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Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors/Nr. 5. Ein preußischer Subalternbeamter

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Titel: Ein preußischer Subalternbeamter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 763–766
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aus den Erinnerungen eines Gefängniß-Inspectors.

5.0 Ein preußischer Subalternbeamter.

„Und führe uns nicht in Versuchung.“

Wie unzählige Male wird das nachgebetet, und wie selten wird das verstanden! Es giebt nur einen Ort, an welchem sich das Verständniß von selbst aufdrängt. Dieser Ort ist das Gefängniß. Die Gefangenen, welche hier Jahr ein, Jahr aus beherbergt werden müssen, sind sämmtlich der Versuchung unterlegen. Sie sind es aber nicht immer, weil Neigungen, Gewohnheiten und Leidenschaften dem Versucher zu Hülfe kamen und in die Hände arbeiteten, sie sind es häufig genug erst dann, nachdem Sorgen, Kümmernisse und die bitterste Noth, welche unverschuldet sie heimsuchte, alle Kräfte aufgezehrt und jeden Widerstand unmöglich gemacht hatten.

In meiner Erinnerung summiren sich diese Ausnahmsfälle zu einer nicht geringen Höhe. Jeder einzelne Fall hat mir die schmerzlichsten Seelenleiden vor Augen geführt. Ich habe Gelegenheit gehabt, in die Brust des Gefallenen tief hineinzusehen, und die Wahrnehmungen, die ich hierbei machte, haben mich oft zum aufrichtigen Mitleiden, oft sogar zur Bewunderung hingerissen.

Der Fall, den ich hier mittheilen will, und der nicht sehr alt ist, soll nicht allein unterhalten, er soll auch neuerdings die Aufmerksamkeit auf einen Uebelstand hinleiten, welcher dringend Abhülfe fordert. –

Es war früh nach fünf Uhr, ein wundervoller Morgen im schönen Monat Mai. Ich hatte die Anstalt zum ersten Mal revidirt, Alles in Ordnung gefunden, nichts zu tadeln gehabt, für den Augenblick nichts zu thun, und trat, um eine Stunde allein zu sein und den schönen Morgen im Freien zuzubringen, aus dem Hause hinaus in den kleinen Garten, der mir zur Benützung überlassen war. Meine Angehörigen und auch die mir untergebenen Beamten wußten es, daß ich nicht gestört sein wollte, so lange ich mich in diesem Garten befand. Ich konnte daher, wenn ich gerufen wurde, allemal annehmen, daß etwas Ungewöhnliches vorgekommen sein mußte.

An jenem Morgen war ich kaum fünf Minuten aus dem Hause, als meine Tochter erschien und mir meldete, daß ein Mann mich zu sprechen verlange, der nicht warten wolle und sich auch nicht abweisen lasse.

Der Gefängniß-Beamte muß zu jeder Zeit zugänglich sein, er darf dies nicht auf gewisse Tagesstunden beschränken; ich verließ daher, wenn auch ungern, ohne Zögern den Garten und ging in das Haus zurück nach meinem Arbeitszimmer. An der Thür desselben erwartete mich ein großer, starker Mann, der mich mit den Worten anredete.

„Ich melde mich bei Ihnen als Gefangener.“

„Haben Sie Strafe zu verbüßen?“ fragte ich, ohne den Mann genauer anzusehen, indem ich in mein Zimmer eintrat und die Thür desselben offen ließ.

„Nein.“

Erst dieses kurze, ganz ungewöhnlich gesprochene Wort machte mich aufmerksam. Ich wendete mich zurück, nach der Thür zu, und sah nun den Mann in das Zimmer und mir näher treten. Die Bewegungen, die er hierbei machte, waren schleichend und schleppend, ohne Sicherheit und ohne Halt. Und doch hatte ich einen Mann vor mir, der mindestens sechs Zoll über fünf Fuß groß, starkknochig gebaut war und kaum vierzig Jahre alt sein mochte. Wenige Schritte vor mir blieb derselbe stehen, schweigend und in sich zusammengesunken. Um den Kopf, der mühsam hochgehalten wurde, hing das dunkelgefärbte Haar angeordnet, wirr umher; das mit einem starken, struppigen Bart bedeckte Gesicht hatte keine Farbe, es sah entsetzlich bleich; die Augen zeigten sich geröthet, die Lider stark aufgelaufen, der Blick war müde, schläfrig, wie dies nach einer durchwachten Nacht der Fall zu sein pflegt; die linke Hand befand sich in der Seitentasche eines schmutzigen Paletot, die rechte hing schlaff an der Seite herab. In demselben Moment, in welchem ich diese in das Auge faßte, löste sich von dem untersten Theile derselben ein dunkelgefärbter Tropfen los und fiel auf den Boden nieder, wo vorher schon ähnliche Tropfen niedergefallen sein mußten, da die Diele an dieser Stelle bereits dunkel gefärbt war.

„Sie verlieren Blut!“ schrie ich vor Ueberraschung laut auf. „Sind Sie verwundet?“

Der Mann erwiderte nichts, er streckte mir nur beide Hände entgegen, welche in der Gegend des Gelenkes mit schmutzigen Tüchern umwunden waren. Diese Tücher zeigten sich bereits so naß, daß sie das Blut nicht mehr aufnehmen und zurückhalten konnten, die Tropfen lösten sich schneller los, sie fielen zahlreicher zu Boden nieder, und bald hatten sich auch hier kleine Blutlachen gebildet. Das Hochhalten der Hände mußte dem Manne Schmerzen bereiten, er biß die Zähne fest zusammen; auch die Augen wurden auf einige Augenblicke lebhaft, sie richteten sich fest, aber stier und stechend auf mich. Das währte jedoch nur ganz kurze Zeit, die Kräfte schienen zu schwinden, die Arme fielen schlaff hernieder, der Mund blieb geschlossen, kein Wort begleitete diese Bewegungen.

„Wer sind Sie?“ fragte ich, um dieser peinlichen Scene ein Ende zu machen.

„Ich bin der Actuar Thürbeck,“ entgegnete der Mann mit matter, leiser Stimme.

„Aber was wollen Sie denn hier? Ich habe keine Anweisung, Sie in das Gefängniß aufzunehmen.“

„Das weiß ich. Sie müssen mich aber dennoch aufnehmen. Ich bin ein Verbrecher, sogar ein schwerer Verbrecher, Sie dürfen mich nicht wieder aus diesen Räumen lassen.“

„Was haben Sie, Herr, gethan?“

Thürbeck stierte vor sich nieder, er antwortete nicht, aber in seinem Gesicht zuckte jede Muskel. Einige Male machte er den [764] Versuch, Worte hervorzubringen, das gelang aber nicht, es kamen nur gurgelnde, unverständliche Laute zum Vorschein. Ich hatte das vorher schon bei verschiedenen Gefangenen wahrgenommen. Das Bewußtsein der Schuld läßt gleichzeitig alle Folgen derselben übersehen, den Verlust der Ehre und der zukünftigen Existenz, das Elend, in welches die Familie versetzt ist, und die Strafe, mit welcher die Schuld gesühnt werden muß. Und das zusammengenommen erzeugt einen Schmerz, der so ungeheuer groß ist, daß er die Brust und die Kehle zusammendrückt, daß er lähmt und eine Mittheilung unmöglich macht. Das Zucken hörte nach und nach auf, Thürbeck wurde ruhiger, bei einem neuen Versuch stieß er hastig, mit tonloser Stimme, die Worte heraus:

„Ich habe Cassengelder unterschlagen, ich habe Bücher gefälscht, ich, ich –“

Er konnte nicht weiter sprechen, kein Wort weiter hervorbringen. der große kräftige Mann war bis tief in das Innerste erschüttert. Ich holte einen Stuhl herbei und ließ ihn niedersetzen. Das schien ihm wohlzuthun, er streckte die markigen Glieder, holte mehrere Male tief Athem und sah mir einige Secunden wehmüthig ernst in das Gesicht. Dann sagte er bittend:

„Haben Sie Mitleiden mit mir. Sie sind ja auch Beamter, sind wohl auch Soldat gewesen. In die Lage, in der ich mich befinde, kann jeder Beamte kommen. Ich habe gefehlt, ich bin schuldig, ich weiß das, ich bin aber durch die Verhältnisse dazu gedrängt worden. Ich bin kein Spieler, kein Trinker, kein Schlemmer gewesen, habe nur selten ein Wirthshaus besucht und jeden unnützen Aufwand vermieden. Und dennoch ein Verbrecher! Wenn Sie einige Zeit übrig haben, so will ich Ihnen sagen, wie ich das geworden bin.“

„Aber Sie sind verwundet,“ sagte ich, als mein Blick zufällig wieder auf seine Hände fiel, „Sie bedürfen ärztlicher Hülfe. Lassen Sie –“

„Nein, nein,“ unterbrach mich Thürbeck, „das hat nichts auf sich. Wenn ich davon hätte sterben sollen, so würden Sie mich nicht vor sich sehen. Ja, Herr, ich wollte mir den Tod geben, weil ich mich der Verzweiflung überließ, nicht Herr meiner Sinne war, weil ich an nichts dachte, nicht an Weib, nicht an Kind, nicht an Gott, nur allein an meine Schuld. Aber der Tod kam nicht, ich habe seit gestern auf ihn gewartet, die ganze Nacht ihn herbeigewünscht, aber er kam nicht, er befreite mich nicht von den unsäglichen Qualen, die ich ertragen muß. – Ich bin Soldat gewesen, vierzehn Jahre lang,“ fuhr Thürbeck nach einer kleinen Unterbrechung fort; „zuletzt war ich Wachtmeister bei der reitenden Artillerie. Mein Einkommen in dieser Stelle betrug monatlich mindestens fünfundzwanzig Thaler. Außerdem hatte ich für Kleidung nichts auszugeben, für Arzt und Apotheker nichts zu zahlen, meine Kinder hatten unentgeltlichen Unterricht, und ich hatte weder an den Staat, noch an die Commune, noch an die Geistlichkeit irgend etwas zu entrichten.“

Die Erinnerung an das Soldatenleben schien für den Augenblick alles Elend in Vergessenheit zu bringen. Das vorher durch Schmerz entstellte Gesicht glättete sich, die Augen wurden lebhaft, der Ausdruck von Ermüdung war nicht mehr zu bemerken, Thürbeck hatte, vielleicht unbewußt, eine soldatische Haltung angenommen. Das war indeß nur von kurzer Dauer. In noch größerer Betrübniß fuhr er fort:

„Das Alles wurde anders. Ich hatte das Unglück, mit dem Pferde zu stürzen und den Fuß zu brechen, und erhielt in Folge dessen den Abschied mit der Berechtigung, mir ein Unterkommen bei einer Civilbehörde zu suchen. Dies Unterkommen fand ich bei dem Gericht in meiner Garnisonstadt. Mit dem Tage meiner Annahme erhielt ich monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen Diäten. Dagegen hörte von da an Alles auf, was mir als Soldat gegeben worden war. Ich bekam keine Pension, mußte dagegen Abgaben zahlen an den Staat, an die Commune, an die Geistlichkeit und an die Schule; ich mußte mir Kleider schaffen und zwar anständige Kleider, weil ich als Beamter anständig auftreten sollte; ich mußte mir Bücher kaufen, weil ich als Soldat nichts gelernt hatte, was mir in meiner neuen Stellung hätte nützen können. Und alle diese Ausgaben sollte ich, neben den Kosten des Unterhalts für mich und meine Familie, bestreiten mit monatlich sechszehn Thaler zwanzig Silbergroschen. Da hieß es denn sich einschränken. Das Unmögliche läßt sich aber nicht möglich machen. Mein Gehalt reichte nicht hin, die allernothwendigsten Ausgaben zu bestreiten, ich mußte Credit beanspruchen. Dieser Credit war für meine Verhältnisse ungewöhnlich, ich konnte denselben aber nicht verringern, obwohl ich im Laufe eines ganzen Jahres jeden Pfennig zu Rathe hielt, mit den Meinigen häufig nur Salz und Brod verzehrte und die Kinder meist barfuß laufen ließ.“

Thürbeck machte eine Pause. Ich hatte eine Tasse Kaffee kommen lassen, die er mit der Bemerkung annahm, daß er seit gestern nichts über seine Lippen gebracht habe. Nachdem er die Tasse hastig geleert und den Verband erneuert hatte, fuhr er fort:

„Die Entbehrungen waren fühlbar, die Sorgen für den Unterhalt von großem Umfange. Das hätte mich muthlos machen können, ich fand jedoch gerade hierin eine dringende Veranlassung zum Fleiß, weil ich nur erst nach bestandener Prüfung eine Besserung meiner Verhältnisse erwarten durfte. Die Hoffnung hielt mich in dem Streben nach Ausbildung aufrecht. Nach Jahresfrist hatte ich ein gutes Examen bestanden. Kurze Zeit später wurde ich als Bureau-Assistent und Sportel-Receptor bei der Gerichtscommission in R. angestellt. Ich war glücklich, ich glaubte das Ende meiner Leiden erreicht zu haben. Mein Gehalt betrug nun jährlich dreihundertundfünfzig Thaler, so stand es in der Bestallungsurkunde. Davon wurde mir aber ein Zwölftel, also der Gehalt für einen ganze Monat, als Beitrag zum Pensionsfonds zurückbehalten. Es wurden mir ferner die laufenden Beiträge zu diesem Fonds in Abzug gebracht. Ich mußte meine Frau gegen eine hohe Prämie in die Wittwencasse einkaufen, und endlich, um mein neues Amt anzutreten, mit Weib und Kindern, Hab und Gut, meinen Wohnort wechseln und dreizehn Meilen umziehen, ohne hierfür eine Entschädigung zu erhalten. Ich war arm. Die kleinen Ersparnisse, die ich als Soldat hatte machen können, waren ausgegeben, ich hatte bereits nicht unerhebliche Schulden, und mußte deren noch weit mehr machen, um nur erst meinen neuen Bestimmungsort zu erreichen. R. ist ein kleines freundliches Städtchen. Außer dem Kreisrichter wohnen dort nur noch zwei Prediger, ein Arzt und der Bürgermeister, sonst kein Beamter. Der Kreisrichter, ein freundlicher liebenswürdiger Mann, dem man gut sein mußte, machte mich darauf aufmerksam, daß ich mich diesen Familien vorstellen müsse. Ich that das. Die Folge davon war, daß ich Einladungen erhielt, die ich glaubte nicht zurückweisen zu können, und daß ich zuletzt wieder einladen mußte. Ich zögerte damit. Der Kreisrichter, dem es nur darum zu thun war, mir den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen, und der das freundliche Verhältniß, in welches ich getreten war, erhalten wollte, drängte mich dazu, indem er meinte, daß ich dies ‚Anstandshalber‘ nicht länger hinausschieben dürfe. Das bestimmte mich endlich, den Anforderungen des gesellschaftlichen Verkehrs gerecht zu werden und neue Verpflichtungen zu übernehmen. Kurze Zeit später erkrankte erst meine Frau und dann zwei meiner Kinder. Da ich am Tage nicht im Hause bleiben, die Pflege und Wartung also nicht selbst besorgen konnte, so mußte ich neben dem Arzte und dem Apotheker auch noch eine Wärterin annehmen. Die Ausgaben, welche dadurch verursacht wurden, hinderten mich, für ältere Verpflichtungen etwas zurückzulegen. Die Folgen hiervon wurden bald fühlbar. Ich erhielt Mahnbriefe und, da diese keinen Erfolg haben konnten, bald darauf Drohbriefe. Von dieser Zeit an quälte ich mich Tag und Nacht, einen Ausweg oder ein Mittel zu finden, meine Gläubiger zufriedenzustellen. Ich stellte diesen meine Lage vor, bat um Nachsicht, und beschränkte die Ausgaben auf die wirklich nur allernothwendigsten Bedürfnisse. Das half mir nichts, ich konnte nichts erübrigen, der Gehalt war eben nur für das Allernothwendigste berechnet.“

Thürbeck schien hier zu übertreiben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm das zu sagen. Er hörte mir ruhig zu, erwiderte dann aber mit einer Heftigkeit, die mich überraschte:

„Sie sagen mir da nichts Neues, meine Gläubiger schrieben mir dasselbe, diese wunderten sich sogar, daß ich bei meinem Gehalte nicht auskommen könne, und meinten, daß derjenige, der etwas ‚Gewisses‘ habe, seine Ausgaben danach einrichten müsse. Ach Gott, ja, die Leute hatten scheinbar nicht Unrecht. Ich hätte mir keine Kleider, keine Bücher schaffen dürfen, weil ich sie nicht bezahlen konnte; ich hätte nicht umziehen, auch nicht den Wünschen meines unmittelbaren Vorgesetzten nachgeben dürfen und lieber auf [765] allen gesellschaftlichen Verkehr verzichten müssen; ich hätte endlich für meine Frau und Kinder keinen Arzt und keine Wärterin halten, und Medicamente nicht beziehen dürfen, wenn ich hierzu keine besonderen Mittel hatte, weil meine Gläubiger dadurch verkürzt wurden. Wenn Sie glauben, daß Sie ein Recht haben, dies von mir zu verlangen, so will ich mich bescheiden, daß ich übertrieben habe. Aber Sie können das nicht verlangen. Berücksichtigen Sie nur, lieber Herr, daß zu der Zeit, wo mein Gehalt fixirt wurde, ein gewöhnlicher Pferdeknecht mit höchstens dreißig Thalern, und eine Magd mit sechszehn Thalern Lohn jährlich abgefunden wurde, während jetzt jener fünfzig bis sechszig Thaler, und diese bis dreißig Thaler erhält; berücksichtigen Sie ferner, daß diese Lohnerhöhung für alle anderen Lebensverhältnisse genau dieselbe ist; und dann berücksichtigen Sie, daß der Gehalt eines Bureau- Assistenten, auf dem eine weit größere Vertretungs-Verpflichtung haftet, als auf Knecht und Magd, unverändert derselbe geblieben ist, und die Abzüge sich gesteigert haben.“

Thürbeck machte es wie viele andere Verbrecher, er gestand die strafbare Handlung zu, wälzte aber die Schuld auf die ungünstigen Verhältnisse, die ihn dazu gedrängt haben sollten. Ich benutzte eine Pause, die er machte, um ihm dies zu Gemüthe zu führen. Er ließ mich aber nicht ausreden.

„Sie haben mich nicht verstanden,“ sagte er mich unterbrechend, „ich will mich nicht entschuldigen, ich weiß recht gut, daß der Mensch, und vorzugsweise der Beamte, unter allen Verhältnissen treu und ehrlich sein muß, ich kam nur darauf zu sprechen, um Ihnen die Größe meiner Leiden einigermaßen klar zu machen. Lassen Sie mich in meinem Bekenntnisse nun zum Schluß kommen. Etwa vierzehn Tage nach Empfang des letzten Drohbriefes gingen an einem Tage zwei Klagen gegen mich ein. Der Schneider und der Fuhrherr hatten diese angestellt. Ich war bei dem Anblick derselben wie erstarrt, folgte einer augenblicklichen Eingebung, und steckte die Papiere, indem ich sie zusammendrückte, in meine Tasche. Das war das erste Unrecht. Ich war mir dessen vollständig bewußt, ich verhehlte mir auch nicht, daß damit nur momentan geholfen sei, daß ich ein Mittel ersinnen müsse, dies erste Unrecht zu vertuschen. Nur Geld konnte mich retten. Wo sollte ich das aber finden? Die erste Gehaltszahlung war erst nach vier Wochen fällig. Vorschuß durfte ich nicht nehmen. Geld! Hatte ich denn nicht genug unter meinem Verschlusse? Wenigstens acht Tage lang schloß ich fast stündlich den Kasten auf und ließ das Geld durch meine Hände gleiten, schloß aber immer wieder zu, indem ich sagte: ‚du mußt, du willst ehrlich bleiben.‘ Ich kann Ihnen nicht mit Worten ausdrücken, wie unendlich schwer es mir wurde, wie das Blut in mir kochte, wie der Schweiß massenhaft ausströmte, der Kopf und die Brust mir zu zerspringen drohete. Dieser peinigende Zustand verschlimmerte sich, als eine dritte Klage einging, und diese von mir gleichfalls unterdrückt worden war. Dies war etwa drei Wochen vor der Gehaltszahlung. Drei Wochen umfassen eine kleine Ewigkeit, wenn jede Stunde Leiden schafft, für welche es gar keinen Namen giebt. Auf der einen Seite peinigte mich die Furcht vor der Entdeckung meines strafbaren Handelns, auf der andern Seite quälten mich die Sorgen und Entbehrungen, und da mitten hindurch schrie eine Stimme aus mir heraus: ‚nimm von dem Gelde, was du verwahrst, dann ist dir geholfen.‘ Diese Stimme war laut, ich konnte sie nicht zum Schweigen bringen, sie war am lautesten, wenn ich Cassegelder einschließen mußte. Ich entschloß mich, dies so viel als möglich zu vermeiden. Das war schon Schwäche, ich fürchtete die Gefahr. Als ich anfing, die eingehenden Gelder anzusammeln und täglich nur ein Mal einzuschließen, bestürmten mich Gedanken anderer Art: ‚Behalte das Geld, schließ es nicht ein,‘ so rief es in mir. Ich schrie zwar immer noch: ‚nein! nein! nein!‘ aber dies Schreien war nur der Ausdruck innerer Angst, es beruhete nicht mehr ausschließlich auf Ueberzeugung und dem Bewußtsein meiner Pflicht.

Das Unglück wollte, daß eines Tages eine Post von über hundert Thalern mir in meiner Wohnung gezahlt wurde. Es war dies beinahe dieselbe Summe, welche das Object der gegen mich angestellten Klage bildete. Ich steckte das Geld in meine Tasche und nahm es mit nach dem Gericht, um dasselbe zu buchen und einzuschließen. Am Abend hatte ich das Geld noch in meiner Tasche. Die Nacht, welche nach diesem Tage folgte, verbrachte ich in einer furchtbaren Aufregung, kein Schlaf kam in meine Augen, ich fand keine Ruhe. Mein Denken richtete sich aber nicht mehr auf den Widerstand gegen das Unrechtthun, sondern lediglich darauf, das Unrecht zu verdecken. Als der Morgen grauete, verließ ich mein Lager geistig und körperlich ermattet. Und doch hatte sich die Aufregung gelegt. Ich war ruhig geworden, weil ich es aufgegeben hatte, ehrlich zu sein.“ –

Thürbeck schlug beide Hände vor das Gesicht, und mit einer Stimme, wie ich sie noch bei keinem Menschen gehört hatte, rief er: „Herr, ich wurde ein Verbrecher. Das Geld, das mir nicht gehörte, schickte ich fort; die Bücher, in welche ich die Zahlung hätte vermerken müssen, blieben unausgefüllt.“ –

Dies Bekenntniß und die Art und Weise, wie es gegeben wurde, war herzzerreißend. Ich vermochte das Weinen nicht zu unterdrücken, die Thränen nicht zurückzuhalten, und verließ das Zimmer. Als ich nach vielleicht zehn Minuten dahin zurückkehrte, hatte Thürbeck seine Stellung noch nicht verändert. Was sollte ich thun? Sollte ich trösten? Gab es denn für solchen Schmerz Trost? Worte reichten dazu jedenfalls nicht hin.

Ich setzte mich ruhig an meinen Arbeitstisch und schrieb die Anzeige an den Director. Thürbeck achtete nicht auf mich, er zog seine Hände nicht von dem Gesicht zurück. Erst als ein Unterbeamter eintrat und mit den Schlüsseln, die er in der Hand trug, unnützen Lärm machte, fuhr er auf. Seine Augen irrten umher, er schien nicht zu wissen, wo er sich befand. Ich befürchtete eine Scene, der Beamte sollte nicht Zeuge sein, ich schickte ihn fort. Kaum hatte dieser das Zimmer verlassen, so trat Thürbeck auf mich zu und ergriff meine Hände.

„Sie behandeln mich, den Verbrecher, mit Güte,“ sagte er, während seine Augen naß wurden, „Sie ziehen Ihre Hände nicht zurück, Sie verachten mich nicht, der gütige Gott lohne Ihnen das, ich vermag es nicht zu thun. Ich habe Ihnen gesagt, unter welchen Umständen ich Verbrecher geworden bin, offen und ehrlich, wie ich es später nicht wieder werde sagen können. Ich muß Ihnen auch noch mittheilen, wie ich hierher gekommen bin.

Gestern gegen Mittag sah ich den Cassen-Revisor ankommen. Ich hielt mein Verbrechen bereits entdeckt. Alles Blut stieg mir in den Kopf, ich war keines Gedankens mächtig. In meiner Angst, ohne Bewußtsein, verließ ich das Gerichts-Local und die Stadt, ich lief auf Nebenwegen in eine unweit derselben gelegene Waldung, und in diese so weit hinein, bis ich vor Ermüdung niederstürzte. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, und eben so wenig, weshalb ich hierher gelaufen war und was ich hier thun wollte. Die Angst hatte mich fortgetrieben, die Angst ließ mich nicht denken, keinen Entschluß fassen. Es war Abend geworden, ich wußte nicht, wie das gekommen war, ich lag noch an derselben Stelle, meine Glieder waren steif, wie gelähmt, der Kopf brannte mir wie Feuer, die Augen schmerzten mir, und doch konnte ich sie nicht schließen, ich war unbeweglich, und doch fand ich keine Ruhe. Um mich herum in einem weiten Kreise rührte und regte sich nichts, es herrschte die tiefste Stille, kein Laut drang bis zu meinen Ohren, nur hier“ – er legte die Hand auf die Brust – „war es lebendig, da arbeitete das böse Gewissen und bereitete mir Qualen, die mir noch in der Erinnerung schrecklich sind. Um mich her war dichte, undurchdringliche Finsterniß, und Friede und Ruhe. Auch in mir sollte es still werden. Ich wollte den Faden zerreißen, der mich mit dem Leben zusammenhielt, der Tod mußte das Gewissen zum Schweigen bringen, die Qualen endigen. Es kam anders. Der Verlust des Blutes aus den Wunden, die ich mir zugefügt hatte, erleichterte die Brust, und machte nach und nach auch den Kopf frei. Ich vermochte wieder zu denken. Weib und Kinder, die nichts wußten von meiner Schuld, traten mir vor die Augen. Da mußte ich so ganz unwillkürlich die blutenden Hände hoch heben und in einander fügen, und aus der erleichterten Brust drängten sich Worte inbrünstigen Gebetes zu Gottes Thron empor. Meine Angst milderte sich, Friede kam in meine Brust und Ruhe in mein gequältes Herz. Ich war im Stande, mit voller Ergebung in meine Zukunft die Wunden, die mir den Tod geben sollten, zu verbinden, um mich dem trostlosesten Leben, dem Leben im Zuchthause, zu erhalten.“ –

Der Beamte kehrte zurück. Er überbrachte mir die Anweisung, Thürbeck einzuschließen. Auf dem Wege nach dem Gefängnisse mußte ich diesem versprechen, seiner Frau von seinem Aufenthalte Nachricht zu geben, und ihm zu gestatten, sich ausruhen zu dürfen. –

[766] Die Verhandlung vor den Geschworenen zeichnete sich besonders dadurch aus, daß der Vertheidiger unwiderleglich nachwies, daß der Angeklagte nur durch die Unzulänglichkeit seines Gehaltes zu dem Verbrechen geführt sei, und daß das Strafgesetzbuch bezüglich der Verbrechen und Vergehen im Amte insofern eine nicht zu rechtfertigende Härte enthalte, als es hier die Annahme mildernder Umstände, welche in dem vorliegenden Falle unbedenklich angenommen sein würden, ausschließe. Thürbeck wurde mit der niedrigsten Strafe, das ist drei Jahre Zuchthaus, belegt.

Seine Verurtheilung erregte allgemeine Theilnahme und großes Bedauern. Er hat seine Strafe, welche durch die Bemühungen seines Vertheidigers im Wege der Gnade in Gefängnißstrafe verwandelt wurde, in meiner Anstalt verbüßt, und unmittelbar nachher, gleichfalls durch seinen Vertheidiger, bei einem Privat-Institute gegen einen Jahresgehalt von fünfhundert Thalern Beschäftigung gefunden. Er ist jetzt glücklich mit diesem immer noch kleinen Gehalt und ein tüchtiger und geachteter Beamter.