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Stille Leute

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Textdaten
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Autor: Ernst Stötzner
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Titel: Stille Leute
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 599–602
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Autor nach Aus der Welt des Schweigens
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Stille Leute.


Mir gegenüber wohnt seit einigen Jahren ein gar seltsames Ehepaar. Es sind dies Leute so still und ruhig, daß selbst der eigensinnigste Hauswirth über solche Miethsbewohner nichts zu bemerken haben würde – sie sind beide taub. Nicht etwa erst in spätern Lebensjahren taub geworden, nein, sie sind’s von Geburt an. Nie ist ein Wort, ein Ton in ihre Ohren eingedrungen. – Lautlos bewegt sich Alles um sie her. – Seltsames Stillleben!

Ich war früher nie mit Taubstummen zusammengekommen, und meine Ansichten über solche Menschen waren höchst verworren. Ich hielt sie für jähzornig, mißtrauisch, jeder höhern Regung unzugänglich. Jetzt war mir Gelegenheit gegeben, diese Unglücklichen genau beobachten zu können. Ich mußte meine stillen Nachbarsleute näher kennen lernen. – Der Mann arbeitete als Tischler in einer großen Werkstatt und besorgte nebenbei auf eigne Hand in sein Fach einschlagende [600] schlagende Reparaturen; die Frau nähte für die Leute. Meine Jungen hatten mir einige Möbel etwas stark schadhaft gemacht, der taubstumme Tischler sollte dieselben ausbessern.

Eines Sonntags, als Beide daheim waren, ging ich hinüber. Ich pochte an. Lieber Gott, sie hören’s ja nicht! Unangemeldet und deshalb verlegen und leise trat ich ein. Die Frau nähte am Fenster, der Mann las in einem Buche. Sie hatten mein Kommen nicht bemerkt. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte, beinahe wäre ich wieder fortgegangen. Es war so eigenthümlich still im Stübchen; aber nett und traulich war Alles eingerichtet. Blumen blühten auf dem Fensterbrett; einfach lackirte Möbel standen im Zimmer, einige hübsche Zeichnungen schmückten die Wände. Ich trat einen Schritt vor – da bemerkte mich der Mann. Er stand auf und grüßte mich mit einem sehr deutlich gesprochenen „guten Morgen!“ Erschrocken trat ich zurück, als ich ihn reden hörte. Ist er nicht taubstumm? Ober bin ich in die unrechte Thür gekommen. Jetzt kam auch die Frau herzu. Ich entschuldigte mich und brachte mein Anliegen vor. Beide sahen mir dabei aufmerksam auf Mund und Augen, und der Mann bat mich, etwas langsamer zu sprechen. Ich folgte der Weisung und bemerkte mit Erstaunen, daß ich vollkommen verstanden wurde. Mit bewundernswürdiger Schnelligkeit lasen die Beiden die Worte von meinem Munde ab. Auch ich verstand jedes ihrer Worte. Wohl lag in ihrer Sprache und Ausdrucksweise etwas eigenthümlich Fremdes, etwas Kindliches, und manche seltsame Wortbildung traf mein Ohr. Fast klang es mir, als redete ich mit Ausländern, etwa mit Engländern, die der deutschen Sprache zwar mächtig, doch hier und da sich eigenthümlich ausdrückten und accentuirten.

Ich besah mir die an der Wand hängenden Zeichnungen, und der Mann theilte mir mit, daß dies noch Andenken an seine Schulzeit seien. Den Ehrenplatz unter den einfachen Bildern nahm ein Portrait ein. Er führte mich vor dasselbe und mit leuchtenden Augen erzählte er mir, dies sei das Bild seines geliebten Pflegevaters und Lehrers, des verstorbenen Magister Reich. Mit rührender Liebe gedachten Beide des edeln Mannes und des Institutes, das sie gebildet hatte und noch jetzt ihr geistiger Mittelpunkt zu sein schien.

Schließlich verehrte mir der Tischler noch einige Schulprogramme, Genaueres über das Leipziger Taubstummen-Institut enthaltend, und lud mich ein, mit ihm heute Nachmittag die Anstalt selbst zu besuchen. Die Sache interessirte mich, und gern versprach ich mitzukommen.

Oftmals war ich an jener Anstalt vorbeigegangen, war auch wohl ein Weilchen stehen geblieben und hatte durch’s Gitterthor zugesehen, wie die Kinder im Garten herumspielten. Aber die Sache hatte für mich kein bleibenderes Interesse; ich vergaß es bald wieder, weil ich keine Ahnung davon hatte, was darin getrieben würde. Ich hielt das Ganze wesentlich für eine Versorgungs- und Verpflegungsanstalt, bedauerte im Vorbeigehen die armen Kinder und pries die Humanität, die solche Anstalten gegründet, in denen diese Unglücklichen doch wenigstens mechanisch zu etwas Nützlichem ausgebildet würden. Schon das Lesen der Schulprogramme brachte mir jetzt andere Ansichten bei und spannte mein Interesse auf’s Höchste. Schade, daß diese Programme nicht im Buchhandel erscheinen, sondern nur privatim vertheilt werden; sie würden manches Vorurtheil zerstören und der Anstalt manchen neuen Freund gewinnen.

Zur bestimmten Stunde holte mich mein Führer ab. Das Leipziger Taubstummen-Institut liegt in der Nähe des bairischen Bahnhofs am Eingange in das Johannisthal, jene freundliche Gartenstadt, in welcher der Leipziger ein den ganzen Sommer hindurch währendes Laubhüttenfest feiert. Im Garten, ganz isolirt dastehend, erhebt sich das Gebäude, umgeben von hübschen Anlagen, die zum Tummelplatz der Kinder dienen. Bei unserm Eintritte in den Garten waren eben sämmtliche Zöglinge, Knaben wie Mädchen, auf ihren Spielplätzen. Welch lustiger und doch tief ergreifender Anblick! Einige spielten mit dem Ball, andere haschten sich um ein Rasenrondell herum. Stille Leute, wie ich in meiner Ueberschrift sagte, waren’s eben nicht; sie lachten und sprangen, gerade wie vollsinnige Kinder desselben Alters.

Es mochten gegen 100 Kinder sein, Knaben und Mädchen, groß und klein – und alle taub – mir trat’s Wasser in die Augen; ich dachte an meine Kleinen daheim. Wie freut’s mich, wenn sie mich mit frischer, heller Stimme begrüßen und mir dies und jenes vorschwatzen! Ihr armen Eltern dieser unglücklichen Kinder, wie mögt auch Ihr Euch auf die Zeit gefreut haben, da Euer Kind Euch mit dem süßen Vater- und Mutternamen rufen würde! und die Altersgenossen Eures Kindes sprachen längst, aber dem Euern blieb die Zunge gebunden. Immer noch hofftet Ihr. Du arme Mutter, welch ungeheurer Schmerz durchzuckte Deine Brust, als sich Dir endlich die furchtbare Gewißheit aufdrängte: Dein Kind ist taub!

Mein Eintreten in den Garten störte die Kinder einigermaßen im Spiele. Die Meisten begrüßten mich mit einem freundlich gesprochenen „guten Tag!“ – Mein Begleiter stellte mich dem aufsichtführenden Lehrer vor, und dieser hatte die Güte, mich mit der Anstalt und ihrem Wirken so genau als möglich bekannt zu machen.

Unmittelbar vor dem Gebäude steht auf einem frischgrünen Rasenplatze ein einfacher Denkstein, einer edlen Leipziger Dame, der Frau Dr. Carl gewidmet, welche dieser segensreichen Anstalt ein Capital von mehr als 20,000 Thlr. geschenkt hat. Das Institut ist eine sogenannte pia causa. Es hat sich nämlich durch die Wohlthätigkeit edler Menschen nach und nach ein Fond gebildet, dessen Zinsen für die Anstaltszwecke verwendet werden; das Fehlende giebt der Staat. Diesen fortwährend im Wachsen begriffenen Fond, der natürlich, je größer er wird, auch desto mehr zum Gedeihen der Anstalt beiträgt, verdankt das Institut wesentlich dem Edelsinne von Leipzigs Einwohnern, die oft noch in der letzten Stunde der armen Taubstummen gedenken. Aus andern sächsischen Orten wird verhältnißmäßig sehr wenig dazu gethan, obgleich die Anstalt ihre Pforten allen sächsischen Taubstummen, besonders denen des Leipziger und Zwickauer Kreisdirectionsbezirks – die aus den übrigen Theilen des Landes werden gewöhnlich in das Dresdner Institut gebracht – öffnet.

Wir traten in das Innere des Hauses, in die großen Aufenthaltszimmer der Knaben. Dort befinden sich die Büsten zweier Männer, deren Namen alle Taubstummen segnend nennen. Es sind dies – Samuel Heinike, der Begründer der deutschen Taubstummenerziehung und Stifter des Leipziger Instituts, und sein Nachfolger, Director Carl Reich, der Ausbauer dieses segensreichen Werkes.

Die Leipziger Anstalt ist die älteste ihrer Art in Deutschland. Sie wurde von Samuel Heinike begründet. Dieser Mann, auch auf andern Gebieten der Pädagogik ausgezeichnet – er war einer der Ersten, die dem Schulschlendrian jener Zeit energisch entgegentraten – wurde 1729 in dem Dorfe Nautschütz bei Weißenfels an der Saale geboren. Von seinen Eltern zum Landmann bestimmt, trat er, um dem zu entgehen, in Dresden in Militärdienste. Mit Aufopferung jeder freien Minute und Entbehrungen aller Art arbeitete er sich geistig so empor, daß er, obwohl schon verheirathet, sich in Jena Universitätsbildung aneignen konnte. Zufällig war ihm schon in Dresden ein taubstummer Knabe zugeführt und von ihm mit glücklichem Erfolg unterrichtet worden. In seiner spätern Stellung, als Cantor im hamburgischen Klosterdorfe Eppendorf wurde ihm abermals ein tauber Müllerssohn übergeben. Das günstige Resultat, das er auch hier errang, das ihm sogar, als einem, der Gott meistern wolle, die Verfolgung zelotischer Geistlicher zuzog, bewog ihn, mehr und mehr seine Kraft diesen Unglücklichen zuzuwenden. Nachdem er das Anerbieten des Grafen Schimmelmann, in Wandsbeck ein größeres Institut zu errichten, aus ehrenwerthen Gründen abgeschlagen, folgte er dem Rufe des Kurfürsten, nachmaligen Königs Friedrich August von Sachsen und begründete im Jahre 1778 zu Leipzig die erste Taubstummenbildungsanstalt in Deutschland.

Mit ihm zu gleicher Zeit beschäftigte sich in Paris der Abbé de l’Epée mit der Taubstummenerziehung. Aber beide Männer stehen in ihrem Wirken ganz selbständig da, sie hörten erst von einander, nachdem die Zeitungen von ihren Erfolgen berichtet hatten. Und dann standen sie sich als Gegner gegenüber. Der Abbé meinte, die Pantomime (Gebehrdensprache) und das geschriebene Wort seien ausreichend zur Bildung der Taubstummen, während unser Heinike wesentliches Gewicht auf das gesprochene Wort legte. Er lehrte seine Zöglinge sich schriftlich und mündlich ausdrücken und füllte so möglichst den Unterschied zwischen Hörenden und Tauben aus. Erst die Neuzeit ist Heinike gerecht geworden. Jetzt wird fast in allen Taubstummenanstalten Deutschlands das Sprechen geübt und gepflegt. Heinike’s Nachfolger im Leipziger [601] Institute war der um den Ausbau der Methode so hochverdiente Magister Reich.

Im Jahre 1840 wurde das jetzige Gebäude errichtet, das, obwohl später um ein Stockwerk erhöht, für die gegenwärtige Anzahl der Zöglinge kaum hinreichenden Raum gewährt. Besonders fehlt ein großer Saal für die Andachten und Schulfeierlichkeiten. Vielleicht erstarkt der Fond des Instituts recht bald in einer Weise, daß diesem Mangel durch Bauen neuer Localitäten abgeholfen werden kann.

Beim Herumgehen im Anstaltsgebäude waren wir auch in ein Stübchen gekommen, das von meinem Begleiter die Modellkammer genannt wurde. Sie enthält die besten Arbeiten der Zöglinge. Es ist eine Hauptaufgabe der Anstalt, ihre Pfleglinge, besonders die weiblichen Geschlechts, erwerbsfähig zu machen. So ist für die Knaben, um sie zur Handarbeit geschickt zu machen, eine Tischlerei eingerichtet, und ein Tischlermeister – der jetzige ist selber taub – giebt ihnen wöchentlich zweimal Anweisung zu Holzarbeiten. Hier in der sogenannten Modellkammer sind die besten Holzarbeiten aufgestellt. Allerliebste Sachen! – So nett und sauber ausgeführt! – Auf großen Regalen stehen da Geräthe aller Art, sogar Thier- und Menschenfiguren. In einem besonderen Schranke sind die Papparbeiten aufbewahrt; ein Buchbinder kann’s nicht reinlicher und feiner machen.

Am meisten erregten die Näh- und Stickarbeiten meine Verwunderung. Die taubstummen Mädchen erlangen hierin im Institute eine solche Geschicklichkeit, daß sich die Meisten sofort nach der Entlastung aus der Anstalt dadurch selbstständig erhalten können. Die Knaben kommen nach der Entlassung zu irgend einem Meister – viele werden Tischler – der von der Regierung für diese Mühe 50 Thaler Lehrgeld erhält. Uebrigens haben, wie mir mein gefälliger Führer sagte, die Taubstummen schon als Gesellen das Recht, auf eigene Rechnung zu arbeiten.

Die meisten Taubstummen bleiben natürlich unverheiratet; doch ehelichen sie sich oft sogar unter einander, ohne daß aus solchen Ehen, wie man fast befürchten könnte, taube Kinder hervorgehen. In Leipzig leben mehrere solche Ehepaare recht glücklich, und die Kinder sind kerngesund; freilich ist die Kindererziehung mit großen Schwierigkeiten verbunden. So wurde mir erzählt, daß eine taubstumme Mutter, um zu erfahren, ob ihr Kind in der Nacht schlafe oder schrie – hören kann sie’s ja nicht – leise das Gesicht des Kindes betaste und so das Gehör gewissermaßen in den Fingerspitzen habe. Frühzeitig führt auch der Instinct die Kinder solcher Eltern zum Gebrauch der Pantomime.

Wir waren wieder im Wohnzimmer der Knaben angelangt. Einige größere Knaben schrieben, wie ich bei näherer Besichtigung fand, an selbstgearbeiteten Aufsätzen. Ich las sie durch – die Oberclasse einer mittleren Bürgerschule hätte sich solcher schriftlichen Ausarbeitungen nicht zu schämen brauchen.

„Aber wie ist es möglich, daß diese Gehörlosen zu solcher Sprachfertigkeit kommen können?“

„Diese Frage,“ erwiderte mein Begleiter, „würde sich leichter beantworten lassen, wenn Sie uns gefälligst während der Schulzeit besuchen wollten.“

Am andern Morgen, mit dem Beginn der Schule war ich wieder im Institute. Eigentlich ist, wie ich später erfuhr, die Anstalt nur Mittwochs und Sonnabends von 11 bis 12 Uhr dem Fremdenbesuche zugänglich; indeß dem, der sich tiefer mit ihrer Aufgabe beschäftigen will, öffnet sie ihre Thore gern zu jeder beliebigen Zeit. Die Zahl der taubstummen Schüler beträgt gegen hundert, welche in zehn Classen unterrichtet werden, so daß also auf einen Lehrer durchschnittlich zehn Schüler kommen, und damit hat er vollkommen zu arbeiten. Befremdend war es mir, daß sich fast immer zwei Classen in einer Stube befanden – wie mir erzählt wurde, unterrichten in manchen andern Instituten, und früher ist es hier auch so gewesen, sämmtliche Lehrer zu gleicher Zeit in einem großen Saale, ohne daß dadurch Lehrer und Schüler gestört werden. Jede Classe verfolgt ihr Ziel für sich. Sieht der Lehrer einmal die Augen seiner Zöglinge auf sich gerichtet, so ist er auch ihrer Aufmerksamkeit gewiß; denn alles Geräusch, alle andern Störungen gleiten spurlos an ihrem Ohr vorbei. Um unachtsame Schüler aufmerksam zu machen, pochen die Lehrer auf den Tisch, nicht etwa damit es der Schüler hört, er fühlt die Erschütterung und wendet schnell sein Auge dem Lehrer zu. Im eigentlichsten Sinne des Worts sah ich hier anschaulich unterrichten und glaube, daß die Elementarschule gar Manches in dieser Beziehung von der Taubstummenschule lernen könnte.

In den unteren Classen ist die Pantomime – Gebehrdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schüler. Schon im Elternhause braucht der kleine Taubstumme für die Dinge seiner Umgebung bestimmte Zeichen. Die Pantomime ist seine Muttersprache. Kommt er nun in das Institut, so eignet er sich schnell die dort gebräuchlichen, den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Man könnte die Pantomime recht eigentlich die Weltsprache nennen, durch die sich Jeder Jedem verständlich machen kann. Kommt ein Wanderbursch in ein fremdes Land, zuerst hilft er sich durch Zeichen. Und welches andere Mittel haben Seefahrer, wenn sie zu unbekannten Nationen kommen?

Jetzt zurück zu unsern Taubstummen. Mit Hülfe dieser Pantomimen bringt der Lehrer, welcher sie natürlich so gut wie seine Schüler verstehen muß, in das Seelenleben der Kleinen ein. Der Zögling sieht aber, daß seine ältern Schicksalsgenossen neben der Pantomime auch sprechen und schreiben können; er versucht es auch, und nun beginnt der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Das ist freilich eine höchst schwierige Aufgabe. Jeder Laut erfordert eine besondere Mundstellung. Der Lehrer zeigt nun dem Kleinen mit Hülfe des Spiegels genau die Sprachwerkzeuge, bewegt sie und fordert den Schüler auf, diese bis jetzt nur zum Essen gebrauchten Theile in gleicher Weise zu bewegen, damit er einige Herrschaft über sie bekomme.

Jetzt stellt der Lehrer den kleinen Taubstummen vor sich, giebt ihm die Mundstellung zum a, legt die eine Hand des Kindes auf seine Brust, die andere an seinen Kehlkopf und spricht nun mit voller, starker Stimme a. Der Schüler fühlt die Bewegung der Brust, das Zittern des Kehlkopfes, das Ausströmen des Luftstromes; er versucht’s nachzuahmen, und endlich gelingt es ihm, ein mehr oder weniger reines a herauszubringen.

So ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan. O, u sind leichter für den Schüler. Die Zungenlage ist wie beim a, nur die Mundöffnung wird kleiner. Schwieriger sind e, i. Die Consonanten kommen an die Reihe; welche Schwierigkeiten sind da noch zu überwinden! Bei jüngern Taubstummen gelingt es in der Regel eine reinere Articulation zu bilden als bei schon älteren; da sind die Sprachwerkzeuge gewissermaßen noch nicht eingerostet, sie sind biegsamer, als bei jenen. Auch darf der Lehrer seine Schüler mit diesen Uebungen nicht zu sehr anstrengen, weil sonst leicht die Lunge, die bei allen Taubstummen mehr oder weniger abnorm ist, zu sehr angegriffen werden könnte. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen.

Trotz aller Mühe, die es bisher gekostet, erkennt aber die Anstalt in der Articulation, in den Anfängen des Lesens und Schreibens nichts weiter als das Mechanische in der Grundlegung der Sprache. Allmählich gelangt der Schüler zu einfachen Worten – Rad, Schaf – als Zeichen ihm bewußter Gegenstände. Es ist nun ein Mittel genommen, sein Gedächtniß anzubauen. Er wird geübt, für jeden in der Wirklichkeit, im Bilde oder in der Pantomime gezeigten Gegenstand das Wort zu geben. Was er scharf und richtig articulirt hat, das schreibt er dann auch richtig, und daher kommt es, daß die Orthographie der Taubstummen fast immer ganz fehlerfrei ist.

Jetzt werden dem Schüler die einfachsten Eigenschaften gegeben, und er spricht schon im kleinen Satze – das Rad ist rund. Weiter lernt er das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken – der Baum ist in dem Garten. Er lernt die gewöhnlichsten Bindewörter – und, oder etc. anwenden. Die gebräuchlichsten Zeitwörter werden ihm gegeben, und so wächst seine Sprache gleich einem Baume größer und immer größer. Conversation und Grammatik werden auf das Zweckmäßigste verbunden, um die Schüler in die deutsche, die schwierigste aller Sprachen, einzuführen.

Und die Erfolge sind staunenerregend. Nicht genug, daß ich mich mit den Schülern der obern Classen mündlich über die verschiedensten Gegenstände unterhalten habe, ich ließ sie auch kleine Aufsätze fertigen, deren Ausführung mich in Verwunderung setzte.

Man irrt ungeheuer, wenn man meint, die Taubstummen lernen nur mechanisch lesen und schreiben. Das ist das Wenigste; ich habe in manchen Volksschulen solche correcte Aufsätze nicht gefunden. – Wesentlich ist der Taubstummenunterricht Sprachunterricht, [602] dabei werden aber die Realien, das Rechnen und Zeichnen keineswegs vergessen. Auf letzteren wird namentlich Gewicht gelegt. In den obern Classen tritt auch als Gipfelpunkt der Religionsunterricht hinzu. Die Pantomime, die in der Unterclasse vorwiegend war, in den Mittelclassen mit dem gesprochenen Worte gleichbedeutend dasteht, tritt in der Oberclasse nur als Begleiterin des Worts, als Geste auf. So wird auch der Religionsunterricht „sprechend mit pantomimischem Ausdruck“ gegeben. „In der Schrift allein ist und läßt er, bei aller Erklärung, kalt, wie die Januarsonne. In der Pantomime allein, die der Lehrer ohnedies nie mit dem geschriebenen Wort in gleichem Moment geben kann, läuft der Unterricht Gefahr, das Erhabene und Geistige in das Gemeine und Sinnliche herabzuziehen.“

Das Leipziger Institut hat einige seiner befähigtsten Schüler zu Lehrern herangebildet, in denen die Taubstummenbildung gewissermaßen ihren Kulminationspunkt erreicht hat, und diese Männer wirken mit reichem Erfolge unter ihren Schicksalsgenossen.

Es war 12 Uhr. Die Schule wurde geschlossen, und mit Hochachtung schied ich von einer Anstalt, die ihre Aufgabe in so tüchtiger Weise löst.