Hugo Thimig
Hugo Thimig,
Kein Beruf scheint leichter als der des Komikers. Sowie sich die lustige Person auf der Bühne nur zeigt, kommt ihr die lachlustige Stimmung der Zuschauer aufmunternd entgegen. Und nicht umsonst trug der Spaßmacher fast aus aller Herren Ländern von altersher den Namen des Leibgerichtes der Bevölkerung mit sich fort: aus England stammte Jack Pudding, aus Frankreich Jean Potage, aus Italien Signor Maccaroni, aus den Niederlanden Pickelhering und Stockfisch, aus dem Reich Hans Wurst, aus der österreichischen Hauptstadt gelegentlich gar noch Hans-Pluntzen (Blutwurst) oder Hans-Carminadel (Carbonnade) – denn nichts mundet der Menge besser als Schwänke und Possen. Die Menschen wissen jedem Dank, der sie rechtschaffen aufheitert. Herzhafter, immer und überall wirksamer Humor wird nun freilich leichter gewünscht als zum besten gegeben; denn mit Ort und Zeit wandelt sich der Geschmack, verfeinern sich die Ansprüche der Hörer, und dauernder Erfolg wird auch im Dienst der heiteren Muse nur demjenigen zutheil, der es so ernst als möglich nimmt mit seiner fröhlichen Aufgabe. Das erkannte schon der erste große Wiener Hanswurst, Joseph Stranitzky, der, gut zwei Menschenalter vor der Begründnug des Burgtheaters durch Kaiser Joseph, der Reichshauptstadt – 1708 – ein stehendes deutsches Theater beschied und dabei die denkwürdige Losung ausgab: „Die Bühne soll so heilig sein wie der Altar und die Probe wie die Sakristei.“ Seine Lehre und sein Beispiel blieb unvergessen. Auf der Volksbühne wie auf dem Burgtheater behaupteten sich nur solche Humoristen in der Gunst der Wiener, die glückliche Naturanlagen in strenger Künstlerarbeit übten und immer erquicklicher entfalteten. Keiner der Trefflichen, die von Prehauser und Raimund bis auf Martinelli und Girardi als Volksschauspieler, von La Roche und Fichtner bis auf Baumeister und Gabillon als Hofschauspieler, Behagen und Frohsinn um sich verbreiteten, ist über Nacht geworden, was er war oder ist: jeder hat sich unverdrossen und mühsam Schritt für Schritt Geltung und Stellung erobern müssen.
Nicht anders erging es einem Dresdener Kind, Hugo Thimig, der in verhältnißmäßig jungen Jahren die Herzen der Wiener gewann. Auch ihn schuf die Natur selbst zur „lustigen Person“: er versteht es, munter zu sein und munter zu machen. Allein seine schönsten Erfolge dankt er, vielleicht mehr noch als seiner angeborenen, unversieglichen Laune, rastlosem Fleiße, unablässigem Studium. So hat er sich aus bescheidenen Anfängen rasch zum würdigen Nachfolger von Beckmann und Meixner, aus einem Schüler des Burgtheaters zu einem Meister aufgeschwungen, dessen Namen neben den ersten der alten und neuen Garde in Ehren besteht. So viel auch ein freundliches Geschick für ihn gethan: sein Bestes vollbrachte doch nur die eigene, tapfer aufstrebende Kraft.
Schon im Elternhause sah er, wie viel man mit redlichem, stetigem Bemühen leisten könne. Sein Vater, ein gelernter Handschuhmacher, hatte in seiner wackeren Frau eine werkthätige Gefährtin gefunden; dank ihrer Emsigkeit und Sparsamkeit kamen die beiden allmählich aus den engsten Verhältnissen zu behaglichem Wohlstand. 1854 wurde Hugo Thimig als letztes von vier Geschwistern, ein Spätling, geboren. Eine sonnige Kindheit war dem Kleinen vergönnt; der Vater war ein kerniges Original, dessen gesellige Talente ihn zum willkommenen Gast in jedem Kreise machten; die Mutter, schüchtern und ceremoniell im Verkehr mit Fernerstehenden, war daheim mit allen „Humoren“ des Alten innig verwachsen. So hörte unser Künstler viel von Herzen lachen von Jugend an. Die Gesundheit des Kindes ließ zu wünschen übrig, und deshalb kam der kränkelnde Kleine zu einem Landpfarrer, bei dem er von seinem zehnten bis dreizehnten Jahre blieb. Der fabulirende Sinn des Knaben, der sich schon hier mit einer Welt des Scheines umgab und die Söhne des Hauses und einige Mitpensionäre zu Darstellern seiner verwegenen Phantasien heranzog, fand wenig Verständniß bei dem braven Pastor, den ein unheilbares Uebel hart und zornig gemacht hatte. Dieser ersten Leidensschule folgte als zweite eine Lehrlingszeit in einem großen Dresdener Materialwarengeschäft. Ein unbestimmter Drang nach freier, künstlerischer Thätigkeit erfüllte das Gemüth des Jungen; nicht umsonst hörte er zu Hause von den großen Zeiten der Dresdener Bühne, von den Namen Burmeister, Pauly, Devrient und Dawison schwärmen; er schaute zu den Theaterleuten wie zu höher gearteten Geschöpten hinauf und lief oft im Sturmschritt durch wegabschneidende Quergäßchen, nur um von einem sicheren Posten aus die ganze nichtige Größe eines Dritten oder Vierten der Hofbühne heranwogen zu sehen. Den Gedanken, sich selbst dem Theater zuzuwenden, getraute sich der Knabe aber damals noch nicht zu fassen. Die Eltern empfanden indessen Mitleid mit seinen Berufsschmerzen: nach anderthalbjähriger Haft unter dem Schurzfell durfte er die Handelsschule besuchen. Und hier fand er in einem trefflichen, litterarisch wohlgebildeten Lehrer, Dr. Semmler, den Führer, der ihm eine neue Welt erschloß. Als kundiger Mentor las er mit seinen Zöglingen den „Zerbrochenen Krug“ von Kleist. Und wenn der junge Thimig da auch zum ersten Male durch eine Rollenbesetzung gekränkt wurde, weil ihm der Schreiber Licht und nicht der Dorfrichter Adam zugetheilt wurde: von Stund’ an war er entschlossen, Schauspieler zu werden. Die Eltern wurden, durch allerlei mimischen Schabernack seit seiner frühesten Kindheit ergötzt, von seiner Erklärung nicht allzusehr überrascht. Gleichwohl hielten sie ihm mit mildem Ernst die Gefahren des Standes, wie sie dem ehrenfesten Bürgerthum aus der Ferne sich darstellen, vor; zuguterletzt gaben sie dem geliebten Sohn aber mit gemischten Gefühlen der Besorgniß und des heimlichen Stolzes ihren Segen auf den neuen Weg und bewahrten ihn überdies fürsorglich vor allen Entbehrungen, die sonst wohl die Anfängerschaft mit sich bringt.
So trat er denn eines Tages klopfenden Herzens in das Studierzimmer seines Ideals, des Dresdener Charakterkomikers Ferdinand Dessoir, mit der Bitte, ihn als Schüler anzunehmen; dabei muß der ängstliche Novize nicht den Eindruck eines Himmelstürmers gemacht haben; als er aber versicherte, daß er die Unzulänglichkeit seiner Begabung wohl kenne und sich schon mit der Erreichung eines bescheidenen Künstlergrades begnügen wolle, donnerte ihm Dessoir die Worte entgegen: „Unsinn! Nur über Leichenhaufen umgespielter Kollegen führt der Weg beim Theater empor!“
„Nun gut,“ lautete die elegisch geseufzte Erwiderung, „dann also über Leichenhaufen!“
Dessoir fand an bem naiven Humor dieser Antwort so viel Gefallen wie späterhin an der Bildsamkeit seines neuen Jüngers.
„Ich kann Dich nur lehren, was Du auf der Bühne vermeiden, was Du dort thun sollst, kann Dich nur der liebe Gott lehren,“ meinte Dessoir eines Tages. Und mit dieser weisen Regel warf er den Schüler ins Wasser, um schwimmen zu lernen, d. h. er schenkte Thimig ein Paar alter Ritterstiefel, einen dito gestickten Kragen, sowie eine stolz wehende Straußenfeder und vertraute ihn der kleinen Wandertruppe des Direktors Schiemang an.
Am 15. Oktober 1872 spielte unser Künstler zum ersten Male in Bautzen auf einer wirklichen Bühne den Lancelot Gobbo im „Kaufmann von Venedig“. Und nun galt es ernstlich zu schwimmen, denn die Brandung des Repertoires warf ihn auf „Kunstreisen“ bis Ende April 1873, also in sechseinhalb Monaten in Bautzen, Kamenz, Zittau und [702] Freiberg in allen Fächern herum. Thimig spielte Liebhaber, komische Rollen, Väter, Helden und Naturburschen bei Schiemang „mit gleicher Ueberzeugung“; er tanzte und sang, wie es gerade – in des großen Schröder Jugend auch von diesem – verlangt wurde, und bewies sich in all diesen Leistungen so anstellig und eifrig, daß er dem Direktor Schiemang vom Breslauer Stadttheater wegengagirt wurde. In der schlesischen Hauptstadt lebte damals noch Karl v. Holtei, ein müder, kranker Mann; der jugendliche Komiker erregte aber den Antheil des alten Kenners dermaßen, daß dieser ihn Dingelstedt als „reif für das Burgtheater“ empfahl. Das Fürwort des greisen Meisters wirkte, Dingelstedt entbot den ahnungslosen Thimig zu sich in das Hotel; dort empfing er ihn in einer seiner beliebten Ministerposen.
„Sind Sie nicht älter?“ fragte er endlich, nachdem er eine Weile prüfende Blicke aus „müden Augendeckeln“ auf den zagenden Besucher gerichtet hatte; jeder weiteren, stammelnd gewagten Entgegnung bereitete er sodann ein jähes Ende mit der zweiten „Verblüffungsfrage“: „Sind Sie Frack- oder Mantelschauspieler?
„Herr Hofrath,“ erwiderte der schlagfertige Künstler, „in den Kleidern, die mir von der Direktion geliefert werden, spiele ich am liebsten.“
Dingelstedt lachte und lud Thimig 1874 zu einem Probegastspiel an das Burgtheater, wo er sich aufs glücklichste einführte. Im Lauf der Jahre bewährte er sich als „Frack- und als Mantelschauspieler“ so glänzend, daß er 1881 das Decret als wirklicher Hofschauspieler und vor Jahresfrist, dank Förster und Alfred Berger, einen lebenslänglichen Vertrag erhielt, dessen Bedingungen wohl bewiesen, daß kein Zweiter unter dem künstlerischen Nachwuchs von der Theaterleitung wie vom Publikum höher geschätzt wird als Hugo Thimig.
Verdient hat unser Künstler all diese Anerkennung so redlich und reichlich, daß ihm niemand seine Ehren und Erfolge mißgönnt. Mit edler Bescheidenheit hat er nach seinem Eintritt in das Burgtheater begonnen, von vorne an zu lernen und „umzulernen“. Im künstlerischen und freundschaftlichen Verkehr mit den Besten des Burgtheaters hat er sich in die Ueberlieferungen dieser Musterbühne eingelebt und über dem Studium der trefflichen Vorbilder von Hartmann, Schoene, Meixner etc. niemals vergessen, er selbst allein zu sein. An die größte wie an die kleinste seiner Aufgaben tritt er mit gleicher Liebe und Laune heran. Begabung und Fleiß halten gute Kameradschaft bei ihm und ihr fester Bund befähigt ihn, sich im klassischen und im modernen Lustspiel gleicherweise hervorzuthun. Im deutschen Schwank sind seine schüchternen Liebhaber, seine dummdreisten Offiziersburschen, seine derben und dämlichen Spießbürger allen guten Geistern der „Fliegenden Blätter“ ebenbürtig, in der Kunst der Maske zumal wetteifert er mit den besten Eingebungen von Oberländer und Busch. Für das moderne Pariser Konversationsstück bringt unser geschmeidiger Sachse die übermüthigste Champagnerlaune mit. Und noch viel andere Humore sind ihm geläufig; als Shakespearespieler braucht Thimig hinter keinen anderen zurückzutreten, sein Junker Christoph Bleichenwang in „Was Ihr wollt“ mit seinen trübseligen Räuschen und renommistischen Rundgesängen, mit seinem kranken Lachen und seiner gesunden Feigheit ist schlankweg klassisch; sein Friedensrichter Schaal in „Heinrich IV.“ behauptet sich neben der Meisterschöpfung von Karl La Roche; sein Gracioso in Calderons „Arzt seiner Ehre“, wie in Lopes „König und Bauer“ ist so untadelig wie sein Schmock in den „Journalisten“. Die Bockssprünge des Satyrs im „Kyklops“ des Enripides fallen ihm nicht schwerer als die mundartlichen Scherzreden seines sächsischen Landsmannes Schmählich in „Rosenkranz und Güldenstern“.
Man sollte denken, daß dieser weitumschriebene Kreis bedeutender Aufgaben den Ehrgeiz eines Künstlers befriedigen sollte. Allein so gern sich Thimig als Episodist mit seinen bis ins Kleinste und Feinste ausgeführten Miniaturen dem Gesamtbilde, dem berühmten Ensemblespiel des Burgtheaters unterordnet, bisweilen lockt es ihn doch, zu versuchen, wie weit er imstande sei, ein ganzes Stück allein auf seinen Schultern zu tragen. Das erste Mal erfuhr er zu seiner Freude, daß seine Kraft auch solchen Aufgaben gewachsen sei, als ihm Wilbrandt die Hauptrolle in Gogols „Revisor“ zutheilte. Besser als jeder Lobspruch zeugt für diese Leistung die Thatsache, daß ein namhafter russischer Kritiker, Boborykin, der auf der Durchreise zufällig das Burgtheater besuchte, Thimigs Chestakoff für die beste Vergegenwärtigung dieses Typus erklärte, die man überhaupt noch gesehen, den Darsteller selbst aber schlechterdings für einen Russen hielt.
Seinen stärksten Trumpf spielte Thimig aber mit seinem Truffaldino aus, dem venezianischen Harlekin in Goldonis „Diener zweier Herren.“ Der Held dieser italienischen Volkskomödie ist ein Schelm aus Bergamo, der sich aus Hunger und Habsucht gleichzeitig zwei Herren verdingt, für die er vollauf zu thun hat. Dabei richtet er in seiner Einfalt, Gefräßigkeit und Verliebtheit soviel Verwirrung an, daß er von beiden geprügelt wird, bei beiden nicht satt zu essen bekommt und zuguterletzt keinen anderen Profit davonträgt – „wenn’s einer ist!“ – als ein Kammerkätzchen, das seine Frau wird. Dieser blutarme Teufel mit all seinen Schnurren und Streichen blickt nebenher auf einen jahrtausendealten Stammbaum zurück, denn in Wahrheit ist dieser venezianische Hanswurst der unmittelbare Abkömmling der verschmitzten Sklaven der altrömischen Komödie, ein Bursche, dem man trotz all seiner Frechheit und Verlogenheit nicht dauernd gram sein kann, da er uns immer wieder durch seine naive Unverschämtheit belustigt, durch seine närrischen Ausreden und tollen Stücklein entwaffnet. Seit Schröders Zeiten hat die deutsche Bühne immer wieder versucht, gerade diese Goldonische Posse, gleichsam als Musterstück des alten Stegreifspiels, in den festen Bestand ihres Repertoires aufzunehmen, denn Truffaldino wirkt weit mehr als durch die vorschriftsmäßigen Worte des Bühnentextes durch seine pantomimischen Zwischenspiele, durch seine Balletsprünge und Turnerkünste. Thimig hat sich mit wahrhaft genialer Schöpferkraft dieser Aufgabe bemächtigt; er wollte mit dem großen Arlechino Sacchi wetteifern, zugleich aber das strenge künstlerische Maß festhalten, welches die vornehmste deutsche Bühne auch der ausgelassensten Faschingsposse vorschreibt. Und dank der einzigen Mischung seines übersprudelnden Temperaments und seiner strammen künstlerischen Zucht gelang es ihm wirklich, Hanswursts Unsterbliches in den Burgtheaterhimmel hinüberzuretten. Er wagte es, dem übermüthigen Bengel eine körperliche Gelenkigkeit und Springfreudigkeit zu geben, die ihn wenig vom Seil- und Grotesktänzer unterscheidet. Im Kostüm behielt er pietätvoll das Abzeichen des Bergamasker Bauern, das Hasenschwänzchen am Hut, bei, während er das buntscheckige Harlekinsgewand weiter zurück vermenschlichte in das, was es vielleicht immer andeuten sollte: das geflickte Jäcklein eines armen, lustigen Hans Dampf. Vor allem schenkte Thimig Truffaldino aber sein ganzes Herz: „ich kroch in seine Haut,“ so scherzte er einmal, „als wenn sie meine eigene werden sollte, und nahm die verwegensten Uebertölpelungen so ernst und wahr, als ob mein Lebensglück davon abhinge, suchte naiv und überzeugt zu sein und mied ängstlich alle parodistischen Streiflichter, die den Darsteller klüger sein lassen, als seine Rolle.“ Jahrhundertalte halbverschollene Ueberlieferungen der volksthümlichen, wälschen und deutschen Komödie hat Thimig solcherart wiederbelebt und als moderner wohlgeschulter Schauspieler verjüngt, die venezianische typische Maske in eine lebenswahre und -warme, individuell bestimmte Persönlichkeit umgewandelt. Kein Zweifel, daß diese Leistung Thimigs einen Gipfel der neueren deutschen Schauspielkunst bezeichnet. Kein Lebender hat Thimig in der Heimath oder in Italien den „Diener zweier Herren“ vorgespielt, und wir glauben nicht, daß ihm irgendwer seinen Truffaldino, von dem Bild und Wort kaum eine Vorstellung geben können, nachspielen wird.