Aus den Zeiten der schweren Noth/Nr. 4.

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Autor: Adolph Bube
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Titel: Aus den Zeiten der schweren Noth/Nr. 4.
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 597–599
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[597]
Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 4.

Rudolph Zacharias Becker.

Zu jenen Männern, die während der eisernen Unterdrückung des deutschen Volkes durch fremden Despotismus kräftig und furchtlos das Hochgefühl für Ehre, Freiheit, Selbstständigkeit und nationale Einheit unter uns zu immer helleren Flammen, zu Thaten anzufachen bemüht waren, gehört Rudolph Zacharias Becker. Er verdient es, daß wir gegenwärtig, wo ein rastlos agirender und annectirender Napoleon wieder den französischen Thron einnimmt, sein erhebendes Vorbild neben den Vorbildern anderer freien, deutschen Männer aufstellen. Und so wollen wir in einfachen, aber treuen Zügen schildern, wie er durch Wort und That für Wahrheit und Recht, für die heilige Sache des deutschen Volkes rastlos wirkte und unerschrocken duldete.

Rudolph Zacharias Becker wurde den 9. April 1752 zu Erfurt geboren, studirte in Jena Theologie und widmete sich nach Vollendung seiner Universitätsstudien als Hauslehrer der Jugendbildung. Darüber verfehlte er den gewöhnlichen Weg zur Anstellung in einem öffentlichen Amte seiner Geburtsstadt. Als jedoch im Jahre 1780 seine Beantwortung der Frage: „Ist es nützlich, das Volk zu täuschen?“ von der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit dem Preis gekrönt worden war, brachte ihn der Freiherr Karl Theodor von Dalberg. damals Statthalter des Kurfürsten von Mainz in Erfurt, zu der daselbst erledigten Professur der Geschichte und zum Secretair der Akademie in Vorschlag. Der Erfolg davon war aber, daß der Kurfürst von Mainz erst ein Jahr darauf die Schrift der geistlichen Censur übergab, um zu bestimmen, ob sie nicht als ketzerisch confiscirt werden müsse.

[598] Dennoch ermunterte der Beifall, den diese Schrift erhielt, Beckern, die Volksschriftstellerei zu seinem ordentlichen Berufe zu wählen. Nachdem er eine ihm angetragene Lehrerstelle an der Erziehungsanstalt zu Dessau angetreten hatte, schrieb er dort zuerst in den Jahren 1782 und 1783 die „Dessauer Zeitung für die Jugend und ihre Freunde“, die er nach seiner Uebersiedlung nach Gotha und selbständigen Niederlassung daselbst 1784 als „Deutsche Zeitung für die Jugend“ fortsetzte, dann seit 1788 mehr für Erwachsene berechnete und 1796 zur „Nationalzeitung der Deutschen“ erhob. Sein Wort drang bald so weit, als die deutsche Sprache ertönt. Seine wohlthätigen Rathschläge, seine verständigen Belehrungen wurden an den Höfen der Fürsten, in den Wohnungen der Bürger, in den Hütten des Landmanns vernommen. Muthig bekämpfte er alle Thorheiten, alle Werke der Finsterniß, eifrig empfahl er das Gemeinnützige jeder Art, begeistert sprach er für Alles, worauf die Würde der Menschheit beruht. So übte er den segensreichsten Einfluß auf die fortschreitende Bildung des deutschen Volkes.

Beim Nachdenken über die Gründe, aus welchen sich bestimmen lasse, was dem Volke, also dem Menschen überhaupt, wahrhaft nützlich sei, gewann er die Ueberzeugung, daß die gewöhnliche Vorstellung von zwei entgegengesetzten Grundtrieben des Menschen, einem Princip des Guten und einem des Bösen, irrig sei, und daß er nur von einem einfachen Naturtrieb bei allen Neigungen und Handlungen, auch den widersprechendsten bewegt werde. Das sei der Trieb der Fortschreitung oder der Vervollkommnung. Er sei die Quelle alles Guten, Edlen und Großen, wenn er von der Vernunft geleitet, ebenso aber auch die Quelle aller die Menschheit entehrenden Laster und Verbrechen, wenn er ohne Leitung der Vernunft befriedigt werde. Die christliche Religion lehre keinen andern Weg zum Heil der Seele, als diesen, nur daß sie das Streben nach Vollkommenheit noch durch das höchste Gebot der Liebe erhöhe und veredle. Er stellte dieses Moralsystem zuerst im „Noth- und Hülfsbüchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauergeschichte des Dorfes Mildheim (Gotha, 1787–1798.)“ als praktisches Beispiel der Selbstbildung der Einwohner eines Dorfes so lebendig und anregend dar, daß von diesem Volksbuche bald über eine Million Exemplare in vielen Auflagen (neueste Auflage 1838, Preis 27 Sgr.), Nachdrücken und Uebersetzungen abgesetzt wurden. Später, 1791, verband er damit sein „Mildheimisches Liederbuch“ und 1816 sein „Mildheimisches Evangelienbuch“, die sich ebenfalls vielen Beifall gewannen.

Die naturgemäße Sittenlehre, die er in seinem Noth- und Hülfsbüchlein schlicht und klar dem unverbildeten Landmann vorgetragen, brachte er in seinen „Vorlesungen über die Pflichten und Rechte der Menschen (2 Bände, 1791 und 1792)“ in wissenschaftliche Form und Zusammenhang für die gebildeten Stände und erläuterte sie mit wirklichen Beispielen aus der Geschichte des Tages. Die äußeren Umstände waren damals einem solchen Unternehmen günstig. Es war das Zeitalter Friedrichs des Einzigen und Josephs des Zweiten. Becker durfte den Grundsatz aufstellen: „Da die Menschen in Staaten vereinigt leben, um nicht blos wie Viehheerden neben einander ruhig zu weiden, sondern um Hand in Hand den Weg des Fortschritts zu wandeln, so erstreckt sich das Gebiet der Oeffentlichkeit über Alles, was Menschen angeht, nicht blos über öffentliche Angelegenheiten der Länder, Städte und Dörfer, sondern auch über Handlungen des Einzelnen, insofern ihre Bekanntmachung der Gesammtheit nützen kann.“

Diesem Grundsatze gemäß setzte er auch seine journalistische Thätigkeit fort. Im Jahre 1791 begründete er neben der Nationalzeitung der Deutschen den „Anzeiger“, der 1792 durch ein kaiserliches Privilegium zum „Reichsanzeiger“ erhoben und nach Aufhören des Reichs im Jahre 1806 in den „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ verwandelt wurde. Der eigene Vertrieb dieser Zeitschriften und seiner Bücher veranlaßte ihn, eine Buchhandlung zu gründen.

Obschon er bei der Unterdrückung unseres Vaterlands durch den französischen Despotismus seine schriftstellerischen Mittheilungen nur auf die schon öffentlich bekannten Ereignisse der Zeit beschränken mußte, so suchte er doch stets für Erweckung deutschen Gemeinsinns und deutscher Volksliebe zu wirken, so oft sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. In diesem Sinne führte er mit Beihülfe seines Schwagers Hennicke insbesondere die Nationalzeitung bis zum Jahre 1811 fort, wo ein unbekannt gebliebener, boshafter Verleumder dem Marschall Davoust die Idee in den Kopf setzte, Becker sei Theilnehmer geheimer politischer Verbindungen gegen Napoleon und stehe an der Spitze von 20,000 verschworenen Deutschen, die der französischen Armee in den Rücken fallen sollten, wenn sie nach Rußland zöge. Davoust ertheilte alsbald demselben Maréchal de Logis, Namens Pfersdorf, der einst den unglücklichen Herzog von Enghien in Ettenheim verhaftet und nach Paris geführt hatte, den Befehl, Beckern gefangen zu nehmen und in die Citadelle von Magdeburg zu bringen. Pfersdorf zog in der Nacht vom 29. zum 30. November 1811 mit einer starken Schaar Cürassiere von Erfurt zu diesem Unternehmen aus, ließ die Landstraßen von Gotha nach Erfurt, Eisenach und Schmalkalden besetzen und Becker’s Wohnung von Cürassieren umzingeln. Dieser hatte in früher Morgenstunde eben einen Brief an den ältesten seiner damals in Göttingen studirenden Söhne geschlossen, als ein Fremder, der ihn zu sprechen verlangte, in sein Zimmer geführt wurde. Kaum hatte derselbe ihm sein den Allgemeinen Anzeiger der Deutschen betreffendes Anliegen vorgetragen, als sich ein entsetzliches Gepolter auf der Treppe vernehmen ließ und alsbald mehrere Cürassiere in das Zimmer drangen, wo sie mit ihren Waffen einen Lärm machten, als ob sie Alles zertrümmern wollten. Der mit dem Kreuz der Ehrenlegion gezierte Anführer kündigte Beckern mit donnernder Stimme an, er käme im Namen und auf Befehl des französischen Gouvernements, sich seiner Person und seiner Papiere zu bemächtigen. Er möge sich unverzüglich dazu bequemen, ihm zu folgen, sonst würde er Gewalt brauchen. Becker’s Frage nach der Ursache dieses Verfahrens wurde auf brutale Weise abgewiesen. Seine Frau, die, durch das kriegerische Getöse aufgeschreckt, zu ihm zu dringen versuchte, wurde mit blankem Säbel bedroht. Endlich gelang es ihr, in ein Cabinet neben dem Zimmer ihren Mannes zu kommen; doch auch hier wurde sie von dem Anführer zurückgehalten, bis derselbe auf Vorstellung von Becker’s Schwager, Hennicke, ihr erlaubte, Abschied von ihrem Manne zu nehmen. Sie reichte ihm jammernd sein gewöhnliches Frühstück und hatte in diesem schrecklichen Augenblick noch die Fassung, auch dem Mann, der ihr Herz so tief verwundete, ein Glas Wein anzubieten. Beschämt schlug er es aus und benahm sich ruhig und höflich.

Inzwischen wurden Becker’s Papiere von französischen Polizeibeamten mit der größten Hast zusammengepackt und in die vor der Hausthüre haltenden Wagen geschafft. Da nahte sich der Expeditionsgehülfe und Gesellschafter seiner Buchhandlung Lossius dem Anführer, faßte ihn, um sich bemerkbar zu machen, beim Rock und frug ihn, was dies zu bedeuten habe. Jener schrie den Cürassieren zu, den Menschen von ihm abzuhalten. Sogleich setzten sie ihm die Säbelspitzen auf die Brust und trieben ihn in eine Ecke. Dort bedrohten sie ihn bei jeder Bewegung mit dem Tode, bis der Anführer hinzutrat und ihn frei zu lassen befahl. Dennoch wäre er beinahe noch ein Opfer der Brutalität geworden. Der Diener Becker’s war nämlich am Wagen noch mit dem Aufbinden der gleichfalls weggenommenen Schatulle seines Herrn beschäftigt, als der Postillon die Pferde zum Abfahren antrieb und jener dadurch in Gefahr gerieth, gerädert zu werden. Da stürzte Lossius aus der Hausthüre, um ihn zurückzureißen. Augenblicklich haut ein Cürassier ihn über den Arm und sticht gerade auf ihn los, so daß er das Leben nur einer schnellen Wendung verdankt.

Becker mußte in den Wagen steigen, ohne irgend eine Verfügung für seine Familie, sein Hauswesen und seine Geschäfte für den möglichen Fall seines Todes hinterlassen zu können. Der Zug ging über Langensalza, Sondershausen, Nordhausen etc., ohne daß er das Ziel desselben erfuhr. Seiner Bitte, ihm eine kurze Rast zu gewähren, wurde nicht gewillfahrt. Den 2. December früh 5 Uhr erblickte er die Wälle von Magdeburg. Als das Thor geöffnet worden, wurde er zum Gouverneur und Commandanten gebracht und nach Davoust’s Befehl beiden als Staatsgefangener von äußerster Wichtigkeit übergeben, der mit der größten Verschwiegenheit verwahrt werden und für den die Herren mit ihren Köpfen haften sollten. Er wurde in das backofenförmige Gewölbe einer feuchten Casematte eingesperrt, durch deren mit starken, eisernen Stäben versehenes Fenster die Sonne noch nie einen ihrer Strahlen geworfen, weil es auf der Nordseite der Casematte war. Alle Lebensbedürfnisse konnte er nur auf eigene Kosten erhalten, alle Bücher und Schreibmaterial waren ihm versagt, und selbst in den kurzen Wintertagen durfte er nur beim Abendessen und nicht länger als eine Viertelstunde Licht brennen. Gehindert an allem [599] Verkehr mit Frau, Kindern und Freunden, gänzlich abgeschieden von aller menschlichen Gesellschaft und Mittheilung mußte er seine Unterhaltung auf sich selbst, auf die Erinnerungen der Vergangenheit, auf die Empfindung seiner gegenwärtigen Leiden und Entbehrungen, auf die Hoffnungen und Besorgnisse der Zukunft beschränken. In den ersten Wochen seiner Haft schien es ihm kaum zweifelhaft, daß man ihn wie Palm erschießen würde, um durch seinen Tod ebenfalls ein Schreckbild für die noch deutsch gesinnten Deutschen aufzustellen. Da er keine Handlung oder Gesinnung sich vorwerfen konnte, wodurch er ein solches Schicksal verdient hätte, so glaubte er, dasselbe als eine Fügung Gottes ansehen zu dürfen, der ihn würdige, zum Besten des deutschen Volkes, dem sein Leben in Wort und That gewidmet gewesen, auch noch durch seinen Tod mitzuwirken. Diese Ansicht gab ihm den Muth, dem Tod ohne Grauen in’s Auge zu sehen und sich darauf gefaßt zu machen, den letzten Gang als deutscher Mann mit Ehren zu thun. Die Sorge für seine Gattin und seine fünf noch unversorgten Kinder stellte er der Vorsehung anheim, wobei er jedoch die Gefühle des Herzens nicht ganz bemeistern konnte.

Im neunten Monate seiner Gefangenschaft wurde dieselbe von dem Gouverneur, Divisionsgeneral Grafen Michaud, sehr gemildert, wahrscheinlich weil der Richter, der die Untersuchung gegen Becker inzwischen geführt hatte, seine Unschuld versicherte. Dennoch fühlte er bei der mageren Kost seine Kräfte abnehmen und sich in der feuchtkalten Casematte von rheumatischen Fieberanfällen ergriffen, welche die Hülfe des Arztes erforderten. Als ihm am 26. August 1812 der Gefangenwärter seine Mittagssuppe brachte und er vom Bette aufgestanden war, ihm die schwere Fallthüre des Kerkers emporheben zu helfen, so riß der daran befestigte Strick entzwei. Er war zu schwach, die Thüre aufrecht zu erhalten, sie fiel nach seiner Seite zurück, schmetterte ihn nieder, mit dem Kopf wider die Mauer, zerschlug ihm das rechte Schlüsselbein und quetschte den Oberarm. Der Arzt erklärte, daß die Heilung sich verzögern werde, wenn er nicht in ein gesundes Zimmer gebracht würde. In der dumpfen Kerkerluft könne sich zu seinem schon vorhandenen Fieber ein Wundfieber gesellen und ihm leicht gefährlich werden. Er durfte daher ein von ihm selbst gewähltes Zimmer in der Wohnung des Commandanten beziehen, fand dort unter menschenfreundlichen Personen Achtung und Theilnahme und genas von seiner Verletzung bis auf periodische Schmerzen, die er noch lange empfand. Während seines Krankenlagers hatte ihm der Gouverneur auch bewilligt, daß ihn seine Söhne besuchen durften. Sie kamen an, als er, den Arm noch in der Binde, unter den Linden vor der Commandantenwohnung auf einer Bank saß. Die Freude des Wiedersehens überwältigte die Herzen. Sie ergoß sich in Thränen, ehe sie Worte finden konnte.

Der siebzehnte Monat seiner Gefangenschaft ging schon zu Ende, und noch zeigte sich ihm keine Aussicht zu seiner Befreiung, obschon er selbst, seine Familie, seine Freunde und Gönner dieserhalb alle möglichen Mittel angewendet hatten. Da traf die Nachricht in Gotha ein, daß Napoleon durch diese Stadt kommen werde, um von Erfurt aus den neuen Feldzug zu eröffnen. So schmerzliche Gefühle nun auch sein Name in der unglücklichen Gattin und ihren Kindern aufregen mochte, so belebte sie doch die schwache Hoffnung, daß sie vom Kaiser unmittelbar Gerechtigkeit erlangen würden. Als man ihnen daher am 25. April gegen Abend meldete, der Kaiser werde in einer halben Stunde eintreffen, so eilten sie nach dem Gasthof zum Mohren, wo er absteigen sollte. Dort erfuhren sie aber, daß er nicht aussteigen, sondern nur die Pferde beim Chausseehause nächst der Stadt wechseln werde. Sie beflügelten daher ihre Schritte auf dem Wege zu dem bestimmten Orte, wo sich eine Menge Menschen versammelt hatte, um den Mann des Jahrhunderts zu sehen. Jetzt kam der kaiserliche Wagen, und der Herzog August von Sachsen-Gotha, der wenige Minuten vorher auf dem Platze angelangt war, nahte sich dem Schlage, um den Kaiser zu begrüßen. Da fürchtete die Schwerbekümmerte, es möchte ihr der günstige Augenblick entzogen werden. Sie riß sich plötzlich vom Arm ihres zweiten Sohnes mit den Worten los: „Nein, ich warte nicht länger!“ schob den vor ihr stehenden Gensd’armen auf die Seite, stand mit einem Sprunge vor dem Wagen und überreichte hastig dem Kaiser ihr Schreiben. Aber in dem Augenblicke verließen sie auch ihre Kräfte, sie sank laut jammernd zu Boden. Es war ein herzzerreißender Anblick, die verzweifelnde Frau im Staube vor dem Herrscher zu sehen, den sie als den Urheber ihres Unglücks hassen mußte. Der Kaiser entfaltete das Schreiben, während er sich zum Wagen herauslegte und den Herzog fragte, wer die Frau sei. Ehe dieser noch eine Antwort ertheilte, sah der Kaiser in das Papier und sagte: „Ich weiß es, was es ist.“ Er bat dann den Herzog, der Frau die baldige Rückkehr ihres Mannes zu verkündigen. Der Herzog hob sie freudig gerührt auf und wünschte ihr zur Befreiung ihres Mannes Glück. In dem Augenblicke erschallte auch schon ein allgemeines „Hurrah!“ wie es vielleicht in Deutschland niemals in Gegenwart des Kaisers gerufen worden. Der Kaiser legte sich noch einmal zum Wagen heraus und sagte zu der tiefgerührten Frau: „Ihr Mann wird zurückkehren; aber sagen Sie ihm, daß er sich künftig klüger benimmt und sich nicht mehr in die Angelegenheiten der großen Mächte mischt,“ Worte, die deutlich zeigten, wie sehr gehässige Verleumdung Beckern angeschwärzt haben mußte. Hierauf rollte der Wagen davon.

Den 5. Mai um die Mitternachtsstunde trat Becker wieder in sein Haus ein. Er sagt darüber in seiner ergreifend geschriebenen, zeitgeschichtlich merkwürdigen Schrift „Becker’s Leiden und Freuden in siebzehnmonatlicher Gefangenschaft (1814)“: „Liebende und geliebte Gatten, Eltern und Kinder, welche je von den Ihrigen so lange, und mit solcher Gefahr der Trennung auf immer, entfernt waren, nur solche vermögen sich die Scenen des Wiedersehens und die Gefühle des Herzens, das sich kaum von der Wirklichkeit der erfüllten Sehnsucht überzeugen kann, in der ganzen Fülle der Entzückung vorzustellen. Die Sprache ist zu arm, sie Andern mitzutheilen.“

Becker’s Befreiung war seine Auferstehung zu neuem Leben und Wirken. Nach dem über den Welttyrannen ergangenen Gottes- und Völkergericht erneuerte er den 1. Januar 1814 die Nationalzeitung der Deutschen und machte in ihr das hehre Gericht der Offenkundigkeit noch mehr geltend, als früher. So berichtete er das Gute und Böse, was sich hören und sehen ließ, was aller Welt zum Spiegel, zur Warnung oder zur Nachahmung bekannt werden sollte; so war er ein Wächter der öffentlichen Wohlfahrt, ein Anwalt der Volksnoth; so sorgte er für echte, innere Verbesserung des deutschen Volkslebens. Auch der deutschen Kunstgeschichte leistete er wesentliche Dienste durch Herausgabe des Werkes: „Hans Sachs im Gewande seiner Zeit (1821)“ und der „Holzschnitte alter, deutscher Meister,“ deren werthvolle Originalplattensammlung sich jetzt im königlichen Museum zu Berlin befindet. So war er thätig, bis er am 28. März 1822, Abends 6 Uhr, nach vierwöchentlichen Leiden, wenige Tage vor Vollendung seines siebenzigsten Jahres sanft mit der untergehenden Sonne von der Erde schied. Sein Geist aber lebt und wirkt auf ihr fort unter Denen, die für die höchsten Güter der Menschheit, für Religion, Wahrheit, Freiheit und Recht ernst und freimüthig wirken, die, wenn es gilt, für sie standhaft dulden und dem Tod unverzagt in’s Auge schauen. Sein „Anzeiger der Deutschen“ endete erst mit dem Jahre 1850, und viele unserer Leser werden sich des Blattes noch erinnern können.

Adolph Bube.