. Aber nun Gott befohlen, ich bin müde.“ Sie hat wieder so einen flehenden zärtlichen Ausdruck in den Augen; sie küßt meine Hand und verläßt das Zimmer. In der That, ich fühle mich kaum noch fähig, zu sprechen.

Wie sie fort ist, nehme ich mein Tuch. Ich muß noch Luft schöpfen. Der Garten hinter dem Hause wird leer sein bei dem Wetter, freilich, es regnet noch. So benutze ich die Kegelbahn als Wandelgang, denke ich. – In dem dunklen Gärtchen ist es wirklich völlig einsam, wunderbar duftet der Flieder, die Luft legt sich wohlthuend kühl auf meine heiße Stirn. Allmählich gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, ich erkenne deutlich die Tafel an der Wand der Kegelbahn, in der ich auf- und abgehe, erkenne die Baumpartien und die schwarze Masse der Häuser oberhalb des Gartens, der terrassenförmig aufsteigt; das große hohe Dach dort muß das Pfarrhaus sein.

„Arme Elisabeth!“

Ich bleibe am Ende der Bahn stehen, lehne mich an eine der schmucklosen Holzsäulen, die dem Gebäude einen hallenartigen Anstrich verleihen sollen, und schaue hinauf. „Arme Elisabeth!“ wiederhole ich. Wie lange ich da meinen Gedanken nachhänge, weiß ich nicht, da höre ich Schritte und Flüstern, das leidenschaftliche, unverständliche Sprechen einer Männerstimme zunächst. Jenseit des Bosketts müssen sie stehen, die da mit einander reden. Nun antwortet eine Frauenstimme – das ist Martha. – „Quäle mich nicht so furchtbar!“ sagt sie eben, und ihre Stimme klingt müde.

„Ich Dich quälen?“ fährt er auf, „Du quälst mich und Dich! Glaubst Du, es sei schön für mich, Dein Schwanken anzusehen, zu merken, daß Du am liebsten noch heute abend mit bloßen Füßen und Asche auf den Haaren in die Pfarre flüchten möchtest? Geh doch, geh, aber rede nie wieder davon, daß Dir die Kunst heilig ist; lege nie wieder Deine Arme um meinen Hals und sage mir, daß Du jetzt erst wüßtest, was Leben heißt, jetzt wo Dir das Heiligtum der Kunst erschlossen, jetzt – wo Du liebst. – Geh hin in die alte Stickluft und stäube die Bücher ab in der Studierstube Deines Vaters und setze Dich dann fein sittsam an das Fenster und ziehe die Fäden durch die Leinwand! Versuche, wie das Leben Dir wieder gefällt in dieser Beschränkheit, nachdem Du goldene Freiheitsluft geathmet; ich sage Dir, Du wirst das elende Weib beneiden lernen, das mit dem Leierkasten von Ort zu Ort zieht.“

„Ich liebe Dich ja, Waldemar, und ich liebe meine Kunst; Du weißt am besten, wie sehr. Nur hier, hier – glaube es mir, ich kann hier nicht spielen!“ vertheidigt sie sich weinend.

„Du kannst nicht?“ braust der Mann auf; „Du willst nicht, sage es gerade heraus! Wenn ich Dir glauben soll, daß Du mich liebst, so beweise es, indem Du durch Dein Auftreten der ganzen Welt zeigst, daß Du auf einer höheren Stufe stehst als auf der einer philisterhaften Engherzigkeit, daß es Dir Ernst ist um Deinen Beruf, daß Du eine wahre Künstlerin bist. Zeige es ihnen durch Dein Spiel; stolz tritt ihnen entgegen, und sie werden Dir zujauchzen.“

„Waldemar, Du hast ja tausendmal recht,“ sagt sie – „aber die Eltern –“

„Nun, ist etwa ein Pfarrer nicht auch ein halber Schauspieler?“ fragt er bitter, „tritt er nicht vor das Publikum und redet dasselbe an wie Du und ich, wie allabendlich Tausende von Künstlern? Wo ist da ein Unterschied? Ist die Bühne nicht ebenfalls ein Erziehungsmittel für das Volk, sogut wie die Kanzel? Wollen nicht die großen Geister, die unsere Dramen gedichtet haben, das Sittliche, das Gute im Menschen wecken? Wie, Tosca? Was hast Du darauf zu sagen? Wärst Du am Königlichen Schauspielhaus in Berlin angestellt, jubelten Dir allabendlich Tausende zu, so würden Dir die Pfahlbürger hier die Pferde ausspannen und Deine Pflegeeltern stolz Dich segnen. Aber Du schämst Dich des kleinen Anfangs, der umherziehenden Truppe, und vergißt, daß der Weg zum Gipfel des Ruhmes über Dornen und Disteln geht. Deine Begeisterung, Deine Kraft reicht nicht aus. Gehe hin zu Deiner Gönnerin, die Dich dem Direktor abkaufen will, lasse Dich von ihr zurückführen in das träge Wasser dem entronnen zu sein Du so glücklich warst, vergiß, was Du erlebt hast, und kümmere Dich nicht darum, was aus mir wird! Ich muß mich schon ohne –“

Hastige Schritte eilen jetzt den Weg entlang. Dann ein Schrei, so recht aus einem armen gequälten Herzen heraus: „Waldemar, gehe nicht!“

Eine lichte Gestalt fliegt hinter dem dunklen Gebüsch dem Manne nach, und im nächsten Augenblick hält sie ihn, nicht drei Schritte von mir, umschlungen, wortlos, schluchzend.

„Du bleibst bei uns?“ fragt er drohend und zärtlich zugleich, während ich mich, so sehr ich kann, in das tiefste Dunkel hinter die Säule drücke.

„Ja, ja!“ schluchzt sie.

„Bei mir, Tosca?“

„Ja – immer!“

„Und Du spielst morgen?“

„Ja!“ schreit sie auf, „weil Du es willst!“

Da hebt er sie ungestüm empor und küßt sie, als wolle er sie ersticken, und in förmlichem Sturmschritt eilt er mit seiner schönen Last an mir vorüber. Ich höre die Gartenpforte zuschlagen, und nun ist’s ganz still um mich her. Ich fasse mich an die Stirn und schüttele den Kopf. Will sie – wird sie wirklich spielen? Aber freilich, wie die Sachen liegen – o, dies unselige Kind!

Jetzt klingen die Töne eines schrecklich verstimmten Klaviers aus dem Gartensaal an mein Ohr, zu denen eine gar nicht üble Tenorstimme singt. Es ist das kleine traurige Lied Koschats:

„Verlassen, verlassen, verlassen bin i –“

Unfähig, es weiter zu hören, kehre ich in das Haus zurück und in mein Zimmer.

Auf dem Tische vor der brennenden Lampe liegt ein Schreiben. Ich öffne es und muß lachen beim Lesen. In ausgesucht artigen Worten teilt der Direktor mir mit, daß er eventuell geneigt sei, Fräulein Korinska zu dispensiren, falls die gnädige Frau gewillt wäre – und nun kommt eine Forderung, die an Unverschämtheit nichts zu wünschen übrig läßt.

Nun, Martha hat ja entschieden, diese Angelegenheit ist erledigt. Freilich weiß ich von ihr selbst nichts, ich habe nur gelauscht, und ich will doch den Beweis geben, daß ich alles zu thun bereit bin, um sie – Elisabeths wegen – von einem Auftreten hier loszukaufen. Mit dem Briefe in der Hand erklimme ich noch einmal die Treppe zu dem obern Stock. Die erbärmliche Flurlampe ist im Erlöschen, und ich habe Mühe, die Thür der Mansardenstube zu finden, die Martha bewohnt. Ohne weiteres drücke ich die Klinke auf und trete ein. Das Mädchen sitzt halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes und hat das Haar aufgeflochten, um es durchzukämmen. Sie erinnert mich in diesem Augenblick so lebhaft an das reizende Kind von ehedem, wenn es mit den aufgelösten goldenen Wellen vom Badestrand kam und Elisabeth mich hastig am Kleide zupfte, sobald ich meiner Bewunderung über diesen Anblick Worte geben wollte.

„Tante!“ ruft sie verlegen und springt auf.

„Nun, Kind, ich bringe Dir etwas Gutes,“ sage ich, „der Direktor läßt sich auf Unterhandlungen ein – Du brauchst nicht zu spielen.“

Sie hat ihr weißes Kleid hastig vom Stuhle geräumt und hängt es auf. Als sie mir jetzt wieder ihr Gesicht zuwendet, ist es dunkelroth, und ihre Augen blicken an mir vorüber. „Ach, Tante,“ ist alles, was sie äußert; sie will sprechen und vermag es nicht. Ich kann den Kampf ihrer Seele in dem zuckenden Gesicht erkennen.

[735] „Nun, Martha?“ frage ich, „hast Du mich verstanden? Du brauchst nicht aufzutreten; wir haben es ganz in der Hand.“

Sie senkt den Kopf und windet die Hände ineinander.

„Tante,“ klingt es kaum vernehmlich an mein Ohr, „verzeihe, daß ich Dich bemühte – ich habe es mir anders überlegt, ich werde spielen.“

„Du willst spielen, Martha? Woher kommt diese rasche Sinnesänderung?“

Ihre blassen Lippen bewegen sich, aber sie bringt kein Wort hervor.

Ich wende mich kurz zum Gehen, da hält sie mich am Kleide fest und kniet vor mir nieder. „Tante, geh nicht so – geh nicht so – ich muß spielen; frage mich nicht – ich muß!“ Ganz verzweifelt ruft sie es, und mir nachrutschend auf den Knieen, fährt sie athemlos fort: „Ach, verdamme mich doch nicht, ich kann ja nicht anders, ich muß spielen. Es war so unrecht, daß ich mich weigerte, sie müssen es ja alle sehen, daß ich nicht in abenteuerlicher Lust davongelaufen bin, daß ich meinen Beruf ernst nehme. ‚Ganz ober gar nicht‘ meinte der Vater immer. Ach Gott, was soll ich nur noch sagen, damit Du mir vergiebst!“

„Besinne Dich, Martha; Du schenktest mir ja immer Vertrauen.“

Wieder fliegt ein dunkles Roth über das thränenfeuchte Gesicht. Sie senkt den Kopf und zieht, als schäme sie sich, eine von den goldigen Strähnen ihres Haares gleich einem Schleier vor das Antlitz.

„Nun, Martha, hast Du, außer der Liebe zur Kunst, keinen andern Grund für die ungeheure Kränkung, die Du Deinen Pflegeeltern anthun willst?“

Sie bleibt unbeweglich. „Nein!“ flüstert sie endlich.

„So leb’ wohl, Kind!“ –

Ich mache mich los von ihr, hastig los, und die Thür entschlüpft meinen Händen, daß sie unsanft zuschlägt und die Wände des Flurs widerhallen. Ich höre, wie sie drinnen noch einmal ruft: „Tante, ach Tante!“ Aber ich bin so aufgeregt, daß mir der wehe Klang nicht mehr zum Herzen dringt. Drunten setze ich mich sofort an den Schreibtisch und theile dem Direktor mit, daß ich bedaure, auf seine Vorschläge nicht eingehen zu können, da Fräulein Tosca von Korinska nunmehr fest entschlossen sei, morgen abend aufzutreten.

[764] Noch lange wandere ich im Zimmer umher und sage mir immer nur das eine: Martha ist verloren! Ich male mir aus, wie sie den Geliebten heirathen wird, wie sie von einem Ort zum andern mit ihm zieht in Hunger und Elend, wie die Leidenschaft für die Kunst mit Eintritt der Noth und Sorge entflieht und ihre künstlich aufgestachelte Begeisterung so bald, ach so bald, in Asche sinkt; wie sie vor Sehnsucht nach dem friedvollen Leben ihrer Kindheit krankt an Leib und Seele. Ganz furchtbare Bilder sind’s, die mich verfolgen. – Und dann sehe ich sie wiederum, wie sie lacht trotz der Traurigkeit dieses Lebens; sie hat abgestreift, was Gutes und Reines an ihr war, sie nimmt das Leben, wie’s nun einmal ist, mit allem Schmutz und aller Verkommenheit, sie ist geworden wie ihre Mutter. – Unerträglicher Gedanke!

Giebt es denn keinen Ausweg? Könnte sie nicht wirklich eine Künstlerin werden, eine große, gottbegnadete? Sind nicht einige unserer ersten Künstler aus der Unscheinbarkeit, aus der Schule der Wandertruppe hervorgegangen?

Ich nehme mir vor, sie morgen spielen zu sehen; ich will ihr, wenn sie auch nur einen Funken von Talent hat, den Weg ebnen helfen. Ich erinnere mich plötzlich mit großer Freude der Bekanntschaft des ersten Intendanten am Königlichen Theater zu D. und beschließe, ihm die Kleine vorzustellen; ich will alles für sie thun, will freundlich zu ihr sein. Habe ich denn ein Recht, ihr süßestes Geheimniß kennen zu wollen? Ist es etwas Unerhörtes, daß solch ein schönes feuriges Mädchen liebt? Darf ich diesem armen Kinde einen Weg erschweren, der ohnehin wahrlich voll Nesseln und Dornen liegt?

Ich schelte mich tüchtig aus und frage mich: „Anna, war das vorhin Deine von Dir so sehr betonte Duldsamkeit, als Du das arme Ding im Zorn verlassen hast?“ Und das Bild tritt so deutlich jetzt vor meine Augen – das kleine Dachstübchen, das schöne Geschöpf, von dem mächtigen Goldhaar umfluthet, auf dem Rande des schmalen Bettes; ich sehe die irren angstvollen Blicke, die Thränen auf den erglühten Wangen; ich sehe den verwelkten Lorbeerkranz an der getünchten Wand der Mansarde und die breite rothe Schleife darunter. Wie ein Kapitel aus einem Roman ist dieses Bild. Und schon halb im Schlummer flüstere ich Worte wie: „Du armes Kind, warte nur, ich helfe Dir; ich spreche auch beim Oberpfarrer für Dich, er soll Dir vergeben in seinem Herzen; des Vaters Segen baut auch Dir vielleicht ein Glück.“

Dann werde ich wach. Des Direktors Worte klingen mir in die Ohren: „Keinen Funken von Talent hat sie!“ – Bah! Dieser Ehrenmann spricht ihr das Talent nur ab, weil sie von seiner Truppe scheiden will. – Ach Himmel! Das unglückliche Engagement am fürstlichen Hoftheater!

Jetzt bin ich ganz wach. Ich werde mit dem Bräutigam sprechen. „Dahin darf sie nicht!“ sage ich halblaut und bestimmt, und dann verliere ich mich wieder in Zukunftsplänen für das Kind und endlich schlafe ich ein.

Am andern Morgen, ziemlich spät, erwache ich. Neben meinem Bette auf dem Tische duftet ein thaufrischer Maiblumenstrauß – sicher war Martha im Zimmer.

Als ich die Vorhänge aufziehe, sehe ich trüben, regnerischen Himmel, die Berge jenseits in Nebel gehüllt. Ich schreibe, noch bevor ich mich fertig ankleide, einen Brief an den Oberpfarrer, schicke ihn eilig fort, und wie ich zum Kirchgang gerüstet bin, kommt die Antwort, nachmittags wolle er mich aufsuchen; Elisabeth habe heute einen ihrer ungünstigsten Tage und möchte über mein Erscheinen erschrecken.

Ich gehe mit Regenschirm und Regenmantel zur Kirche, und als der Oberpfarrer die Kanzel betritt, habe ich Mühe, in diesen vergrämten Zügen das alte Antlitz wiederzufinden; auch die Stimme klingt anders. Es ist keine echte Pfingstpredigt, die der Gemeinde dargebracht wird. Die Textesworte sind: „Ich will den Vater bitten, er soll euch einen Tröster geben, der bei euch bleibe ewiglich.“ – Er schildert, wie finster und trübe es auf Erden aussieht, schildert die Zustände der Völker, die Verhältnisse der Menschen; ein trostloses Bild rollt sich auf, ein Versunkensein in Elend und Schmutz, mit packenden Farben ausgemalt. Die Treulosigkeit, die Lieblosigkeit, die Undankbarkeit der Menschheit betont er. In dem überfüllten Gotteshause regt sich kaum ein Athem.

„Der heilige Geist aber, der Tröster unserer Zeit,“ heißt es weiter, „müsse, bevor er trösten könne, strafen die Welt um ihre Sünden, ihr die Wahrheit sagen. Aber Wahrheit höre sie nicht gern, sie lasse sich belügen, sie trinke sich toll am Taumelbecher der Verführung.“

[766] Die Leute sind gar nicht gewohnt, den sonst so milden Prediger von Strafen reden zu hören; man sieht es ihren Gesichtern an. Als er nun im zweiten Theil der Rede von dem Frieden spricht, der heute ausgegossen werde über alles Volk, da redet er matt; es ist, als ob ihm die Kräfte erlahmt wären.

Ich gehe traurig zurück nach meinem Gasthofe. Es regnet noch; ich kann mich kaum durch all die Wagen durchwinden, die auf dem Platze vor dem Hause stehen. Die Gaststube ist vollgepfropft von Leuten, mein Zimmer oben noch nicht aufgeräumt; das Stubenmädchen entschuldigt sich mit den vielen Gästen, die alle des Theaters wegen gekommen sind.

„Das macht das schlechte Wetter, Madame, und dann, weil das Fräulein spielt!“

„Schicken Sie mir Fräulein von Korinska.“

„Die ist in der Probe; sobald sie kommt, will ich’s bestellen.“

Kurz vor zwölf Uhr tritt Martha bei mir ein; ich kenne sie kaum wieder. In der hellen Morgenbeleuchtung sieht sie förmlich alt aus, die Augen sind matt, von dunklen Ringen umgeben.

Ich frage sie gütig, ob sie mit mir essen will, denn sie dauert mich. Sie setzt sich zu mir, ißt aber nicht und trink nur zwei Gläser Wein, worauf ein dunkles Roth ihre Wangen färbt. Ihre Toilette ist wie gestern unordentlich; ich habe aber heute nicht das Herz, sie zu tadeln.

Der Direktor hat mir auf mein Verlangen die kleine Prosceniumsloge vorbehalten. Ich sage es Martha; sie wechselt die Farbe. „Ich glaube, ich kann heute nicht spielen wie sonst,“ ist ihre Antwort. – Ich spreche von meinem Plan, daß ich sie ausbilden lassen will; sie sieht mich dankbar an, erwidert aber nichts.

Vor den Fenstern erhebt sich jetzt ein riesiges Halloh! Ein Leiterwagen voll Studenten ist vorgefahren, sie scheinen bereits ein wenig angetrunken und verlangen einen „Saal“ für sich zum Essen. Wirth und Kellner stehen mitten zwischen den verregneten Burschen. Unter Lachen und Lärmen geht die Gesellschaft endlich ins Haus.

Der Kellner erscheint bald darauf, bittet mich um Entschuldigung und wendet sich dann lächelnd zu Martha: „Die Herren Studenten haben sich erlaubt, die sämmtlichen Mitglieder der Theatertruppe zum Essen zu laden, Fräulein.“

Sie wird ganz blaß. „Ich danke, ich habe bereits gespeist,“ antwortet sie, und ihre Augen funkeln schier verächtlich.

„Aber sie haben mir gedroht, sie wollten mich aufhängen, wenn ich das Fräulein nicht zur Stelle brächte,“ sagt er, und vertraulich lächelnd fügt er hinzu: „Auch Herr Raimund läßt sagen, er hoffe, das Fräulein werde theilnehmen.“

Sie sieht ihn zornig an und zeigt nach der Thür. Als er hinaus ist, wendet sie sich von mir und geht zum Fenster.

„Wer ist Herr Raimund?“ frage ich.

„Der ‚Liebhaber‘ unserer Truppe,“ klingt es gedämpft.

„Hat er ein Recht, Dir dergleichen sagen zu lassen?“ forsche ich unbarmherzig.

„Nein!“ sagt sie kurz, und dabei hält sie ihre Stirne gegen die feuchtkalte Scheibe gepreßt.

Wie sie sich endlich umwendet, klagt sie über Schwäche, sie wolle sich noch ein wenig ausruhen, habe auch an dem Kostüm noch etwas zu nähen; die alte Fuchs verstehe das nicht und sei auch schwerlich nach dem Essen noch imstande dazu. Sie geht, indem sie mir die Hand küßt, und ich sage:

„Kind, habe Muth!“

In demselben Augenblick, als sie auf den Flur tritt, schrillt eine Frauenstimme: „’s ist wohl unheilig, zu Pfingsten fidel zu sein? Immer apart, immer prüde, wirst ja sehen, was dabei herauskommt! Raimund ist nicht schlecht ärgerlich auf Dich. Spanne die Saiten nicht zu straff bei dem – sie könnten reißen! Du bist nichts anderes als wir alle!“

„Oll Kathrin,“ denke ich, „diesmal stimmt Deine Philosophie nicht; hier reißen sich Engel und Dämonen um ein armes Menschenherz.“

Nachmittags schreibt mir der Oberpfarrer ab; es sei der Diakonus plötzlich erkrankt und folglich er so mit Dienstgeschäften überbürdet, daß er sein Versprechen nicht halten könne. Ob es mir abends passe?

Ich antworte „Nein, aber morgen zu jeder Stunde.“

Der Abend kommt endlich heran. Ich gehe, da der Weg weit ist, schon um dreiviertel auf sechs Uhr fort. In dem Park, unter den tröpfelnden Bäumen – der Regen hat aufgehört – ist es ungemein belebt, alles strebt dem Theaterchen zu. Neben mir rauscht der kleine Fluß; er hat heute lehmfarbenes Wasser und ist bis zum Uferrand gestiegen; unheimlich rasch schießen die straffen Wellen dahin, man kann ordentlich schwindlig werden, wenn man hineinsieht. Ein paar Studenten mit weinseligen Gesichtern stürmen an mir vorüber; ich höre, wie der eine sagt: „Donnerwetter, sieh die Menschheit! Der Musentempel ist für heute entschieden zu klein – es giebt einen Höllenradau!“

Von meiner Loge aus, die ich hinter mir abschließe – ich habe das Recht dazu für eine ganz nette Summe vom Direktor erkauft – sehe ich, daß allerdings das Haus bereits gefüllt ist bis auf das letzte Plätzchen, und der Gedanke befällt mich, ob der Rang – es giebt nur einen – und die Galerie nicht zusammenbrechen und den Unglücklichen im Parterre die Köpfe zerschmettern werden. Es ist ja so baufällig, das kleine Theater, vor Jahren schon sollte es abgerissen werden. Ueberall lachende Gesichter, neugierige Mienen, nur in der Mitte des Ranges gähnt die Leere der sogenannten herrschaftlichen Loge, deren Vorhänge von gänzlich verblichenem rothen Sammet durch die Fürstenkrone zusammengehalten werden. Sonst alles voll, und immer mehr Leute wollen herein; man hört scheltende Stimmen. Im Orchester, mitten zwischen den Musikanten, die sich kaum zu rühren vermögen, sitzen die angeheiterten Studenten. Die meisten Blicke sind nach oben gewandt, wo die Honoratioren von Borndorf Platz gefunden haben; stattliche wohlbeleibte Frauen, deren Mienen schon jetzt Geringschätzung und Empörung bedeuten; junge hübsche Mädchen mit ängstlich neugierigem oder vergnügtem Ausdruck und im Hintergrunde die Herren, bewaffnet mit Operngläsern.

Endlich schlägt eine Glocke an, die Musikanten spielen auf Blasinstrumenten als Ouverture ein Motiv aus dem „Fliegenden Holländer“, daß man meint, die Ohren müßten zerspringen, dann steigt der Vorhang empor und Fausts Studierzimmer zeigt sich dem Blick. Ob Faust – ich erkenne den jungen Schauspieler, der mir gestern auf der Treppe begegnet ist und der auf dem Zettel als Herr Raimund steht – seine Sache gut macht, kann ich nicht sagen, ich habe nur einen Gedanken: Martha. Der Herr Direktor ist ein Mephisto, wie man ihn sich nicht besser denken kann. Die Worte rauschen an meinem Ohr vorüber wie der Fluß da draußen. Einmal während einer Pause meine ich sogar dieses Rauschen wirklich zu hören, und es ist auch so, ich besinne mich, daß sich gar nicht weit von hier die Wellen über ein Wehr stürzen.

Es ist allmählich drückend heiß hier innen geworden; ein paar Petroleumlampen am Kronleuchter sind zu hoch geschraubt, der Qualm benimmt fast den Athem.

Endlich eine Pause – oder schon die zweite? Die Kapelle spielt den Faustwalzer als Einleitung. Mir ist plötzlich, als packte mich etwas an der Kehle; ich vermag nicht hinzusehen auf die Bühne. Dann klingen wohlbekannte Worte an mein Ohr:

„Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen –“

Ich sehe nun doch hin; da steht sie und schaut mit seitwärts gebogenem Köpfchen Faust an. Nie in meinem Leben habe ich ein holdseligeres Gretchen gesehen; so ist selten der Charakter der Unschuld in Haltung und Aussehen verkörpert worden. Aber ihre Antwort klingt nicht schnippisch und abweisend, sie spricht die Worte völlig klanglos, sie geht auch nicht mit raschen elastischen Schritten, wie das beleidigte Mädchen geht. Langsam, als könne sie den Fuß nicht heben, schwankt sie über die Bühne, die Schleppe ihres himmelblauen Kleides mit den rothbraunen Sammetstreifen am Rande schleift langsam hinterdrein. Ich sehe die schlanke Gestalt mit den köstlichen blonden Flechten wie im Traum, es dünkt mich eine Ewigkeit, bis sie verschwunden ist. Ueberall flüstert’s und aus dem Kreise der Studenten wird sogar ein vereinzeltes „Ausgezeichnet!“ laut.

Ich kann kaum noch athmen. Um Gotteswillen, was soll das werden! Ist es die Scham, die sie so lähmt, ist sie krank? – Es kommt die Scene, wie sie vor dem Spiegelein stehend ihre Zöpfe flicht; wieder klingt es wie von einer sprechenden Puppe, wieder diese automatenhafte Bewegung. Jetzt aber scheint sie überwunden zu haben; geradezu bezaubernd ist sie, als sie den Schmuck findet und sich vor dem Spiegel putzt. Auf einmal fliegt ein Blick in meine Loge – mitten im Satz bricht sie ab – es ist, als wollte sie sich festhalten, so greifen ihre Hände zurück.

„Das ist wohl alles …“ wiederholt sie.

„Schön und gut!“ schreit der Souffleur, daß es das ganze Theater hört, und sie spricht weiter.

[767] Ich habe ihr zugelächelt.

„Bravo!“ schreit ein naseweiser Student; die andern beginnen zu klatschen, auf der Galerie lacht laut eine gewöhnliche grobe Stimme.

„Ruhe!“ schallt es aus dem Parkett zurück.

Die Scene mit Mephisto, Martha und Gretchen schleppt sich vorüber. Nur einmal lösen sich die Mienen der letzteren und in packender Wahrheit ringt es sich von ihren Lippen:

„Ach, daß die Menschen so unglücklich sind!“

Dann kommt sie an Faustens Arm. Sie ist in ihrer Persönlichkeit ganz das zagende Kind, das zum ersten Male liebt, aber ihr Spiel ist halbscheu, leblos. Mir scheint jetzt, daß Faust unzufrieden mit seiner Partnerin ist; ein paar Mal flüstert er ihr rasch etwas zu, und ein finsterer Zug verdrängt für einen Augenblick den vorgeschriebenen Ausdruck des Entzückens auf seinem Gesicht. Vergebens, sie spricht weiter mit matter Stimme:

„Ich fühl’ es wohl, daß mich der Herr nur schont.“

Kaum die Fingerspitzen liegen auf dem Arm des Mannes. – Das Wechselspiel der beiden Paare zieht vorüber, Gretchen steht wieder im Vordergrund. Faust sagt:

„Und Du verzeihst die Freiheit, die ich nahm?
Was sich die Frechheit unterfangen,
Als Du jüngst aus dem Dom gegangen?“

Und sie antwortet:

„Ich war bestürzt, mir war das nie geschehn!
Es konnte niemand von mir Uebles sagen.“

„Weiter nichts, als daß sie ’mal ein bißchen mit einem Schauspieler durchgebrannt ist!“ brüllt die grobe Stimme von der Galerie, und im selbigen Augenblick ist es, als sei der Teufel los. Ein wahnsinniges Zischen und Gejohle, ein Getrampel von Hunderten von Menschenfüßen. – Die Polizei stürzt herein und gebietet umsonst Ruhe. Es ist eine unbeschreibliche Verwirrung, die Borndorfer rächen ihren Pfarrer, die Studenten den Korb, den sie erhalten haben.

Von der Bühne ist Gretchen verschwunden, ich habe nicht gesehen, wie? Nur Mephisto steht da und bemüht sich umsonst, zu sprechen; als das nicht gelingt, fällt der Vorhang. Der Rang hat sich geleert, das anständige Publikum verläßt das Parkett. Nur ich vermag mich nicht zu rühren; wie festgebannt sitze ich auf meinem Stuhl und höre den tobenden Lärm.

„Weiterspielen! Bravo! Da Capo!“ Zischen und Rufen.

Endlich ermanne ich mich und trete auf den Gang hinaus. Die Thür nach dem Bühnenraum ist offen; ich gehe die kleine Treppe hinab und stehe hinter den Coulissen. Mephisto rast förmlich; das Mädchen liegt schweratmend in den Armen einer alten Choristin, die hellen Schweißperlen auf der Stirn. Sie sieht an mir vorüber, sie ist taub für die Beleidigungen des Direktors, sie starrt nur immer Faust an, der vor ihr steht in dem abgeschabten lila Sammetanzug, unter der Schminke erblaßt, bebend vor Zorn und Leidenschaft.

„Sie spielen weiter, auf der Stelle spielen Sie weiter!“ schrillt die Stimme des Direktors dazwischen.

Sie streckt die Hände aus nach dem Manne, der sie noch gestern geherzt und geküßt. Da fliegt etwas Blitzendes in ihren Schoß und Faust hat sich gewandt; der kleine funkelnde Gegenstand rollt aus den Falten ihres Kleides zur Erde und weiter ein Stück über die Bühne, dort am Souffleurkasten bleibt er liegen; ein schlichter goldener Ring ist es. Kaum eine Sekunde hat es gewährt, kaum jemand es gesehen, nur die immer starrer werdenden Augen des Mädchens sind ihm gefolgt.

Der Direktor, der wohl einsehen mag, daß sie unfähig ist zum Spiel, glaubt den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, ihr unverhohlen seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern.

„Sie thun gut, mein Fräulein, die Bühne zu verlassen – für immer, meine ich; Sie haben ohnehin kaum die Aussicht, bis zur Mittelmäßigkeit zu steigen. Sie können gehen, heute noch, wenn’s beliebt, die rückständige Gage –“

„Herr Direktor, bitte,“ unterbreche ich ihn empört, „sehen Sie nicht, daß sie krank ist?“

„Madame,“ schnaubt er mich an. „Sie haben hier nichts zu suchen!“

Ein Polizeidiener bedeutet mich, ich müsse mich entfernen, es sei Unbefugten nicht gestattet, die Bühne zu betreten. Ich befinde mich im Umsehen wieder im Gange des Theaters.

Die Menge da drinnen tobt noch immer. Ich kann nichts weiter thun, als meinen Mantel aus der Loge nehmen und fortgehen. Als ich in die Nacht hinaustrete, ist es zunächst unmöglich, etwas zu sehen, dann finde ich endlich den Weg. Auf dieser Seite des Gebäudes ist es völlig einsam, ich habe nicht den Ausgang nach der Front gewählt. Der Fluß rauscht an dem Wehr, ich wende mich also nach rechts, das Gebäude zu umgehen; die kleine Luke des Bühnenraumes leuchtet in die Nacht hinaus.

Dann dünkt es mich, als ob hinter mir eine Thür klinke, und ich drehe mich um. Verschwindet da nicht eben etwas Lichtes in der Dunkelheit? Ich bleibe stehen, aber meine Augen können die Finsterniß nicht durchdringen; mir ist’s nur einen Augenblick, als ob durch das Rauschen des Wassers der Schrei einer Menschenstimme gezittert hätte.

„Unsinn!“ sage ich, „du bist erregt.“ Gewaltsam zwinge ich mich zur Ruhe, zum Weitergehen. In den hohen Bäumen über mir rauscht der Nachtwind, das Wasser zur Seite gluckst und kollert so unheimlich – bin ich auf einen falschen Weg gerathen? Es ist ganz einsam hier, und mich packt ein Grauen und eine Ahnung, eine schreckliche Ahnung.

Hinter mir vernehme ich jetzt große rasche Schritte; ein Mensch mit einer Laterne kommt daher gerannt, seinen keuchenden Athem höre ich trotz Wind und Wasser.

„Was ist geschehen?“ schreie ich mit Aufbietung aller Kräfte.

Er ruft mir etwas zu; ich verstehe kein Wort.

Zitternd vor Aufregung komme ich im Gasthof an, ich habe wer weiß wie lange zu dem Wege gebraucht. Der Wirth steht inmitten einer Menge Menschen auf der Hausdiele; als er mich erblickt, kommt er auf mich zu.

„Gnädige Frau brauchen sich nicht zu beunruhigen,“ spricht er, „sie kommt gleich auf den Friedhof in das Leichenhaus.“

Ich gehe weiter – zu fragen brauche ich ja nicht, wer sie ist, die da auf den Friedhof kommt. – – – – – – –

Oll Kathrin hat vor meiner Stubenthür auf mich gewartet; sie schluchzt jammervoll, die Alte. „Madame,“ weint sie, „vergeben Sie ihr doch, sie hat’s so gemußt!“

„Ach, Kathrin,“ sage ich, „hier hat ein anderer zu richten.“

Sie sieht mir in das thränenlose Gesicht und geht schluchzend wieder; sie mag mir wohl anmerken, daß ich nicht sprechen kann. In meinem Zimmer aber sehe ich den Oberpfarrer stehen. Wir drücken uns stumm die Hand, und er kann weinen.

„Ich habe sie sehr lieb gehabt,“ sagt er. „Wäre sie doch zu mir gekommen, hätte sie sich in Elisabeths Arme geworfen – anstatt in den Tod! Wir hätten ihr tausendmal vergeben.“

„Und Elisabeth?“ frage ich.

„Sie ahnt nichts, sie spricht nie von ihr; aber sie hat oft den Wunsch geäußert, Sie wiederzusehen, Frau Anna. Kommen Sie doch morgen früh, Sie finden eine stille freundliche Dulderin, die nichts mehr wünscht auf Erden.“

*               *
*

Die alte Schelle der Pfarrhausthür rasselt wie sonst; ein ältliches Dienstmädchen führt mich in die Stube der Frau Pfarrerin, und von ihrem Fensterplatz erhebt sich eine zierliche kleine Gestalt, und unter schneeweißem Haar leuchten die treuen blauen Augen meiner Elisabeth.

„Das ist lieb von Dir, Anna,“ sagt sie ganz ruhig, „lieb, daß Du kommst. Du bleibst doch ein Weilchen bei mir?“ Sie nimmt mir Hut und Mantel ab und bestellt eine Erfrischung. Wie einst sitze ich ihr auf der Estrade gegenüber und sehe auf die Straße und die alte Kirche. Wir sprechen von unserer Jugend, wir sprechen von ihren drei Lieblingen auf dem Kirchhofe; sie sagt, sie freue sich so darauf, zu sterben, Ruhe und Frieden zu finden, aber von Martha kein Wort! Auch nirgends ein Bild von ihr, kein Andenken!

Wir gehen in den Garten und wandern ein Weilchen stumm im Lindengang auf und ab. Ich meine immer, ich muß hinter den Büschen ein lichtes Kleid, blonde Haare schimmern sehen, oder ein Lachen aus Mädchenmund müsse in die träumerische Stille dieses alten Gartens klingen. – Nichts dergleichen! Fast spukhaft einsam liegt der Garten, nur das Summen unzähliger Bienen hören wir über uns in den blühenden Linden.

Dann fragt mich Elisabeth, ob ich ihr helfen wolle, einen Kranz zu winden. Und sie pflückt an der alten Mauer Epheublätter} [768] und von einem Rosenstrauch, der über und über mit Blüthen bedeckt ist, weiße Rosen, die einen röthlichen Anhauch haben, so zart wie ein junges Mädchengesicht. Und als wir im Garten sitzen und ich ihr die Blätter zureiche, sagt sie plötzlich: „Anna, Du mußt nicht denken, daß ich nichts weiß. – Ich weiß alles, nur will ich nicht mit meinem Mann davon sprechen. Er hat das Kind so lieb gehabt, und darum darf ich auch nicht weinen. Er überwindet’s leichter so.“ Und sie nickt mir freundlich zu, obgleich es um ihre Mundwinkel zuckt. „Willst Du ihr das bringen von mir?“ fragt sie, mir das fertige Gewinde hinhaltend, „es ist ein Gruß aus dem Garten ihrer Jugendzeit.“

Ich will sprechen, aber sie leidet es nicht.

„Laß, Anna; sie ist dem wilden Leben entrückt; es wird ihr vergeben werden, daß sie den Heimweg suchte, ehe es ihr geboten ward. Ich habe ihr alles verziehen.“ Und mit einem Aufathmen setzt sie hinzu: „Es ist wie Ruhe über mich gekommen, seitdem ich weiß, sie schläft.“ Sie legt den Kranz auf den Rasen. „Er soll sich frisch halten, bis Du gehst, Anna.“

„Sie ist auch nicht ohne Abschied gegangen, Anna,“ beginnt Elisabeth wieder. „Vorgestern nacht, als ich vor Herzweh und Angst nicht schlafen konnte, weil ich an dem Tage erfahren hatte, daß sie mit der Truppe hier angekommen ist und hier spielen will, stand ich auf und trat ans Fenster der Schlafstube. Es war ungefähr um Mitternacht und der Mond schien hell durch die Wolken. Zuerst sah ich wie immer nur den alten Birnbaum auf dem Rasenplatz. Es war drückend warm in der Stube und ich öffnete das Fenster. Es war eine Nacht wie ein Traum so schön, aber schwül wie vor Gewitter und Regen, und überall schlugen die Nachtigallen. – Plötzlich erblickte ich am Stamm des Baumes eine Gestalt und allmählich unterschied ich den weißen Arm, der sich um den Baum geschlungen hatte, und das weiße Gesichtchen und die glänzenden Haare darüber. Und ich sah, wie die Augen unverwandt zu mir herüber schauten. Bewegungslos, wie aus Marmor gemeißelt, verharrte sie, und ebenso wie gebannt stand ich an meinem Fenster, und so sahen wir uns an – wie lange, weiß ich nicht. – –

Was ich alles gedacht habe in diesen Minuten, Anna! – Es war mir so wunderbar, als wäre das nicht mehr unser alter Garten, als hätte sich ein Abgrund aufgethan zwischen dem Hause und dem Baum. Ich wollte den Arm heben und konnte es nicht, wollte rufen: ,Komm wieder! komm wieder!‘ aber es schien mir unmöglich, wie hätte sie den Abgrund überwinden sollen? Und als ich so dastand und die Schweißtropfen fühlte, die mir auf der Stirn perlten, und doch nicht fähig war, mich zu rühren, und immer nur die stummen heißen Blicke sah, da löste sich die Gestalt von dem Baum und ging, noch immer den Kopf nach mir gewendet, mitten über den mondbeschienenen Rasen. Ich konnte sie jetzt so deutlich erkennen, wie sie mich erkannt haben mußte, Zug für Zug; und dann verschwand sie in der Richtung nach der Gartenmauer hinter dem Gesträuch. Ich hörte, wie sie – sie hat es als Kind so oft gethan – sich über die niedrige Mauer gleiten ließ, hörte das Rollen kleiner Steinchen und leichte Tritte, die sich entfernten, und jetzt vermochte ich zu rufen: ‚Martha! Martha!‘

Aber es kam keine Antwort! Nur mein Mann wachte erschreckt auf und suchte mich zu beruhigen und wollte mir nicht glauben. Er sagt, es sei eine Sinnestäuschung gewesen; sie meinen ja alle, ich sei krank, aber –“

Sie bricht ab, denn der Oberpfarrer kommt, und wir reden alle drei von dem und jenem, und unsere Herzen sind doch nicht dabei.

Spät abends trage ich den Kranz noch hinaus, aber der Todtengräber läßt mich nicht zu der Entschlafenen. „Ich werd’s besorgen,“ sagt er freundlich, „sehen Sie sie nicht an, Madame, behalten Sie ihr Bild im Gedächtniß, wie es gestern war, – sie sah so lieb aus in dem blauen Kleidchen!“

Indem ich da noch stehe, kommt ein Herr daher – kaum erkenne ich in ihm den Faust von gestern abend. Er sieht so vergrämt aus, so, als ob er über Nacht zwanzig Jahre älter geworden wäre. Ich will mich zum Gehen wenden, da klingt seine Stimme in mein Ohr: „Ach, gnädige Frau, auf ein Wort!“

Natürlich folge ich ihm in die Allee, die den Friedhof ziert; es ist hier tief dämmerig, aber ich kann doch noch das schöne Profil des Mannes erkennen. Er hat den Hut abgenommen und sich das Haar aus der Stirn gestrichen. Offenbar sucht er nach einem passenden Einleitungswort.

„Madame,“ beginnt er endlich heiser, „Sie haben sie ja näher gekannt, und Ihnen darf ich wohl auch sagen, daß ich –“ hier stockt er – „daß ich schuld bin an dem verzweifelten Entschluß. Aber,“ unterbricht er sich, „Sie wissen wohl gar nicht, daß Tosca meine Braut war? Natürlich nicht,“ beantwortet er hastig selbst die Frage. „Sie wollte es Ihnen ja nicht sagen, obgleich ich sie täglich darum bat. Sie liebte mich und schämte sich doch meiner Ihnen gegenüber. Und an diesem unseligen Ort habe ich sie gezwungen, zu spielen, aus Eitelkeit, aus Angst, sie zu verlieren. Ich dachte, sie könnte vielleicht noch im letzten Augenblick wieder in das Pfarrhaus flüchten – dann wäre sie verloren gewesen für mich; anders, wenn sie hier auf den Brettern gestanden hatte! Ich habe sie wählen heißen zwischen mir und dem Fernbleiben von der Bühne gestern abend, ich – ich habe, als ihre Kräfte sie verließen, die halb Ohnmächtige wieder auf die Scene geschleppt, und als sie dort unter der Rohheit des Publikums zusammenbrach – da warf ich ihr, meiner nicht mehr mächtig, den Ring, den sie mir geschenkt hatte, vor die Füße. – Ich weiß nicht, wie das alles kam, vielleicht dachte ich, es würde mein Zorn ihren Stolz wecken oder sie zum Spiel bewegen – ich kann nicht Rechenschaft geben davon, weshalb ich es that. Ich hätte ja längst wissen müssen, daß ihre Füße nicht stehen konnten auf so schwankem Boden; sie paßte nicht zu uns, nicht zu mir. Aber ich wollt’s nicht glauben, ich hatte sie wahnsinnig lieb.“

Ich kann nichts erwidern darauf und gehe still weiter neben ihm. Er bleibt auf einmal stehen. „Und was ist da noch weiter zu sagen,“ klingt es rauh, „sie ist todt – ich kann sie nicht wieder lebendig machen und wenn ich mein eigenes Leben opfern wollte – ich habe sie aus dem Vaterhaus geführt, ich habe sie in den Tod getrieben – ich –“

Sein sonst so schwermüthiges blasses Gesicht hat einen Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes in diesem Augenblick, so daß ich erschrecke. Ich will ein paar Worte des Trostes sprechen und fasse nach seiner Hand, aber er schüttelt die meine ab und mit großen raschen Schritten geht er dem Ausgange des Kirchhofes zu, und ich sehe ihn hinter dem eisernen Gitterthor verschwinden.

Die Todtenfrau kommt mir langsam entgegen und nimmt mir den Kranz ab.

„Er muß wohl ihr Liebster gewesen sein,“ sagt sie, „denn bis jetzt ist er noch nicht viel von ihr gegangen, seitdem sie da liegt. ’S ist ordentlich schauerlich, wie er mit ihr spricht und sie immer wieder um Vergebung bittet, als wäre er schuld an ihrem Tode. Man sieht ja so manches Elend, Madame, aber so hat’s mich noch nicht gepackt!“

Am andern Morgen ganz früh hat man sie zur Ruhe gebettet. Als ich eine Stunde später am Kirchhof meine Extrapost halten lasse, hat die Frühlingssonne die Kränze auf ihrem Grab schon welken gemacht. Ich stehe ein Weilchen vor dem Hügel und gehe dann über den grünen stillen Friedhof meinem Wagen zu; der Postillon knallt mit der Peitsche, die Pferde ziehen an, und als wir an der Friedhofsmauer vorüber sind, bläst er ein Lied, ein lustiges Lied.

Wie das paßt für den thaufunkelnden, sonnendurchleuchteten Frühlingsmorgen!

Im Walde schimmern die grünen Tannenspitzchen wie Smaragd, und die jungen Buchenblätter sind förmlich durchsichtig unter den goldenen Strahlen. Langsam fährt der Wagen bergan. Noch einmal wende ich mich um und sehe das Städtchen drunten, die beiden schlanken Kirchthürme und die dunklen Giebel des Pfarrhauses. Ich weiß, jetzt sitzt am Fenster eine stille Frau, der aller Sonnenglanz genommen ward, und ich meine ihre Worte zu hören, die sie gestern gesprochen: „Es ist wie Ruhe über mich gekommen, seitdem ich weiß, sie schläft.“

Am Wegesrand vor mir sitzt unter einer noch fast kahlen Eiche ein Wanderer; er blickt unverwandt hinab zur Stadt. Ich mache unwillkürlich eine grüßende Bewegung, denn ich habe Marthas Bräutigam erkannt. Aber er wendet den Kopf, er will mich nicht sehen; um seinen Mund zuckt es wieder, und die Hände, die sich jetzt mit dem Reisetäschchen zu schaffen machen, zittern.

Langsam fahre ich vorüber.

Immer mehr versinkt hinter mir die kleine Stadt, und die weite Welt thut sich auf vor meinen Augen. Der Morgenwind zieht mir entgegen auf der Höhe und trocknet die letzten Thränen, als wollte er mich trösten: „Weine nicht, denn sie ist geborgen, sie wandert nicht mehr auf schwankem Boden – sie schläft!“


  1. Die Vollendung des angekündigten Romanes „Eine unbedeutende Frau“ hat sich durch Krankheit der Verfasserin verzögert. Derselbe wird nunmehr sicher in Heft 1 des nächsten Jahrganges zu erscheinen beginnen. Inzwischen stellt uns die Verfasserin die hier folgende fesselnde Novelle zur Verfügung, welche von ihren zahlreichen Verehrern gewiß nicht minder freundlich aufgenommen werden wird.