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Aus den Sprechstunden eines Arztes (4)

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Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Aus den Sprechstunden eines Arztes. Nr. 4
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 183–184
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[183]

Aus den Sprechstunden eines Arztes.

Nr. IV.

Wer als Patient zu einem gebildeten und gewissenhaften Arzte in die Sprechstunde geht, der sei darauf gefaßt, daß nicht blos gesprochen, sondern daß sein Körper, und zumal der leidende Theil, auch gehörig untersucht (besehen, befühlt, beklopft, behorcht) wird. Geschieht dies von Seiten des Arztes nicht, werden die Patienten von demselben blos ausgefragt und dann mit einem Recepte oder einem Pülverchen heimgeschickt, da ist man in die Hände entweder eines unwissenden oder eines gewissenlosen Heilkünstlers gerathen. Den meisten Frauen mit ihrem Schnürleibchen und ihrer Crinoline gefällt’s freilich, wenn ihnen der Arzt nicht zu nahe kommt und ihre Toilette nicht ruinirt, sie nennen das „Zartsein“ und den Arzt einen „artigen feinen Mann“. Die Thörinnen! Bei dieser Zartheit des artigen Doctors oder auch bei ihrer kindischen Schamhafigkeit siechen sie gar nicht selten trotz alles Curirens und Badens (in Ems, Marien- und Franzensbad, Pyrmont und in der See) allmählich an solchen Uebeln hin, die bei ordentlicher Untersuchung und bei richtiger örtlicher Behandlung in wenig Wochen vollständig geheilt worden wären.

Es ist übrigens ganz inconsequent von der Gesetzgebung, daß in unserer Zeit, wo doch so Vieles bestraft wird, zumal und ganz mit Recht die Vergehen gegen das Leben, die Gesundheit und das Eigenthum unserer Mitmenschen, trotzdem manchen Heilkünstlern gestattet ist, den Gesetzen der Wissenschaft geradezu zum Hohne, Kranken offenbaren Nachtheil an Leben und Gesundheit zuzufügen. Ist es denn nicht so gut wie Mord, wenn homöopathische Heilkünstler bei heftigen Unterleibsbeschwerden den Bauch des Kranken ununtersucht und eingeklemmte Brüche, die auf mechanische Weise recht leicht zurückgebracht und dadurch ungefährlich gemacht werden können, bei Darreichung ihrer Pülverchen (= Nichts) ganz ruhig in Darmbrand und Tod endigen lassen? Ist es ferner nicht verbrecherisch, örtliche Leiden, die nur durch örtliche Behandlung gehoben werden können, durch innere homöopathische (also nichtsnutzige) Mittel curiren zu wollen und den armen Kranken oft jahrelang ihre Gesundheit vorzuenthalten? Sollte es nicht auch strafbar sein, wenn homöopathische Heilkünstler solche Beschwerden, gegen welche die Wissenschaft wirklich heilsame Mittel besitzt, durch eine ganz unwissenschaftliche Behandlung nicht nur nicht heben oder lindern, sondern sich im Körper einbürgern und die Gesundheit für immer untergraben lassen? Am schimpflichsten ist aber das Gebahren derjenigen Aerzte, die, ohne den Kranken gesehen und genau untersucht zu haben, blos aus der Entfernung an demselben herumcuriren und wohl gar dabei theuere Geheimmittel anwenden.

NB. Also verschone man doch endlich einmal den Verf. mit der Zumuthung, brieflich ärztlichen Rath ertheilen zu sollen.




Der Pseudo-Hämorrhoidarius.

„Mein Uebel, lieber Herr Doctor, was mich schon seit ziemlich zehn Jahren peinigt und trotz der verschiedenartigsten Behandlungen von Seiten der gesuchtesten Aerzte (die mich, beiläufig gesagt, schon viele Tausende kosten) von Tag zu Tag immer schlimmer wird, ist [184]hämorrhoidalisch“, und damit, sowie mit diesem Stoße von Recepten, habe ich Ihnen hoffentlich Alles gesagt.“

„Nein! damit haben Sie mir gar nichts gesagt! Denn unter „hämorrhoidalisch“ verstehen die Laien und leider auch die meisten Aerzte die verschiedenartigsten Uebel und Beschwerden und zwar an den verschiedensten Stellen des Körpers. – Ich muß Sie deshalb bitten, mir Ihre Leiden in einfacher Sprache, ohne medicinische Phrasen, zu beschreiben.“

„So hören Sie. Ich war in meiner Jugend „scrofulös“ und später sehr zu „rheumatischen“ –“

„Halt, mein Herr! Das geht nicht. „Scrofulös“ ist der Popanz, dem so ziemlich Alles in die Schuhe geschoben wird, was Kindern nur immer passirt; scrofulös werden ebenso Kinder mit blonden Haaren, blauen Augen, dicker Nase, dicker Lippe und dickem Bauche, wie auch abgemagerte, krummbeinige und rothäugige Grindköpfe mit dunkeln Haaren genannt; scrofulös heißen in der Kindheit alle langwierigen Hautausschläge, Gelenkleiden, Augenübel, Verdauungsstörungen, Drüsenanschwellungen u. s. w. Und was Ihr „rheumatisch“ betrifft, so ist das im Munde des Laien auch nicht mehr werth, als wie „schmerzhaft“, und daraus kann sich der Arzt nichts entnehmen. Lassen wir vorläufig Ihre Vergangenheit, und nennen Sie mir Ihre hauptsächlichsten Beschwerden, von denen Sie eben jetzt heimgesucht werden.“

„Nun! da muß ich denn damit anfangen: ich bin sehr „nervös.“

„Das verstehe ich nicht! „Nervös“ nennen sich auch viele Damen, wenn sie sich aus Aerger, Eifersucht, Launenhaftigkeit u. s. f. so gebehrden, daß man sie richtiger „ungezogen“ nennen sollte. Könnten Sie mir denn nicht mit schlichten Worten etwa sagen, ob Sie irgendwo Schmerzen haben, ob Ihnen was im Kopfe oder sonst wo fehlt, ob das Athmen behindert oder die Verdauung gestört ist?“

„Das ist Alles nicht der Fall. Ich verliere nur sehr viel Blut mit dem Stuhle und bin –“

„– Und sind deshalb Hämorrhoidarius? Gut, daß ich endlich das wenigstens ans Ihnen heraus habe. – Hoffentlich sind Sie doch von Ihren früheren Aerzten genau (d. h. an der blutenden Stelle) untersucht worden, ehe Sie die vielen Arzneien schlucken und die verschiedensten Bäder besuchen mußten?“

„Nicht von Einem! Alle erklärten mein Leiden sofort für ein hämorrhoidalisches und verordneten mir danach der Eine dieses, der Andere jenes Mittel und Bad.“

„Das sind sehr gewissenlose Heilkünstler! Da ich das aber nicht sein will, so lassen Sie uns zuvörderst nach der Quelle der Blutung forschen, denn ohne Zweifel sind die meisten, wenn nicht alle Ihrer sonstigen Beschwerden die Folgen des übermäßigen Blutverlustes, also der Blutarmuth. Wenigstens spricht Ihre weiße, etwas wachsig glänzende Hautfarbe mit den durchschimmernden, dünnen, rothvioletten Blutadern an der Hand, die blasse Röthe der Lippen, des Zahnfleisches und der innern Augendlidhaut, sowie Ihre große Mattigkeit mit starkem Herzklopfen ganz dafür.“

Und was ergab nun die genaue Untersuchung? Nicht eine Spur von Hämorrhoidal-Anschwellungen, am allerwenigsten von blutenden Knoten, sondern eine wunde, aus vielen kleinen Aederchen blutende Stelle an der stark gerötheten, geschwollenen und schwammig aufgelockerten Darmschleimhaut. – Die übrigen Organe des Patienten waren ganz gesund, nur traten hier und da noch Erscheinungen enormer Blutarmuth (s. Gartenlaube 1853, Nr. 49) auf.

Und was war nun die Folge dieser Untersuchung? Nach wenigen Wochen war durch eine örtliche Behandlung (hauptsächlich mit Höllenstein) der Kranke, der gegen zehn Jahre fortwährend gelitten und trotz seines großen Vermögens ein freudenloses Dasein geführt hatte, dabei aber beim Gebrauch verschiedener Aerzte und Badecuren zu einem bleichen, matten Verzweifelnden heruntergekommen war, radical curirt und stolzirt jetzt am Arme einer jungen Frau blühend und kräftig einher. – Natürlich hat derselbe (wie das übrigens bei solchen Fällen dem honetten Arzte stets zu gehen pflegt), in Anbetracht der früher ganz erfolglos verwendeten Summen, für seine radicale Heilung nach den Umständen ganz erbärmlich gezahlt. Hätte ein Charlatan diesem Kranken vor Beginn der Cur versprochen, ihn ganz gewiß in Bälde vollständig herzustellen, aber nur gegen ein sehr hohes Honorar, sicherlich und mit Freuden hätte dieser Knauser jenes Honorar sofort bewilligt. Ueberhaupt sind Kranke, solange sie leiden, schnell bei der Hand, ihrem Arzte große Versprechungen zu machen, jedoch haben sie später, wenn sie wirklich durch die Mithülfe des Arztes gesundeten, kein Gedächtniß mehr dafür. Dann honoriren sie nach der Zahl der Besuche und nicht nach der Höhe der geleisteten Dienste, nicht bedenkend, daß der Arzt einen großen Theil seiner Zeit armen Kranken ohne Entgeltung widmet.

Schließlich sei noch in Betreff der „Hämorrhoidal-Zustände“ erwähnt, daß viele Schmerzen, Geschwülste und Blutungen an der Stelle, wo die Hämorrhoiden vorzukommen pflegen, durchaus nicht hämorrhoidaler Natur sind und deshalb stets einer genauen Untersuchung (besonders der Ocularinspection gleich nach dem Stuhle) von Seiten des Arztcs bedürfen, um richtig behandelt werden zu können.



Der homöopathische Reconvalescent.

„Vom „kalten oder Wechselfieber“ sind Sie also genesen und nur noch etwas schwach?“

„So ist’s! Vor zwei Monaten wurde ich zum ersten Male von einem Fieberanfalle heimgesucht, der sich dann einen Tag um den andern wiederholte, nach einigen Wochen jedoch unter homöopathischer Behandlung anfing schwächer zu werden und immer später an der Zeit einzutreten pflegte, bis er dann endlich vor Kurzem ganz verschwunden ist und nur noch ein geringes Frösteln an den früheren Fiebertagen, sowie große Mattigkeit, Schwere in den Füßen und Appetitlosigkeit hinterlassen hat.“

So erzählte ein kurzathmiger, schwerbeweglicher Herr mit fahler Gesichtsfarbe, schlaffen Mienen und bleichen Lippen, dessen Beine bei näherer Betrachtung bis an die Kniee wassersüchtig geschwollen und deshalb dem Kranken beim Gehen bleischwer waren.

Die physikalische Untersuchung ergab auf das Evidenteste, daß die Milz und die Leber, also die Organe, welche vorzugsweise auf die Blutbildung einen großen Einfluß ausüben, ganz enorm angeschwollen und dazu auch noch härter geworden waren.

Und diesen ruinirten Mann mit Wassersucht, Milz- und Leber-Anschwellung und Verhärtung nannte man einen „Reconvalescenten“!

Was hatte denn aber diesen Zustand herbeigeführt? Die homöopathische Behandlung, d. h. das Nichtsthun in arzneilicher und diätetischer Beziehung. Denn gerade beim kalten Fieber ist, wenn der Kranke nicht in einer ganz andern Luft und Gegend, als wo er erkrankte, leben kann, die baldige Darreichung eines solchen Arzneimittels ganz unentbehrlich, welches die hauptsächlichste und jene schlimmen Folgen nach sich ziehende Krankheitserscheinung, den Fieberanfall nämlich, zu heben im Stande ist. Und dieses Mittel ist, abgesehen von noch einigen andern weniger wirksamen, das Chinin, also derjenige Arzneistoff, dem die Homöopathie mit Beihülfe einer ganz unverschämten Lüge (denn Chinin erzeugt in einem gesunden Menschen nun und nimmermehr einen dem Wechselfieber ähnlichen Zustand) ihr Dasein verdankt und welches von den sogenannten „Bastard-Homöopathen“ (die übrigens, weil Ignoranten, am meisten die medicinische Wissenschaft und Kunst schmähen) beim Wechselfieber in ebenso großer, wenn nicht größerer Gabe verordnet wird, wie von den Allopathen.

Unser Kranker war leider einem strenggläubigen Homöopathen, einem echten Hahnemannianer, in die Hände gefallen und mußte nun natürlich noch längere Zeit dafür büßen, ja muß vielleicht zeitlebens mit kranker (großer, harter) Milz oder Leber einhergehen. Und während derselbe bei homöopathischer Behandlung viele Wochen durch das Fieber in seinem Geschäfte gestört worden ist, hätte er durch eine richtige allopathische Cur in wenigen Tagen von seinen Hauptbeschwerden befreit und wieder thätig sein können. Doch mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!
Bock.