Aus dem Beamtenleben/Nr. 7. Der Vagabundenrichter

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Autor: C. S.
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Titel: Aus dem Beamtenleben/Nr. 7. Der Vagabundenrichter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 491–496
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Aus dem Beamtenleben.
Nr. 7. Der Vagabundenrichter.


Wer ist ein Vagabund? Dieser Begriff ist bekanntlich sehr weit; sprach doch der Graf zur Lippe jüngst im preußischen Herrenhause davon, daß die Richter in Folge allzu hoher Umzugskostenvergütung anfangen würden, zu vagabundiren. Unser Strafgesetzbuch definirt so: Vagabunden sind Diejenigen, welche sich mittellos, erwerbslos und ohne eine Gelegenheit zu ihrem Unterhalt aufzusuchen, umhertreiben. Solcher negativen Individuen, auf welche diese Kriterien Anwendung finden, giebt es nun im lieben deutschen Reiche leider erschrecklich viele. Es wäre interessant, eine Vagabundenstatistik anderer Culturvölker zu haben, allein diese existirt unseres Wissens nicht, und so müssen wir denn den Franzosen und Engländern glauben, wenn sie uns erzählen, daß Frankreich Vagabunden im deutschen Sinne fast nicht kennt, und daß England sich nur einer sehr geringen Anzahl derselben erfreut.

Sind es unsere in socialer Beziehung so zerklüfteten Verhältnisse, ist es der urteutonische Wandertrieb, der keine Ableitung nach Colonien findet, welche das Vagabundiren verursachen? Darüber kann man streiten, man kann aber nicht die Thatsache leugnen, daß bei uns ein wahres Heer von unnützen Bummlern tagtäglich auf der Landstraße liegt. Es ist gar nichts Seltenes, an einem Tage auf der Chaussee ihrer fünf bis zehn zu zählen. Und nun gar erst die Menge auf einer Tour-Straße der Vagabunden! Denn sie haben zu bestimmten Zeiten auch ihre bestimmten Wege. So z. B. wandert ein großer Haufen im Sommer die Ostseeküste entlang. Sie beginnen ihren Weg an der östlichen Seite von Holstein und gehen über die mecklenburgischen Bäder, Häringsdorf, Swinemünde, Kolberg, Zoppot bis nach Königsberg; dann schlagen sie sich, nachdem sie überall die Badegäste angebettelt und fette Weide gehabt haben, landeinwärts.

Ein anderer Zug geht im Herbst durch Nordwestdeutschland nach Holland, und es ist auf beiden Wegen schon vorgekommen, daß die Gensd'armen ihrer fünfzehn auf einmal abfingen. Ja, wir kennen eine unter den Vagabunden berühmte Herberge in der Nähe der holländischen Grenze, in welcher der Gensd'arm in einer schönen Nacht „revidirte“ und dabei nicht weniger als neun dieser „armen Reisenden“ fand, von denen auch nicht ein einziger Legitimationspapiere besaß. Das ist aber ein seltenes Ereigniß; bei weitem die meisten von ihnen wissen, welchen Werth etwas Geschriebenes für sie hat. Deshalb gehen sie auch oft, wenn sie sich auf redlichem Wege nicht in den Besitz von Arbeitsscheinen, Entlassungszeugnissen oder Führungsattesten setzen konnten, irgend einen schreibkundigen Freund, den sie fast in jeder Herberge finden, darum an, ihnen ein falsches Legitimationspapier auszufertigen. Oder wenn ein Grünling recht viele echte Legitimationspapiere mit auf die „Reise“ genommen hat, so betteln oder kaufen sie ihm einige ab. Die gefälschten Atteste sind oft recht geschickt gemacht, so geschickt, daß man staunt, mit welch geringen Mitteln große Wirkungen erzielt worden sind. So gab es in Stettin einen verkommenen Schreiber, der sich regelmäßig Morgens in der Herberge einfand und dort jedem Vagabunden seine Dienste für fünfzig Pfennig anbot. Er attestirte auf Verlangen das Blaue vom Himmel herunter, nahm, wenn es das Zeugniß eines Fabrikherrn gelten sollte, das schönste Büttenpapier, und wenn es sich um das Zeugniß eines Schusters handelte, den schmierigsten Lappen, den er auftreiben konnte. War niedergeschrieben, was der Vagabunde bescheinigt haben wollte, dann beglaubigte er die Unterschrift des Arbeitsgebers mit irgend einem amtlichen Siegel, welches er oft nur dadurch herstellte, daß er in die untere Fläche eines Holzpfropfens Rand, Umschrift und Wappen schnitt, den Pfropfen schwärzte und ihn vorsichtig abdrückte. Wir haben einen Andern gekannt, der nicht weniger geschickt war, aber die Thorheit beging, in Wanderbücher, Pässe etc. den Namen des betreffenden Vagabunden selbst hineinzuschreiben, den richtigen oder einen falschen. Erwischt nun der Gensd'arm, oder, wie er von den Vagabunden ehrfurchtsvoll genannt wird, der Herr Oberstwachtmeister (statt Oberwachtmeister) einen „Reisenden“, in dessen Papieren sich die Unterschrift vorfindet, so ist es sein Erstes, daß der Vagabund seinen Namen in das Notizbuch des Herrn Wachtmeisters schreiben muß, und da sieht der Name im Notizbuch entweder in Bezug auf die Schrift ganz anders aus als im Legitimationspapier, oder aber der Vagabund hat in der Bestürzung den falschen Namen im Passe vergessen und schreibt wahrheitsgetreu: Karl Müller, obgleich er nach dem Passe Wilhelm Merzer heißen müßte, und ist dann „gefaßt“.

Legitimationspapiere haben für den Vagabunden doppelten Werth, einmal weil er im Besitze von solchen nicht so leicht verhaftet wird, und dann, weil es, wenn er verhaftet ist, für ihn zunächst darauf ankommt, sofort urkundlich nachzuweisen, daß er erst seit kurzer Zeit unterwegs ist, oder daß er unterwegs öfters gearbeitet hat; je länger „seine Reise“ gedauert hat, je weniger Unterbrechungen durch zeitweiliges Arbeiten sie gefunden hat, desto härter die Strafe. Aber wie hart auch die Strafe ausfalle, uns ist nicht bekannt, daß sie ihn jemals geheilt hätte. Ist ihm der Aufenthalt in dem einen Theile unseres weiten Vaterlandes durch Haftstrafen verleidet worden, so entwickelt er seine Reisethätigkeit bald in einer anderen Gegend, die ihm weniger gefährlich erscheint. Könnten wir es wie die Holländer machen, die, sobald sie einen Vagabunden erwischen, ihm einen Gensd'armen beigeben, der sich mit ihm auf die Eisenbahn setzt und ihn über die Grenze befördert, ohne irgend welche Rücksicht auf die dadurch entstehenden, oft großen Kosten, so würden wir uns der lästigen Gesellen bald entledigt haben. Aber das geht bei uns nicht; denn unsere Vagabunden sind ja alle – Landeskinder. Ab und zu trifft man wohl einmal einen Schweizer und öfter noch einen Oesterreicher, doch die Fremden sind im Ganzen sehr selten.

Das Leben der Vagabunden ist ein höchst elendes. Die Wenigsten führen ein Reservekleidungsstück mit sich und der Anzug, den sie tragen, ist bei den Meisten sehr defect. Namentlich sind die Stiefeln in der Regel zerrissen. Die hierdurch an den Füßen entstehenden Schäden verursachen einen leisen, vorsichtigen Gang, und man kann den alten Vagabunden von dem jungen deutlich dadurch unterscheiden, daß der alte schleichend und mit den Füßen stark nach auswärts, meist auf den Fersen geht, der junge noch mit den Sohlen auftritt. Fechten sie viel Geld zusammen, so wird es meist verwandt, um stärkende Getränke anzukaufen. In der Regel reicht aber ihr Verdienst dazu nicht aus und sie sind kaum im Stande, den Herbergswirth zu bezahlen, wenn dieser auch noch so wenig ankreidet. Es ist unglaublich, wie gering dessen Forderungen gewöhnlich sind; in kleinen Städten kostet das Nachtlager zwanzig Pfennig und der des Morgens verabreichte Kaffee fünf bis zehn [492] Pfennig. Es sind uns noch wenige Vagabunden vorgekommen, deren Baarschaft, die selbstverständlich immer aus einzelnen Kupfermünzen besteht, mehr als eine Mark betrug. – Und trotz dieser Noth ist es doch höchst merkwürdig, daß es unter ihnen so außerordentlich Viele giebt, die in ihrer Armuth sich nicht durch Diebstahl, Betrug oder Raub, wozu ihnen ja oft genug Gelegenheit geboten ist, Geld zu verschaffen suchen, daß es so Viele giebt, die lieber zwei Tage ohne Essen und ordentliches Nachtlager zubringen, als stehlen. Allerdings ist die Zahl derjenigen Legion, die, wenn sie an einem augenblicklich verlassenen Bauernhause vorbeikommen, einen kühnen Griff in den Rauchfang oder Hühnerstall thun, die Vorbestrafungen Vieler lauten aber immer nur auf „Zwei Tage wegen Bettelns; Acht Tage wegen Landstreichens; Ein Tag wegen Führung eines falschen Legitimationspapieres; Zehn Tage wegen Bettelns und Landstreichens“ und schließlich „Sechs Wochen wegen Landstreichens und zwei Jahre Correctionshaus“. Correctionshaus! Das ist für den Vagabunden das Traurigste, was ihm widerfahren kann. Er wird in diesem zu regelmäßiger Arbeit gezwungen und ihn überfällt ein Frösteln, erinnert er sich an den Zwang zur Arbeit. Sieht er nach seiner Verhaftung ein, daß ihm Correctionshaus droht, so wendet er alle möglichen Mittel auf, um der Unterbringung in die Besserungsanstalt oder, wie der technische richterliche Ausdruck lautet, der „Ueberweisung an die Landespolizeibehörde“ zu entgehen.

Wenn ich nun hier einen Menschen der beschriebenen Gattung vorführe, so muß ich zunächst noch eine erläuternde Bemerkung vorausschicken. Die meisten Vagabunden geben bei der Verhaftung in der Regel gleich ihren richtigen Namen an. Nur leugnen sie Alle, daß sie schon jemals bestraft seien. Wenn man dann bei der Polizeibehörde ihres Heimathsortes, die gesetzlich von jeder Verurtheilung benachrichtigt werden muß, Auskunft einzieht, so trifft ein Auszug aus dem schwarzen Buche ein, der alle Vorbestrafungen kurz enthält. Wird der Auszug dem Vagabunden vorgelesen und er befragt, ob er diese Strafen schon erlitten habe, so giebt er sie gewöhnlich ohne Weiteres zu, oft mit sehr drastischen Aeußerungen, z. B.: „Wenn Sie es wissen, was fragen Sie mich danach?“ Nach der Zahl und Art dieser Strafen richtet sich dann natürlich die Verurtheilung, und scheint der Vagabund nach den Vorstrafen wieder etwas Correctionshaus nöthig zu haben, so wird er zu der Abführung in dasselbe verurtheilt. Die Möglichkeit der Heilung ist ja nicht ausgeschlossen, und jedenfalls wird er wieder auf einige Zeit für die menschliche Gesellschaft nützlich gemacht oder doch letztere von ihm befreit.

Wie wichtig also die Vorstrafen, das wissen die Intelligenteren unter den Vagabunden ganz genau, und um den Folgen einer Bekanntwerdung ihres früheren Lebenswandels zu entgehen, geben sie sich ab und zu einen falschen Namen. Dann schreibt sich der Polizeirichter, dem die Aburtheilung des Vagabunden obliegt, die Finger lahm, um herauszubekommen, wie der Mann heißt. Bleibt der Vagabund hartnäckig bei der Verschweigung, so ist nichts zu machen; er kann doch nicht ewig in Untersuchungshaft sitzen, wird also endlich unter falschem Namen verurtheilt und zieht nach verbüßter Haft fröhlich seiner Wege. Zu einer Ueberweisung an die Landespolizei konnte er nicht verurtheilt werden, weil dieses erst bei Rückfall angebracht erscheint, ein Rückfall aber eben nicht constatirt worden ist. Natürlich werden alle Hebel angesetzt, damit der Vagabund den Richter nicht derartig nasführt – es könnte ja auch sein, daß man einen gefährlichen, längst gesuchten Verbrecher vor sich hat –, aber was hilft's, wenn der Untersuchungsgefangene sich nicht selbst verräth! Die Mühe, die ein solcher Namenloser dem Vagabundenrichter macht, soll Folgendes veranschaulichen.

Eines Tages – es war im April – brachte der berittene Gensd'arm in B. einen Menschen zu mir, dem Polizeirichter. Er hatte ihn bei einer Revision der Herberge im Städtchen ohne Legitimationspapiere angetroffen und deshalb festgenommen. Der Vorgeführte war ein hübscher, kräftiger, blonder Mensch mit einer Adlernase, starkem Schnurrbart und glatt rasirtem Kinn, in der Mitte der Vierziger. Obwohl auf den ersten Blick in ihm der Vagabund zu erkennen war, zeigte doch sein ganzes Auftreten, daß er keineswegs zu den verkommenen seines Zeichens gehörte, und hätte er nicht ab und zu einen ganz gefährlichen Blick, der schärfste Beobachtung verrieth, aus den klugen Augen entsendet, so wäre man versucht gewesen, ihn für einen harmlosen, biederen Menschen zu halten[WS 1]. Auch der Wachtmeister schien besorgt zu sein, daß der Mann für ungefährlich gehalten werden möchte; denn nachdem er ihn im Amtszimmer abgeliefert und ein Gerichtsdiener die Bewachung übernommen hatte, trat er an mich heran und sagte leise:

„Das ist ein ganz verfluchter Kerl; hinter dem steckt etwas.“

„Weshalb nehmen Sie das an?“

„Gründe habe ich nicht; das ist so mein Verdacht. Ich empfehle mich.“

Nachdem ich einige dringende Geschäfte erledigt hatte, begann die verantwortliche Vernehmung.

„Wie heißen Sie?“

„Jan van den Bruck.“

„Wo geboren?“

„Breda, Brabant.“

„Wann sind Sie geboren?“

Der Vagabund legte die Hand hinter das Ohr, als ob er die Frage nicht verstanden hätte. Als sie wiederholt wurde, sagte er in holländischer Sprache, daß er das Deutsche nur sehr schwer verstehe, weil er ein Niederländer sei. Da auch ich vom Holländischen nicht viel wußte, so wurde ein in der Nähe wohnender Dolmetscher herbeigeholt, und diesem erklärte er sodann, er sei zweiunddreißig Jahre alt, sei mit dem zwanzigsten Jahre aus dem Elternhause fortgelaufen und habe „in der Ost“ auf Java Dienst genommen. Er sei zwölf Jahre lang Soldat gewesen, habe in Atchin gefochten, die Tapferkeitsmedaille erhalten und sei dann nach Europa zurückgekehrt. Er komme geraden Wegs von Amsterdam und sei auf der Reise nach Serbien begriffen, wo es einen Aufstand gegen die Türken geben solle, um dort den Christen mit seinem Arme zu helfen. Seine sämmtlichen Papiere und seine ganze Baarschaft habe ihm unterwegs ein verruchter Handwerksbursche gestohlen.

Die ganze Erzählung wurde so flüssig und mit einem solchen Anscheine der Wahrheit vorgetragen, daß ich ihr unbedingt Glauben geschenkt haben würde, wenn mir nicht ein merkwürdiges Zucken um den Mund des Vagabunden aufgefallen wäre, das er ab und zu zeigte.

„Glauben Sie, Herr Schütz,“ fragte ich den Dolmetscher, „daß der Mann ein Holländer ist?“

„Das muß ich wohl,“ antwortete dieser, „obwohl es mir vorkommt, als spräche er mit etwas deutschem Accent.“

Als der Dolmetscher dies sagte, leuchtete es wieder im Gesichte des Vagabunden und seine bisher so friedliche Miene zeigte einen widerwärtigen, höhnischen Ausdruck. Ich hatte mit dem Dolmetscher schnell und leise gesprochen, aber der Mann hatte offenbar jedes Wort genau verstanden. Ich hielt ihm darauf eine lange Ermahnungsrede, oder richtiger, ließ sie ihm durch Herrn Schütz halten: er möge doch die Wahrheit in Bezug auf seinen Namen und seine Herkunft sagen, es würde in Breda schriftlich angefragt werden, ob er von dort herstamme, und wenn sich das nicht ergäbe, würde er nach langer, durch seine falschen Angaben verursachter Untersuchungshaft streng bestraft werden, aber es half nichts; er blieb hartnäckig bei seinen Behauptungen. Der Dolmetscher hielt ihm vor, er spreche ja nicht wie ein geborener Holländer, das veranlaßte ihn aber nur zu sagen, er könne viele Sprachen sprechen, und da möge sich der ursprüngliche Klang seiner Muttersprache etwas verwischt haben. Als der Dolmetscher das bezweifelte, begann er sofort eine lange Tirade im fließendsten Französisch, sprach dann einige Sätze, die er als malayisch bezeichnete, und bat uns schließlich noch an, er wolle uns eine Probe von seiner Kenntniß in dem Liplap-Dialekte geben, dem Mischmasch von Englisch, Holländisch und Malayisch, das die Javanesen sprechen. Wir verzichteten aber darauf, und nachdem wir festgestellt hatten, daß Herr Jan van den Bruck allerdings in Java gewesen sein konnte, ließ ich ihn abführen.

Als ich Nachmittags spazieren ging und mir schon mehrmals der Gedanke durch den Kopf geschossen war, was mit dem Menschen anzufangen sei – durch unsere Gesandtschaft in Breda Erkundigungen einzuziehen, verlohnte sich doch wohl nicht der Mühe – erblickte ich unsern Wachmeister, der eilig auf mich zukam.

„Herr Amtsrichter,“ sagte er, „denken Sie, da spreche ich eben den Uhrmacher Winter; der fragt mich, was für einen [493] Menschen ich heute an seinem Hause vorbei transportirt hätte; er habe uns durch das Fenster gesehen und in dem Vagabunden einen Mann wiedererkannt, der früher schon einmal bei ihm gearbeitet habe. Sagte ich Ihnen nicht gleich, hinter dem Kerl stecke etwas? Gelogen hat er doch, das ist sicher.“

„Schön – sagen Sie dem Uhrmacher, er möge um fünf Uhr auf das Gericht kommen!“

Um die bestimmte Zeit waren der Vagabund, der Gerichtsschreiber und ich in der Amtsstube zusammen. Es klopfte. Herr Winter trat ein, sagte „Guten Tag“, sah sich den Vagabunden an und ging dann mit einem freundlichen: „Ei, Joseph! Wo kommen Sie denn her?“ auf denselben zu.

Der Vagabund verzog keine Miene, nur schoß ein böser Blick aus seinen grauen Augen, als er gleichgültig auf holländisch sagte: „Was wollen Sie von mir? Ich kenne Sie nicht.“

„Es ist merkwürdig,“ wandte sich der Uhrmacher zu mir, „welch kurzes Gedächtniß der Mann hat. Vor etwa vier Jahren ist er eines Abends spät ganz abgerissen in mein Haus gekommen und hat flehentlich um Essen gebeten. Ich verwies ihm das Betteln und sagte ihm, er solle Arbeit suchen. Da bat er, ich möchte ihm doch Arbeit geben; er verstehe etwas von der Uhrmacherei und wolle sich anstrengen, mich zufrieden zu stellen. Ich hatte damals gerade Hülfe nöthig und da habe ich ihn denn behalten.“

„Zeigte er sich denn wirklich als gelernter Uhrmacher?“

„Ich sage Ihnen, das ist ein wahrer Teufelskerl; sogar die feinen Sachen verstand er wenigstens so gut wie ich, ja er hat eine Spieluhr für unsern Pastor wieder in Gang gebracht, deren Reparatur mir nie gelingen wollte. Ich habe ihn sehr hoch geschätzt und gab ihm das auch zu verstehen, aber, als er eines Morgens nicht zur Arbeit kam, ging ich auf seine Stube und fand den Vogel ausgeflogen. Er ist etwa sechs Wochen bei mir gewesen.“

„Wie hieß er denn damals?“

„Joseph; den Familiennamen habe ich vergessen.“

„Van den Bruck?“

„Gott bewahre! Er hatte einen viel gewöhnlicheren Namen.“

„Und sprach gut deutsch?“

„Gewiß, so gut wie wir Beide.“

„Hatte er keine Legitimationspapiere?“

„Nein, über sein früheres Leben habe ich Nichts erfahren.“

„Und Sie können bestimmt behaupten, daß dieser Mann, der hier vor uns steht, derselbe ist, der vor vier Jahren bei Ihnen gearbeitet hat?“

„Gewiß, das ist derselbe, so wahr, wie ich hier stehe.“

Eine Frage an den Vagabunden, ob er noch immer Holländer sein wolle, beantwortete dieser mit Achselzucken. Nachdem der Uhrmacher seine Aussage beeidigt hatte, wies ich denselben an, auf die Polizei zu gehen und dort nachschlagen zu lassen, unter welchem Namen er den Gesellen damals angemeldet habe. Herr Winter erklärte aber, er hätte die Anmeldung im Drange der Geschäfte unterlassen, und so waren wir denn, was den Namen betraf, wieder so weit wie zuvor. Der Uhrmacher erinnerte sich jedoch, daß er vor vier Jahren einen Lehrling gehabt habe, der jetzt noch in der Stadt wohne und den Namen des Gesellen vielleicht behalten habe. Der ehemalige Lehrling wurde herbeigeholt; auch er erkannte den Vagabunden mit der größten Bestimmtheit wieder, ihm war aber nicht einmal dessen Vorname im Gedächtniß geblieben. Herr Jan van den Bruck wurde wieder abgeführt, und es blieb nunmehr nichts Anderes übrig als die Polizei auf die Spur zu setzen und Nachforschungen zu halten, die an des Vagabunden Aufenthalt in der Stadt anknüpften. Mit diesen gingen die nächsten acht Tage hin, aber fruchtlos. Ich wollte ihn schon unter dem von ihm angegebenen Namen verurtheilen, um kurzen Proceß zu machen – da bat er eines Tages um Vorführung und erklärte im fließendsten, etwas südlich gefärbten Deutsch Folgendes:

„Daraus, daß Sie mich so lange sitzen lassen, sehe ich, daß Sie von der Holländerei Nichts glauben. Ich will die Sache abkürzen und sage Ihnen deshalb die Wahrheit. Ich heiße Karl Astor, bin in Bremerhaven zu Hause und bisher auf Kauffahrteidampfern als Maschinenwärter und auch als Ingenieur, je nachdem es kam, gefahren. Zuletzt bin ich zwei Jahre lang auf einem russischen Schiffe bei der Maschine gewesen. Ich bin vor einem halben Jahre in London entlassen und habe mich dort einige Zeit aufgehalten. Dann bin ich über Amsterdam hierher gekommen.“

„Wo haben Sie denn Ihr Seefahrtsbuch?“

„Das hat mir mein Boardingmaster in London weggenommen, um ein Pfand dafür zu haben, daß ich ihm nicht mit dem Kostgeld durchginge. Da ich letzteres aber nicht bezahlen konnte, habe ich ihm das Buch gelassen.“

„Sie wollten nach Serbien, sagten Sie früher.“

„Nein, ich wollte wieder zu dem alten Esel, dem Winter, der mich jetzt so in's Pech geritten hat, und bei ihm Arbeit suchen. Ich habe das Bummeln satt.“

„Wenn Sie aus Bremerhaven sind, so werden Sie mir wohl das Haus bezeichnen können, in dem Sie zuletzt gewohnt haben.“

„Das habe ich vergessen.“

„Lebte Ihr Vater in Bremerhaven?“

„Ja, er war Ballastverkäufer.“

„Können Sie mir nicht wenigstens die Straße sagen, in der dieser zuletzt gewohnt hat?“

Der Vagabund bedachte sich einige Augenblicke; dann sagte er rasch: „Kirchplatz,“ und gab auf weiteres Befragen auch die Hausnummer 8 an. Ich versuchte noch mehr Thatsachen aus ihm herauszubringen, aber vergeblich. Als ich ihn schließlich fragte, warum er denn die holländische Komödie gespielt habe, erwiderte er kurz: „Ich dachte, Sie würden mich sofort über die Grenze bringen lassen; das wäre mir am liebsten gewesen.“

An demselben Abend noch wurde in Bremerhaven telegraphisch angefragt, ob die Aussage des Vagabunden richtig sei. Als Bescheid kam zurück: „Karl Astor völlig unbekannt. Kirchplatz, Nummer 8 existirt nicht.“ Mit diesem Bescheide ging ich ärgerlich zu dem Beschuldigten in das Gefängniß.

„Sie namenloses Individuum!“ sagte ich zu dem Vagabunden, der sehr verwundert schien, mich sobald wiederzusehen, „welche unnütze Schreiberei verursachen Sie mir da! Die Polizei in Bremerhaven kennt Sie ja gar nicht.“

„Das thut mir leid,“ erwiderte der Vagabund kaltblütig, „der Herr erste Bürgermeister dort hat mich wohl schon sechsmal persönlich verwarnt und abgeurtheilt, wenn ich an irgend einer Schlägerei oder Ruhestörung betheiligt gewesen war, und nun wollen die mich nicht kennen!“

„Was sagen Sie denn dazu, daß es in Bremerhaven keinen Kirchplatz giebt?“

„Dazu sage ich,“ erwiderte der Namenlose mit der größten Ruhe, „daß die Bremerhavener die Namen ihrer eigenen Straßen nicht zu kennen scheinen.“

„Ich will Ihnen etwas Anderes sagen,“ eröffnete ich ihm, „wenn die Polizei aus Bremen telegraphirt, Sie seien dort unbekannt, dann haben Sie dort nie mit der Polizei zu thun gehabt, und wenn sie sagt, daß es keinen Kirchplatz gebe, so giebt es eben keinen. Wie heißen Sie und woher sind Sie? Ich bin der Schauspielerei müde.“

Der Vagabund sah mich einen Augenblick von unten herauf wie prüfend an; dann entgegnete er mit einer Art von Geringschätzung: „Wenn Sie das jemals herausbekommen, dann will ich nicht …“ er wollte offenbar seinen Namen nennen mit dem Schlusse „heißen“, besann sich aber noch frühzeitig genug und schloß: „dann will ich katholisch werden.“ –

Lebten wir noch in der schönen Zeit, wo das Prügeln erlaubt war, so würde ich seinen Namen binnen zehn Minuten erfahren haben, aber jetzt gehörte mehr Zeit dazu. Doch die längste würde vielleicht nicht hingereicht haben, wäre nicht wieder unser Wachtmeister zu Hülfe gekommen. Kurz nach der letzten Unterredung kam er triumphirend zu mir und zeigte einen Brief vor.

„Herr Amtsrichter,“ sagte er, „ich glaube, wir haben ihn. Diesen Brief hat heute der Postbote für den Vagabunden in der Herberge abgegeben – lesen Sie einmal!“

Der Brief, den der Wachtmeister übergab, war offenbar von einer weiblichen Hand adressirt und zwar „An Herrn Jan van den Bruck in B.“ In dem Umschlage steckte ein halber Bogen Briefpapier, auf den dieselbe Hand geschrieben hatte: „Nimm Dir in Acht, sie sind hinter Dich!“ Ort, Zeit und Unterschrift fehlten.

„Ja, ja,“ sagte ich zu dem Wachtmeister, „Sie behalten Recht; diese Verwarnung scheint auf einen gefährlichen Verbrecher [494] zu deuten und wenn unser Vagabund das ist, so können wir uns auch sein hartnäckiges Schweigen erklären, aber um zu erfahren, an wen sie gerichtet ist, müssen wir wissen, von wem sie kommt, und letzteres wird schwer halten. Der Brief und die Adresse geben zu wenig Anhaltspunkte. Doch halt, was ist das? Sehen Sie sich einmal den Aufgabestempel an!“

Der Wachtmeister betrachtete denselben sorgfältig, und wir kamen bald dahinter, daß bei dem Abstempeln des Briefes am Aufgabeort folgende Manipulation vorgenommen war. Der Name des Ortes auf dem Stempel begann mit den Buchstaben Ha; die folgenden Buchstaben waren nicht zum Abdruck gekommen, und das konnte nur dadurch geschehen sein, daß bei dem Abstempeln irgend ein Hinderniß, z. B. ein Streifen Papier, zwischen Stempel und Brief gelegt worden war. Die Buchstaben Ha und die Zeit waren in dem Abdruck des Stempels zu deutlich sichtbar, als daß das Fehlen der weiteren Buchstaben auf einem Zufall beruhen konnte. Derjenige, der den Brief am Aufgabeorte abstempelte, hatte offenbar verhüten wollen, daß man den Aufgabeort aus dem Abdruck des Stempels entnahm. Jedoch er war, wie das so oft vorkommt, zu schlau gewesen. Hätte er den Brief wie andere Briefe abgestempelt, so würde Niemand den Absender erfahren haben, jetzt aber führte seine Vorsicht die Entdeckung herbei. Die Oberpostdirection des Gerichtsbezirkes erkannte sehr bald aus dem Sternchen, welches sich unter dem Datum des Abdruckes befand – der Briefstempel hat bekanntlich außer Ort und Datum oft noch ein Zeichen in Gestalt eines Kreuzchens oder Sternchens – den Ort der Aufgabe, stellte Nachforschungen an, und da ergab sich denn, daß der abstempelnde Briefträger auf den besonderen Wunsch eines ihm bekannten Frauenzimmers die Manipulation vorgenommen hatte, um den Aufgabeort zu verheimlichen. Mit dem Frauenzimmer war auch die Sache aufgeklärt. Ich konnte sehr bald den Vagabunden wieder vorführen lassen und sagte ihm, nachdem er wieder jede Auskunft, sein Nationale betreffend, hartnäckig abgelehnt hatte:

„Sollten Sie nicht vielleicht der Techniker Wilhelm Delbrück aus Kassel sein?“

Der Vagabund fuhr erschreckt zurück, dann stammelte er leichenblaß: „Wer hat Ihnen das verrathen?“

[496] „Sind Sie nicht sechszehnmal wegen Vagabundirens und Landstreichens bestraft worden?“

„Mag sein.“

„Sind Sie nicht das letzte Mal vom Kreisgericht in Kassel zu zwei Jahren Correctionshaus verurtheilt worden und am dritten Tage nach Ihrer Unterbringung in dasselbe entsprungen?“

Der Vagabund biß sich die Lippen blutig, dann sagte er trotzig: „Ich frage Sie, wer da den Verräther gespielt hat?“

Ich antwortete ihm demnächst mit der Verurtheilung zu vier Wochen Haft, nach deren Verbüßung er in die Besserungsanstalt zurückzuliefern sei. Als ich ihm das Urtheil verkündigt hatte, wurde ihm die Frage gestellt, ob er gegen dasselbe Berufung einlegen wolle. Er erwiderte: „Das wäre ungefähr so, als wenn ich mich über den Teufel bei seiner Großmutter beschweren wollte,“ und ließ sich, ergeben in sein Schicksal, abführen. –

Etwa sechs Wochen später sagte mir eines Tages meine Frau, es sei ein fremder Mensch dagewesen, mit einer krummen Nase und stechenden Augen. Er habe sie gefragt, ob sie meine Frau sei, und auf die Bejahung der Frage gebeten, mir mitzutheilen, er hieße Delbrück und wäre in der Besserungsanstalt nur zwei Tage geblieben, es sei ihm da zu langweilig gewesen. Uebrigens ließe er mich freundlichst grüßen.

Gott weiß, welcher Vagabundenrichter sich jetzt mit ihm abquälen mag, um seinen Namen zu erfahren.
C. S.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: halteu