Aus der Welt des Schweigens

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Autor: Ernst Stötzner
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Titel: Aus der Welt des Schweigens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 40–42
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Schluß
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Aus der Welt des Schweigens.

Das „Cornhill Magazine“, eines der gelesensten englischen Blätter, brachte vor einiger Zeit unter obigem Titel einen interessanten Aufsatz.

In einer entlegenen Gegend Londons, – heißt es darin – fern von den Clubs, Parks und der Pracht Rotten Row’s, befindet sich ein Platz, wo viele gute Werke eine Zuflucht gefunden haben. Die Miethe ist dort billig und der Platz groß, still und frei, selbst an Bäumen fehlt’s dort nicht, obgleich wir, um dorthin zu gelangen, fast eine Stunde lang durch schmutzige, armselige Straßen fahren mußten. Wir hielten endlich vor einem Hause, dessen Schild – Taubstummenanstalt – uns schon verkündete, wer seine Bewohner seien; wir verließen den Wagen und zogen die Glocke. Als wir in den geräumigen altmodischen Corridor traten, guckte uns ein kleines Mädchen aus halboffener Thür gar neugierig an. Dies war, wie wir nachträglich erfuhren, eine kleine Patientin der Anstalt; sie hatte ihren Finger verletzt und ihr war die Erlaubniß gewährt worden, anstatt mit den anderen Kindern im obern Stockwerk am Unterricht Theil zu nehmen, unten bei der Wärterin zu bleiben.

Als wir in’s obere Stockwerk gelangt waren, wurden wir in ein Hinterzimmer geführt, durch dessen Flügelthür wir in’s Schulzimmer traten, wo gerade die Kinder unterrichtet wurden. Bei unserm Eintreten kam uns der junge Lehrer entgegen und bewillkommnete uns auf die freundlichste Weise. Die Kinder alle, Knaben und Mädchen, guckten mit fröhlichen Gesichtcher von ihren Bänken verstohlen zu uns herüber und lachten uns gar freundlich an. Im Zimmer befand sich der gewöhnliche Schulapparat – das Stückchen Kreide, die große Tafel für den Lehrer, die kleineren für die Schüler, die hölzernen Tische und Bänke, so wie die Bilder an den Wänden. Was mich besonders rührte, war, daß in den entfernteren Winkeln und selbst in des Lehrers Nähe die gewöhnlichen kleinen Possen und Schelmereien getrieben wurden. Der Lehrer schien es für seine Pflicht zu halten, dergleichen eher zu befördern als zu unterdrücken, und ich glaube, daß eben in dem Vertrauen der Kinder auf seine Güte und Theilnahme eine Hauptbedingung ihrer Erziehung und Heilung liegt. Er klopfte in die Hände, alsbald versammelte sich eine kleine Schaar um die große Tafel – ein großes und ein kleines Mädchen und zwei kleine Knaben. „Achtung!“ sagte der Lehrer und begann verschiedene Gegenstände, wie z. B. Fisch, Brod, Gemse u. a. m. zu nennen. Die Kinder lasen diese Worte aus der Bewegung seiner Lippen. Bei jedem seiner Worte leuchteten ihre Augen auf, sie deuteten es, eilten zu den an der Wand hängenden Bildern, suchten den von ihm genannten Gegenstand auf und brachten ihn in vollem Triumph herbei. Aber Zeichen werden in jener Anstalt nicht geduldet, und das Ziel, nach dem gestrebt wird, ist das, die Kinder zum Sprechen zu bringen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß dies Asyl so zu sagen noch im Entstehen ist und die Zöglinge noch zu den Anfängern gerechnet werden müssen. Ein noch ganz kleines Kind, welches erst vor Kurzem der Anstalt übergeben worden war, hatte an dem Tage zum ersten Male seine Stimme hören lassen, und nun rief das kleine Wesen immerfort: „ah, ah, ah!“ Es war über diese neu erlangte Fähigkeit so entzückt, daß nichts es dazu bewegen konnte von dem Ausrufen seines fast klagend klingenden „Ah!“ abzulassen. Dieser Ton glich dem Blöken eines kleinen Lämmchens, denn da sie taub war, hatte sie natürlicher Weise noch nicht gelernt ihre Stimme ein wenig zu moduliren; ein größeres Mädchen mußte sie in eine entlegene Ecke bringen, dort mit ihr spielen und versuchen sie stille zu erhalten.

„Es ist etwas Herrliches für die Kinder,“ sagte der Lehrer, „wenn sie zu fühlen beginnen, daß sie durch ihre Taubheit nicht durchaus und für immer von dem Verkehr mit andern Menschen abgeschnitten sind; außerdem wird durch die Entwickelung der Sprechorgane ihre Lunge gekräftigt und ihre Gesundheit gebessert. Sogar in dem Ausdruck ihrer Gesichter läßt sich eine Aenderung wahrnehmen, sie gefallen sich darin ihr neu erworbenes Talent zu üben und reden selbst nicht mehr mit einander durch die Fingersprache.“ (?) In demselben Augenblick, als der Lehrer diese Worte an uns richtete, ertönten, gleichsam zur Bekräftigung dessen, was er sagte, eine Menge fröhlicher Ah’s aus der Ecke, wohin das kleine Mädchen mit seinen Spielsachen transportirt worden war, und alle andern Kinder lachten.

Ein kleiner Bursche mit reizend ausdrucksvollem Gesicht und herrlichen braunen Augen trat vor, er rechnete, las uns vor und zeigte uns sein Schreibheft. Der Klang seiner Stimme war etwas melancholisch, aber durchaus melodisch, und zu meinem Erstaunen redete er mich bei meinem Namen an, einem langen Namen mit vielen Buchstaben. Der Lehrer hatte ihm denselben mit den Lippen gesagt, denn er brauchte natürlich nicht laut zu sprechen, da sein Bewegen [041] der Lippen genügte, sich den Kindern verständlich zu machen. Der Name meines Begleiters, der, obgleich kurz, aus vier schweren Consonanten besteht, die mittels nur eines Vocals verbunden werden, machte den Kindern mehr Mühe als der meinige; dennoch gelang es nach einiger Anstrengung dem kleinen Knaben denselben richtig auszusprechen, und ein Strahl der Freude überflog sein Gesichtchen und auch das Antlitz des Lehrers. Ferner giebt der Lehrer sich die größte Mühe, den Kindern die richtige Betonung der Sylben zu lehren. Er hält ihre Hände und accentuirt die einzelnen Wörter dadurch, daß er erstere aufhebt und wieder fallen läßt; er fühlt ihre Gurgel und läßt sie wiederum die seinige beim Sprechen befühlen. Gewiß würde es hart sein, wenn so viel Geduld und Treue nicht in den gewünschten Erfolgen ihren Lohn fänden. –

So weit dasCornhill-Magazine“. Da aber das englische Blatt diese kleinen Erfolge noch außerdem als etwas ganz Außerordentliches hinstellt und voller Bewunderung ausruft: „Stumme reden in England“; da es die kleine israelitische Anstalt „eine Art englischer Ausführung eines großen internationalen Unternehmens“ nennt, so gilt es doch den Engländern und theilweise auch den Franzosen nachdrücklich zu zeigen, daß sie in dieser Beziehung hinter den Deutschen um volle hundert Jahre zurückgeblieben sind, und deshalb will ich hier die Resultate deutscher Taubstummenbildung in Kürze vorführen, nachdem ich bereits vor Jahren in der Gartenlaube eine der größern Taubstummenanstalten, die zu Leipzig, ausführlich geschildert habe.

Vor einigen Jahren erzählten die Zeitungen von einem Festmahle, das französische Taubstumme zu Ehren des Abbé de l’Epée, des Begründers des französischen Taubstummenunterrichts, veranstaltet hatten. Dabei waren pantomimische Toaste ausgebracht worden, die von den Taubstummen enthusiastisch aufgenommen, selbstverständlich aber von den anwesenden hörenden Gästen nicht verstanden wurden. Man gehe nun in ein deutsches Institut, wo vielleicht eben das Stiftungsfest der Anstalt gefeiert wird und die Zöglinge mit den Lehrern und Freunden der Schule an der Festtafel sitzen. Jetzt erhebt sich einer der älteren Zöglinge, um einen Toast auszubringen. Er klopft nicht mit dem Messer an das Glas, denn das würde die Aufmerksamkeit seiner Schicksalsgenossen nicht erregen, da sie taub sind, er pocht mit der Hand auf die Tafel und, von der Erschütterung berührt, wenden sich Aller Augen ihm zu. Nun spricht er zu seinen Mitschülern mit lauter, wenn auch etwas monoton klingender Stimme, sie lesen die Worte von seinem Munde ab und antworten mit einem jubelnden Vivat. Da kann man wohl für einen Augenblick vergessen, daß man sich im Taubstummeninstitut befindet. Die Taubstummen sind entstummt, und wir verstehen sie. Freilich noch effectvoller nimmt sich ein pantomimischer Toast für den Hörenden aus; die ungewöhnlichen Bewegungen mit den Händen, das lebendige Mienenspiel imponiren oft mehr als das einfache Wort und darum bewundert Mancher das Ungewöhnliche, obschon er kein Verständniß dafür hat. Wohl unterhalten sich auch deutsche Taubstumme, namentlich die weniger Gebildeten, untereinander in der Geberdensprache, aber mit den Hörenden verkehren sie in mündlicher Rede.

Im Durchschnitt erreichen die Schüler in unsern Taubstummenanstalten nach sechs- bis siebenjährigem Schulbesuch in Kenntnissen und Fertigkeiten das Ziel einer gewöhnlichen Volksschule. Sind sie auch hie und da in den Realien etwas zurück, so stehen sie dagegen in den Fertigkeiten (Schönschreiben, Zeichnen etc.) gewöhnlich auf höherer Stufe. Alle Zöglinge in deutschen Taubstummenschulen lernen sprechen, und manche sprechen so rein und deutlich, daß sie von jedem Hörenden verstanden werden. Großes haben aber einzelne Taubstumme dadurch erreicht, daß sie auch nach der Schulzeit unablässig an ihrer Weiterbildung gearbeitet haben. Jede Anstalt wird hierzu Belege bieten können. Hier seien nur zwei Männer genannt, die auch in weiten Kreisen sich Anerkennung erworben haben – die beiden Taubstummenlehrer O. F. Kruse in Schleswig und C. M. Teuscher in Leipzig. Beide Männer, von Kindheit an taub, haben sich zu einer geistigen Höhe emporgearbeitet, die sie befähigt hat, selbst als Lehrer ihrer Schicksalsgenossen auftreten zu können. Kruse hat sogar als Schriftsteller bei seinen Fachgenossen sich einen rühmlichen Namen zu erwerben gewußt.

Carl Teuscher war als Lehrer in mancher Beziehung fast unerreichbar. Er las so schnell vom Munde ab und seine Sprache war so rein und verständlich, daß Viele längere Zeit mit ihm verkehrten, ohne zu merken, daß er von Kindheit an taub gewesen. Dabei besaß er ein technisches Geschick, das fast an’s Unglaubliche grenzte. Fast vom Zusehen lernte er tischlern, pappen, flechten, und im Zeichnen, Turnen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Reiten, Billardspielen war er Meister, wie Alle bezeugen werden, die ihn näher gekannt haben, und er war in Leipzig eine bekannte Persönlichkeit. Auch in schriftstellerischer Beziehung ist er thätig gewesen und hat in dem von Dr. Hirzel herausgegebenen Hauslexikon eine nicht geringe Anzahl Artikel bearbeitet.

Ein Hauptvergnügen in den Taubstummeninstituten bilden kleine theatralische Aufführungen. Da brachte eines Tages Teuscher seinen Schülern ein kleines Lustspiel mit, das er selbst nach einer Erzählung der Gartenlaube – „Die schönste Nase“[1] – bearbeitet hatte. Das zweite Schulfest, der vierte September, rückte heran und an diesem Tage sollte die Aufführung stattfinden. Die Rollen wurden vertheilt und natürlich den besten Sprechern übergeben. In den Freistunden entfaltete sich nun eine geheimnißvolle Thätigkeit, und als der längsterwartete Tag erschien, da erhob sich im Garten eine kleine, recht nett gebaute Bühne, deren Emporwachsen namentlich von den kleineren Zöglingen mit lautem Jubel und vielen Freudensprüngen begrüßt wurde. Die Schulbänke wurden für die Zuschauer herausgeschafft, unter denen sich auch die Lehrer mit ihren Familien und andere Hörende befanden. Jetzt rollte der Vorhang empor und die kleinen Schauspieler lösten ihre Aufgabe vortrefflich. Sie sprachen fast alle so gut, daß sie auch von den anwesenden Fremden, wir führen hier nur den Redacteur der Gartenlaube an, verstanden wurden. Und nicht nur die Leipziger, auch andere deutsche Taubstummenanstalten wissen von ähnlichen Theateraufführungen zu erzählen.

In solchen Erscheinungen gipfelt sich die deutsche Taubstummenbildung. Was wollen dagegen die dürftigen Anfänge in England sagen?

Sehen wir nun, auf welchem Wege wir zu solchen Resultaten gelangen.

Da ist heute eben Aufnahme neuer Schüler im Institute. Mit thränendem Auge bringen die Eltern ihre kleinen Lieblinge, die ihnen ihrer Hülflosigkeit wegen um so mehr an’s Herz gewachsen sind. Aengstlich verkriechen sich die Kleinen hinter Vater und Mutter, denn sie fühlen recht wohl, daß jetzt etwas Ungewöhnliches kommen wird. Und nun ist der unvermeidliche bittere Abschied da, der beiden Theilen oft heiße Thränen auspreßt. Indeß die Kinder beruhigen sich bald; freundliche Gesichter ringsum, fröhliche Spiele und liebevolle Pflege lassen sie bald heimisch in der Anstalt werden, so daß nach und nach auch zu ernsterer Beschäftigung in der Schule geschritten werden kann.

Zunächst ist nur die Pantomime – Geberdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schülern. Die Pantomime ist des kleinen Taubstummen Muttersprache, denn schon im Elternhause hat er für die ihn umgebenden Dinge, sowie für seine kleinen Bedürfnisse bestimmte, seinen Angehörigen verständliche Zeichen gebraucht. Jetzt im Institute eignet er sich bald im Umgange mit anderen Taubstummen die daselbst gebräuchlichen den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Der Lehrer versteht natürlich diese Pantomimen auch, sie erwerben ihm das Vertrauen seines kleinen Schülers und führen ihn in sein Seelenleben ein. Bald beginnt auch der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Auge und Gefühl müssen hier das Gehör ersetzen. Jeder Laut ist nicht nur hörbar, er ist auch sichtbar, denn er erfordert eine besondere Mundstellung. Habe ich a zu sprechen so muß ich den Mund ganz anders stellen, als wenn ich i oder u sprechen will. Darauf beruht der Articulationsunterricht. Eine Art Toilettenspiegel wird nun herbeigeholt und mit Hülfe desselben werden dem Schüler die Sprechwerkzeuge gezeigt, die für ihn bis jetzt nur Eßwerkzeuge gewesen sind. Nun giebt der Lehrer dem kleinen Taubstummen die Mundstellung zum a, und indem er die eine Hand des Kindes an seinen Kehlkopf, die andere auf seine Brust legt, spricht er mit starker volltönender Stimme a. Aufmerksam verfolgt der Schüler die hierbei entstehenden Bewegungen; er fühlt den ausströmenden Luftstrom, das Zittern des Kehlkopfes [042] und das Bewegen der Brust. Er sieht, wie ältere Schüler es ebenso machen und dafür von dem Lehrer gestreichelt werden. Nun versucht er’s auch nachzuahmen, und früher oder später gelingt es ihm ebenfalls ein a herauszubringen, wofür er vom Lehrer billig mit einem Zuckerplätzchen belohnt wird. Mitunter geht die Sache freilich etwas langsamer und erst nach vielem vergeblichen Abmühen von Seiten des Lehrers wie des Schülers gelingt’s, ein reines a zu bilden. Jetzt ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan und es folgen nun o, u, au. Hier bleibt die Zungenlage wie beim a, und nur die Mundöffnung wird kleiner. Nun kommen die Consonanten an die Reihe. b, d, f sind leicht, aber welche Schwierigkeiten sind oftmals bei den Gaumen- und Nasenlauten, beim s und namentlich beim r zu überwinden! Und wieviel Mühe kosten wieder e und i! Geht’s mit dem einen Laute nicht, so nimmt man einen andern; oft gelingt’s hier durch einen Umweg zum Ziele zu gelangen. Das erste Articuliren wird um so schwieriger, als der kleine Taubstumme noch keinen rechten Begriff hat, wozu er das Alles lernen soll; ganz anders wird es aber, wenn er die ersten einfachen Worte sprechen lernt. Jetzt erst wird das rechte Interesse in ihm rege und jedes neue Wort begrüßt er mit Freude. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen, und zwar lernt der Taubstumme zunächst nur die Schreibschrift kennen.

Da der Taubstumme scharf die Bewegungen des Mundes beobachten muß und nur dadurch die Laute von einander unterscheiden kann, so lernt er auch sehr bald die Laute vom Munde ablesen, gerade so, wie wir die Buchstaben von der Wandtafel oder vom Buche ablesen. Es ist dies eine Kunst, die ihm im Verkehr mit hörenden Menschen unentbehrlich ist, denn die Hörenden verstehen wohl, was er spricht, er aber liest ihnen die Worte vom Munde ab, weil er nicht hören kann, was sie sprechen.

Allmählich werden die Schüler weiter in die Sprache eingeführt. Es werden ihnen die einfachsten Begriffs- und Eigenschaftswörter gegeben, die sie sofort zu kleinen Sätzen verwenden. Sie lernen das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken, lernen die gewöhnlichsten Bindewörter, die gebräuchlichsten Zeitwörter kennen und sind dann schon im Stande, kleine Beschreibungen von Gegenständen aller Art zu liefern. Später wird ein Lesebuch zur Hand genommen und wie bei hörenden Kindern wird laut gelesen, das Gelesene wird abgefragt und als Sprech- und Sprachstoff benutzt. Je mehr der Schüler in der Sprache vorwärts dringt, desto mehr tritt die Pantomime in den Hintergrund, bis sie in den Oberclassen fast ganz verschwindet und das gesprochene Wort allein die Grundlage des Unterrichts bildet. Dieser theilt sich nun in verschiedene Zweige, und die Schüler werden in Rechnen, Naturkunde, Heimathskunde, Religion, ganz ähnlich wie in gewöhnlichen Volksschulen, unterrichtet.

Ist nun auch in dem oder jenem deutschen Taubstummeninstitute die Lehrmethode etwas anders, in der Hauptsache fußen sie doch alle auf der Lautsprache, und das ist der große Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Schule, welch’ letztere den Taubstummen nur mit Hülfe der Pantomime und Schrift bilden zu können meint. Mehr und mehr verliert sie aber an Einfluß, und mit Recht hebt der englische Bericht die Verdienste des Director Hirsch in Rotterdam, ehemals Taubstummenlehrers in Köln, um Einführung der deutschen Methode in den Niederlanden hervor. Seinen Bemühungen ist es mit zu danken, daß auch in den belgischen Taubstummenschulen das deutsche Element zur Geltung gekommen ist, und jener junge Lehrer in der kleinen Londoner Anstalt ist von ihm als Pionnier unserer Schule nach England gesandt worden.

Freilich jenseit des Oceans, wo Alles in Siebenmeilenstiefeln vorwärts schreitet, da will man auch – die Zeitungen und Anstaltsberichte erzählen’s wenigstens – in der Taubstummensache uns um etliche Pferdelängen voraus sein. Dort gründet man „Hochschulen für Taubstumme“, wie in Washington, wo ein „Collegium für die höhere Ausbildung der Taubstummen behufs der Ertheilung collegialischer Grade“ besteht. Allerdings ein Doctor oder Professor ist in Deutschland noch aus keiner Taubstummenschule hervorgegangen, aber eben so gewiß ist es, daß es die Amerikaner in dieser Beziehung nicht weiter gebracht haben als wir, und so sinkt bei näherer Betrachtung jene amerikanische Hochschule zu einer ganz gewöhnlichen Fortbildungsschule für Taubstumme herab, wie solche auch in Deutschland mit manchen Instituten verbunden sind.

In Deutschland sind es schon hundert Jahre, seitdem man angefangen Taubstumme sprechen zu lehren, und jetzt erst folgen hierin England und Frankreich nach. Mit Stolz schreibt das englische Journal in Bezug auf die kleine, erst seit kurzer Zeit bestehende israelitische Anstalt: „Stumme reden in England!“ – während in Deutschland gegenwärtig in allen Taubstummenschulen – es giebt deren circa achtzig – die Lautsprache einen Hauptbestandtheil des Unterrichts bildet. Jetzt erst finden in dieser Angelegenheit deutsche Ideen im Auslande Eingang, und die deutsche Lehrweise bricht sich Bahn – freilich gedenkt man dabei nicht ihres Begründers, aber das ist den Ausländern nicht zu hoch anzurechnen, da man ja diesen Mann im eignen Vaterlande fast vergessen hat.

Wie sehr ehrt man in Frankreich den Abbé de l’Epée! Man hat ihm in Versailles, seinem Geburtsorte, ein prächtiges Monument errichtet, und in Prosa und Poesie verherrlicht man ihn als einen der größten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts. Fern sei es, ihm den wohlverdienten Ruhm schmälern zu wollen; aber er hat doch die Stummen in ihrer Stummheit gelassen, er gab ihnen nur die Pantomime und die Schrift, nicht aber das gesprochene, das lebendige Wort. Das hat ihnen ein Deutscher gegeben und damit die gewaltige Kluft überbrückt, welche die Taubstummen von den Hörenden trennt. Wer aber nennt bei uns seinen Namen? In Frankreich wissen Millionen von dem edeln Abbé de l’Epée zu erzählen, in Deutschland wird Samuel Heinicke nur von einigen hundert Taubstummenlehrern gekannt. –

Und gerade jetzt, zu Anfange 1869, sind es hundert Jahre, daß Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg die Hand an’s große Werk legte und sich dauernd mit der Erziehung und Bildung taubstummer Kinder befaßte. –

Daß aber das deutsche Volk jenes Mannes nicht vergesse, der vor hundert Jahren die Stummen reden lehrte, dafür wird die Gartenlaube sorgen und in einer der nächsten Nummern von Samuel Heinicke erzählen. Der Mann ist werth, daß ihn sein Volk recht genau kennen lernt, um ihn ganz nach seinem Verdienst zu ehren. –

E. Stötzner.     



  1. Gartenlaube 1859, S. 281.