Aus der Wandermappe der Gartenlaube/1

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Titel: Auf dem Zillerthaler Eismeere
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, 25, S. 267–271; 388–391
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Aus der Wandermappe der Gartenlaube.[1]

Nr. 1. Auf dem Zillerthaler Eismeere.
I.

Wenn ich so die Berge sehe,
Wie sie kühn und frei sich heben,
Zu der dunkelblauen Höhe
Stolz und sturmverachtend streben,

Möcht’ ich oft die Wolken fragen,
Die ihr eisig Haupt umspielen,
Was die Thäler unten sagen,
Ob sie auch so frei sich fühlen.


Dort, wo im Süden Innsbruck’s der Sillfluß einen tiefen Einschnitt in die gewaltige Schiefermasse des mittleren Tirols bildet, erhebt sich im Osten, aus breiter Basis aufsteigend, die mächtige, in sich abgeschlossene eisgekrönte Zillerthaler Gebirgsgruppe, eine herrliche ungeahnte Welt mitten zwischen reichbevölkerten und bebauten Culturlanden. Ueppige weiche Formen, in Wiese, Wald und Ackerland wechselnd, umrahmen das schimmernde Bild, und mächtige Felskämme und Grate in wunderbaren Verzweigungen vermitteln den Uebergang von einem zum andern. Ein eigenthümlicher Duft und unnennbarer Reiz ist über dieses Eldorado der tirolischen Hochgebirgswelt ausgegossen, und wem es einmal gegönnt ist, von der Höhe aus einen Blick zu thun hinunter in das friedliche Thal des Zillers mit seinen Wiesen, Wäldern, Auen und Feldern, seinen schmucken Dörfern, Häusern und Kirchlein, und dann hinauf zu den schimmernden Gehängen und blinkenden Eisspitzen, die in ewig gleicher Reinheit und Größe ihr stolzes Haupt in die blauen Lüfte erheben, dem schwillt das Herz vor unendlicher Wonne; ein neuer Geist, ein neues Gefühl, ein Gefühl der unendlichen Erhabenheit und Majestät durchströmt sein inneres und fesselt ihn mit Zaubermacht an jene luftigen Höhen. Möge der Leser mich jetzt auf einem Gange in diese majestätische Hochgebirgswelt freundlich begleiten!

An einem schönen Septembernachmittage verließ ich das freundliche Dorf Zell im Zillerthale, gelangte schnell nach Mayrhofen im Oberzillerthal, dem prachtvollen Stationsplatze für alle Touren in das benachbarte Hochgebirge, und wandte mich sogleich südwestwärts dem Dornauberge zu, um noch Abends nach Ginzling zu gelangen. Der Dornauberg, vom Zemmbache durchströmt, ist ein tiefer, von den Wänden des Tristenspitzes und Grünberges gebildeter Felseneinschnitt, dessen wildromantische, großartige Scenerie den Wanderer mächtig überrascht. Vielleicht nirgends findet sich ein ähnlicher Tummelplatz heroischer Kräfte, ein solches Durcheinander wild zerrissener Felsen und Wuhrsteine, die im Donner der Lawinen beben, vielleicht nirgends hat die Natur mit größerem Aufwande von reizenden gigantischen Mitteln gezeichnet, als hier. Etwa dreiviertel Stunde hinter Hochstegen, einer kleinen, aber kühn gespannten Brücke über den Zemmbach, beginnt die eigentliche Schlucht, die ein und eine viertel Stunde lang bis über den Carlsteg hinaus sich erstreckt. Gewaltige senkrecht abfallende Felswände mit spärlichen Waldansätzen dämmen den wüthend schäumenden Bach gegen Osten ab, während gegen Westen ungeheure Felsblöcke, halb liegend, halb aufgerichtet und den Einsturz drohend, in die ohnedem schon gelichteten Wälder verderbliche Bahnen gebrochen haben und nun in chaotischem Durcheinander den Boden übersäen. Ueber und unter ihnen führt der Weg theils auf-, theils abwärts über Stiegen, Felsen und Gerölle bis zu jenem Carlstege, dem ersten Ruhepunkte in dieser grausen Enge. Hier wendet sich das Thal etwas gegen Süden und behält diese Richtung bis Ginzling. Tief auf athmet die von den geschauten Schrecknissen beengte Seele, und leicht beschwingt eilt sie der grünen Thalbucht und dem freieren Hochgebirge zu.

Aber auch in dieser friedlichen, von verschiedenen Alphütten, sogenannten Asten, belebten Gegend haben die Naturkräfte ihr gewaltig Spiel getrieben und schonungslos in die grünen Matten Verderben und Zerstörung gebracht. Die stolzen Häupter der Thalberge, der Grünberg und Jaun, schütteln alljährlich im Frühjahr die wuchtigen Schneemassen von ihren Schultern, und donnernde Lawinen durchbrausen Fels und Alp. Stundenlange graubraune Streifen und Schuttlinien bezeichnen die Stellen, wo sausend die gewaltige Bergfee zu Thal fuhr, und kirchthurmhohe festgeballte und geknetete Lawinenreste wölben sich über Thal und Bach, ein ernster trauriger Gruß, welchen die stolzen Bergriesen den Thalkindern zusandten. Noch im Hochsommer liegen die Schnee- und Eisfragmente hochaufgethürmt auf verwüsteter Sohle, während rund herum Alpenrosen, Azaleen, Soldanellen, Genzianen etc., von den Schwingen der Windsbraut herabgetragen, ihre duftenden Blüthen dem eisigen Hauche zuwenden, gleichsam ein Sinnbild, wie selbst aus der Zerstörung sich neues Leben ringt.

Nach ein und einer halben Stunde endlich erreichte ich sechs Uhr Abends die letzte Ansiedelung in Dornauberg, das Dörfchen Ginzling, dreitausendeinundachtzig Fuß über dem Meer, das auf traulichem Wiesenplane, rings von erhabenem Hochgebirge umrahmt, zur Rast und Einkehr freundlich einlud. Es war einer jener seltenen Abende, die in voller Klarheit Ruhe und Befriedigung über Thal und Berge ausgießen; nicht ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, und ein frischer Ostwind, der von den Stillupper und Floitenthaler Gletschern herabwehte, versprach anhaltend gutes Wetter. Und wahrhaftig ich bedurfte auch des guten Wetters, da mein Reiseplan, so klein er auch in Beziehung auf Distanz schien, sich doch auf ein Terrain erstreckte, das jahrelang von keinem Menschen, kaum von dem Fuße einer flüchtigen Gemse berührt wurde, auf ein Terrain, wo man nur auf sich und die eigene Körperkraft angewiesen ist und ein unglücklicher Zufall den tollkühnen Wanderer in ein kaltes, tiefes Grab bettet.

Ich hatte nämlich im Sinne, zuerst die zehntausend siebenhundertundzehn Fuß hohe Löffel- oder Trippachspitze im Floitenthal zu besteigen, sodann quer über das Eis steuernd die Einsattelung zwischen dem großen Mörchenspitz und dem Schwarzensteinspitz zu erreichen, dort absteigend zur berühmten Schwarzensteinalpe zu gelangen und von da aus den höchst selten gemachten Uebergang über den berüchtigten Schwarzensteingletscher nach dem Pusterthal zu wagen. Damit verband ich die Absicht, das ganze Gebiet so genau wie möglich zu durchforschen, zu zeichnen und am Schwarzenstein Messungen und Gletscherbeobachtungen vorzunehmen.

In dem den kühnern Bergsteigern bekannten Wirtshause beim „pfiffigen Anderl“ nahm ich Quartier und fand Küche und Nachtlager so gut bestellt, wie es in solcher Bergeinsamkeit nur der Fall sein kann. Neugestärkt erwachte ich am nächsten Morgen und schickte mich an, meine Vorbereitungen zu treffen. Der Himmel war klar und spiegelrein, und die mächtigen Ketten des Floitenthales und der Zemm ragten duftumflossen mit wahrem Selbstgefühl in die blauen Lüfte. Auf zwei Uhr Nachmittags waren die beiden besten Führer des Thales, Bartlmä und Jacob G., bestellt. Nachdem ich noch ein kleines Mittagsessen eingenommen, wurden die Mundvorräthe und anderweitigen Utensilien verpackt, die Stricke, Beile und Fußeisen unter die Führer vertheilt, und fort ging es unter vielen Glückwünschen und Grüßen der ersehnten Höhe zu, die ein wahrer Gemsenweidegrund ist. Die Jagd im Zillergrund, Floitenthal und Gungl ist von dem Fürsten Vincent Carl v. Auersperg gepachtet, und die Anzahl der dort gehegten Gemsen mag sich auf acht- bis neunhundert Stück belaufen.

Gleich hinter dem Gasthause betritt man den Thalgrund der Floiten, das östlichste Thal des Dornauberges oder Zemmgrundes. Dasselbe zieht sich mit einer mittleren Erhebung von viertausendeinhundertsechszig Fuß streng südlich und endet am nördlichen Abfall des Löfflers. Wir wanderten, zuerst mäßig ansteigend, durch Wald und Unterholz und gelangten bald zur kleinen Alpe Tristenbach, mitten zwischen riesigen Felsblöcken gelegen, die reich mit einem veilchenduftenden Moose überkleidet sind. Hier gewinnt das Thal an Ausdehnung und Großartigkeit. Links (nordöstlich) entsendet der Tristenspitz und Floitenthurm seine gewaltigen Felsbauten; namentlich aber ist es die südliche Abdachung des Floitenthurms, welche alles Andere an Wildheit und Großartigkeit übertrifft. In [268] einer Flucht stürzt derselbe von achttausendachthunderteinundsiebenzig Fuß bis sechstausendachthunderteinundsiebenzig Fuß hinab und endet unten in bröckelnden, morschen Schieferlagen und traurigen Schuttfeldern. Kein Baum, kein Strauch, höchstens eine verwegene Saxifraga oder Silene schlingt ihre Wurzeln um das kalte Gestein, Schutz und Nahrung in den wenigen Verwitterungsproducten suchend. Im Süden ragen sporadisch Waldbestände bis zu den obersten grünen Terrassen und Grasbändern, die endlich wieder dem zackigen, zerrissenen und verwitterten Schiefergrate weichen.

Passage über den Schwarzensteingletscher.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

Doch trotz dieses interessanten Naturschauspiels ist das Auge nicht zufriedengestellt; es ahnt hinter den ungeheuren Bauten und Vorwerken noch etwas Großartigeres, eine neue Welt, eine Welt voll erhabenen Ernstes, still, klar und schimmernd, eine Welt überreich an den seltensten Naturscenen. Wir täuschten uns nicht; bereits leuchtete im fernen Hintergrunde ein blendender Firngrat entgegen – noch einige Schritte, und die majestätische Kuppe des Löfflers stieg empor, wie der helle Vollmond am nächtlichen Himmel. Ein lauter Jauchzer drang zu seinen Höhen, und lustig ging es nun theils neben dem Bache, theils über Wiesen und kleine Schuttfelder, an den Hechenbergsalphütten vorbei, der Alpe Pokach zu. Die Scenerie hat sich wenig geändert; nur die Wälder sind zurückgeblieben und alte, vom Blitz getroffene oder abgestorbene Riesenstämme erinnern an den einstigen Bestand herrlicher Forste. Allein Wind und Wetter, Schnee und Eis, Lawinen und Schlammströme haben arg gehaust in diesen einst blühenden Revieren, wo früher das Reh und die Gemse nachbarlich weideten, wo der Fuchs auf seinen nächtlichen Streifzügen ein Hasel- oder Steinhühnchen erhaschte, wo Amsel, Drossel und andere Sänger die stille Waldeinsamkeit unterbrachen und in tausendstimmigem Jubel das Morgen- und Abendroth begrüßten. Jetzt ist es anders geworden; ein düsteres Schweigen lagert auf Thal und Berg, nur der Bach tobt und braust wie ehedem durch die einst grünenden Fluren. Seine Ufer sind klafterhoch mit Schutt und Trümmerhaufen bedeckt, und blos den angestrengtesten Bemühungen der Aelpler gelingt es, die alljährlich neu mit Steinen und Felstrümmern sich füllenden Alpgründe zu reinigen und theilweise für das Vieh wieder nutzbar zu machen.

Uebergang über die Löfflerkluft.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

In kurzer Zeit erreichten wir die Alpe Baumgarten, viertausendachthundertsechsundzwanzig Fuß über dem Meeresspiegel, eine traurig ironische Benennung für diese Steinwüste. Bescheiden lehnt sich die kleine schmutzige Alphütte an eine hohe Felswand, [269] gleichsam Schutz suchend an der warmen Muttererde. Beim Eintritt in dieses primitive Alpenhôtel präsentirte sich uns, aus einem Rauchqualme auftauchend, der Altsenne, ein gekrümmter, alter, hypochondrischer Bursche mit langem Bart und wettergebräuntem Gesicht. Ohne sich weiter um uns zu bekümmern, ließ er uns ruhig eintreten und unser Gepäck niederlegen. Nachdem ich mich ein wenig ausgeruht und mir’s bequem gemacht hatte, trat die Frage über Nachtquartier und Abendessen in den Vordergrund, und ich wandte mich deshalb in aller Güte und Höflichkeit an den rauhen Alpenhirten, der es jedoch vorzog, alle meine Interpellationen mit einem „Weil i’s nit woas“ („Weil ich’s nicht weiß“, soviel wie: „Ich mag Euch keine Antwort geben“) abzufertigen. Da nahm sich denn der Führer Bartl meiner an und eröffnete folgenden Dialog:

Die Löfflerspitz in Tirol.
Nach der Natur aufgenommen von J. v. T.

[270] „Wie, Seppl, thu die Schnauz’n auf, der Herr möcht’ da bleib’n.“

„So,“ sagte der verwegene Hirt, „dobleib’n mog’ er scho, aber hob’n thue i nix, und Heu kriegt er a koans.“

Aha! dachte ich mir, da heißt es einen milderen Ton anschlagen, um aus dieser starren, seinen Felsen gleichenden Natur etwas herauszubringen; ich näherte mich ihm daher mit der Feldflasche (dem gewöhnlichen Talisman in diesen abgelegenen Orten), doch ehe ich ein Wort gesprochen, war dieselbe schon in seiner Hand und an seinem Munde, und in langen Zügen schlürfte er den langersehnten und langentbehrten Trank in sich hinein. Die darauf erfolgte Metamorphose des alten Sünders war komisch; er zog sein Gesicht, so gut es ging, in grinsende Falten und bot mir nicht nur ein Abendessen, sondern für die Nacht sogar ein „Zimmer“ an, obgleich ich nicht absehen konnte, wo dieses Zimmer sich befinden dürfte. Das Souper war sehr einfach: Milch, ein fettes Mus, etwas Brod und Branntwein, von welch’ letzterem am meisten der metamorphosirte Wirth profitirte. Da wir schon um zwei Uhr Morgens aufzubrechen gedachten, so wurden vorerst noch sogenannte „Pucheln“ (Fackeln aus harzigem Holze) verfertigt und sodann das Schlafgemach, das sogenannte „Zimmer“, aufgesucht. Dasselbe befand sich zwanzig Schritte von der Hütte entfernt; rechts lagerte, dem behäbigen Grunzen nach zu schließen, eine nicht unansehnliche Familie von Schweinen, während man unten die Glöcklein der unruhigen Ziegen vernahm. Eine schwankende Leiter führte zum „Zimmer“. Böse Ahnungen beschlichen mich, und ich sehnte mich jetzt schon, bevor ich alle Genüsse eines solchen Bivouacs durchgemacht, nach dem Morgen. Eine weitere Beschreibung dieser qualvoll durchlebten Nacht scheint überflüssig. Ringsum durch handbreite Spalten pfiff lustig der eisige Nachtwind, im Heu fand sich auch einiges Leben, und unter mir veranstaltete die ehrsame Ferkelfamilie ein höllisches Concert, während die liebenswürdigen Ziegen gerade mein Dach, das auf der einen Seite am Boden anfing, zum Tummelplatz ihrer verwünschten nächtlichen Zweikämpfe auserkoren hatten.

Erwähnung verdient noch der eigenthümliche Gruß, mit dem mich der alte Senne zum „Zimmer“ geleitete. Er äußerte sich nämlich sehr naiv: „Das Heu da drinnen sei frisch und thue schrecklich dampfen (gähren); vor zwei Jahren habe ein junger, starker Bursche auch in einem solchen Heu geschlafen und seitdem keine gesunde Stunde mehr gehabt. Güate Nacht, sö!“ (so), und damit säuselte er von dannen.

Ich wußte nicht, sollte ich lachen oder mich ärgern, doch that ich das Erstere und hüllte mich tief in meinen Plaid. Obgleich ich mich umsonst abquälte, Alles auf der Welt vergänglich und auch die gegenwärtige Situation alpin-poetisch und romantisch zu finden, so konnte ich doch nicht schlafen und erwartete sehnlichst meine Führer, die sich denn endlich etwas nach zwei Uhr Morgens einfanden. Ich wollte noch etwas warme Milch zu mir nehmen, allein unser wackerer Wirth war nirgends zu finden. Warum – wird sich später aufklären. Nachdem wir uns zum heutigen Tagesmarsch und längerer Gletscherwanderung vorbereitet und ausgerüstet und unsere Requisiten und Vorräthe gehörig versichert hatten, zündeten wir die Fackeln an, und nun ging es still und schweigsam den Felsen und Schuttwällen des Floitengletschers entgegen.

Es war noch fast Nacht; die Sterne glänzten in seltener Pracht, und vor und neben uns hoben sich die gewaltigen Eis- und Firnkuppen vom dunklen Nachthimmel ab. Das ganze Bild – die großartige, noch in geheimnißvolles Dunkel gehüllte Umgebung, die kolossalen Wälle und Dämme und die wuchtigen Felstrümmer, die beim grellen Fackellicht allerhand Gesichter und fast dämonische Gestalten darstellten, dazu wir drei kleinen Gestalten in dieser weiten, erhabenen Welt der Oede und des Todes, die mit verwegenem Muth die nie entweihten Kronen dieser Eisriesen zu stürmen drohten – das Bild hatte etwas Feierliches, fast Geisterhaftes. Da der Floitengletscher an seiner Stirnmoräne wegen der gewaltigen Schutt- und Trümmeranhäufungen und der ungeheuren Zerklüftung nicht erreichbar schien, so wendeten wir uns etwas östlich, um das höhere Plateau zu gewinnen. Nach etwa dreiviertel Stunden hatten wir das Ende des Alpbodens erreicht und somit für viele, viele Stunden der Vegetation Lebewohl gesagt. Immer gewaltiger und massenhafter thürmten sich vor uns Geschiebe und Felsbauten auf, und es erforderte alle Umsicht und Gewandtheit, um bei dem trügerischen Fackellicht und der eintretenden Morgendämmerung nicht einen verderblichen Fehltritt zu thun.

Der Hauptführer Bartl, ein verwegener Steiger, steuerte consequent auf dem nächsten Wege dem Ziel zu und kümmerte sich nicht viel, ob Gefahr dabei war oder nicht, und ob sein Schützling die Schwierigkeiten allein zu überwinden im Stande sein werde oder nicht, – ihm schien es eben nicht, gefährlich zu sein, und das Terrain war ihm ja bekannt; überdies bedurfte ich als alter Bekannter und Vertrauter der Berge und Gletscher auch keiner sonderlichen Nachhülfe. Ein fünfviertelstündiges, mühevolles und angestrengtes Klettern brachte uns auf die Höhe des Gletschers und mit ihm das erste Grauen des Morgens. Noch lag ein fahles Weißgrau auf allen Bergen und die ganze Natur harrte schweigsam des feierlichen Momentes, wo die Allbeherrscherin Sonne mit ihren goldenen Strahlen an die höchsten Kuppen anschlagen würde.

Mittlerweile war es bereits fünf Uhr geworden und wir sahen uns am eigentlichen Floitengletscher und zugleich am ewigen Eise angelangt. Derselbe, ein Gletscher erster Ordnung, erreicht eine Länge von nahezu vierzehntausend Fuß und füllt jene gewaltige Mulde aus, die sich vom Fuß des Löfflers bis zum Schwarzenstein in einer Breite von neun- bis zehntausend Fuß ausdehnt. Ungeheure Schutt- und Moränenhaufen umlagern seine Stirn, und gewaltige Brüche, Klüfte und Schründe durchziehen seinen Körper. Manche derselben sind kaum handbreit, manche dagegen so enorm, daß sie ganze Häuser verschlingen könnten. Trügerische schmale Eisbrücken verbinden im buntesten Wirrwarr die beiderseitigen Ufer, während bei anderen spiegelglatte, oft überhängende Wände vom Rande in die grause Tiefe stürzen. Manche dieser Klüfte, die ich gemessen, hatten eine Tiefe von drei- bis vierhundert Fuß und darüber.

Wir lagerten nun auf einem gewaltigen Felsblock, um hier unser Dejeuner einzunehmen und unsere Vorbereitungen zur Ueberschreitung des Eises zu treffen. Die aufgehende Sonne hatte zugleich einen schneidend kalten Wind mitgebracht, der uns durch Mark und Bein drang und einen Schluck feurigen Cognacs sehr erwünscht erscheinen ließ. Wir packten unsere Vorräthe aus, die in ziemlichen Quantitäten von kaltem Braten, Brod, Käse, Cognac und kaltem Thee bestanden, einem der besten Präservativmittel gegen den grimmigsten Feind im Hochgebirge, den Durst. Zuerst wollte ich mich jedoch innerlich erwärmen und setzte daher meine Flasche an den Mund. Doch, o Schreck! ich sog und sog, allein die kalte Flasche spendete keinen Tropfen. Verdutzt sahen mich meine Führer an, und noch verdutzter blickte ich sie an. Wer konnte der Verwegene sein, der mich des jetzt so nothwendigen Trankes beraubt hatte? Wuth und Ingrimm erfaßten mich, doch was half es? Bartl, der den Zorn in meinen Mienen las, löste das Räthsel und sagte beschwichtigend: „Den hat der Spitzbub, der Seppl, unten in der Nacht ausg’soffen.“

Diese Bestätigung meines Verdachtes war mir ein schlechter Trost und half mir wenig; ich mußte mich in das Unvermeidliche fügen, obgleich es, in Anbetracht der noch zu machenden großen Touren, sehr deprimirend auf mich einwirkte. Jetzt war mir auch klar, warum der graue, schuldbewußte Sünder Morgens beim Aufbruch nirgends zu finden war. Doch half kein weiteres Argumentiren, weg war weg! Wir nahmen unseren Imbiß ein, schnallten uns die Steigeisen fest an die Füße, banden uns an die Stricke, und nun ging es, nachdem ich meinen Führern noch Vorsicht und Ruhe an’s Herz gelegt hatte, langsam das Eis hinan. Anfangs bot dasselbe, da es mäßig anstieg und nur von wenigen Klüften durchzogen war, keinerlei Schwierigkeiten. Allein bald mehrten sich dieselben. Der trockene Sommer hatte den Eiskörper stark angegriffen und die Klüfte alle bloßgelegt. Es galt nun dieselben entweder zu umgehen oder zu überspringen. So weit es die Breite derselben gestattete, geschah das letztere, als jedoch dieselbe zunahm und Schründe mit zwanzig bis dreißig Fuß Breite sich präsentirten, die nicht übersprungen und nicht recht umgangen werden konnten, da mußte ein anderer Ausweg gefunden werden.

Der erste Führer, Bartl, mit den nöthigen Vorsichtsmaßregeln vom zweiten Führer und mir fest am Seile gehalten, stieg verwegenen Muthes auf schmalem Eisbande in das dunkle Grab, und als er eine Tiefe von neun bis zehn Fuß erreicht, dort, wo ein scharfer Eisgrat in vielfach gewundener Linie, bald auf- bald [271] absteigend, theilweise zerrissen und geborsten, zum jenseitigen Ufer führte, begann er mit dem Beile die Eisschneide wegzuhauen und so eine ein bis anderthalb Fuß breite Basis herzustellen. Der zweite Führer löste sich vom Seile los und hielt mit mir, der ich mich auch abband, an dem nun verlängerten Seile den kühnen Mann, der mit seltener Ruhe, halb knieend, halb sitzend, über den dachfirstähnlichen Eisgrat hinüberkroch, stets das Eis vor sich weghauend.

In einer halben Stunde war das Werk vollendet; ich schürzte mir neuerdings das Seil um die Mitte, und so von beiden Ufern aus gehalten, trat ich die gefährliche Wanderung an, die, abgesehen von einigen Stillständen und etwas beklemmenden Momenten, gut von Statten ging. Dem zurückgebliebenen zweiten Führer wurde das Seil hinübergeworfen, und auch er folgte, von uns gehalten, bald nach; so konnten wir, wieder vereint, weiter steuern. Als wir eine Zeitlang gewandert, d. h. vielmehr geklettert und über Klüfte gesetzt waren, eröffnete sich uns plötzlich ein anderes Schauspiel. Gerade am südöstlichen Fuße des Löfflers dehnte sich von Süden nach Norden ein ungeheurer, gewiß dreißig bis vierzig Fuß breiter und hundert bis hundertzehn Fuß langer Firnschrund aus, der oben in eine unübersteigliche Eisrinne und unten in eine Unzahl kleinerer unnahbarer Klüfte auslief. Bartl, der sich vom Stricke losgebunden, um leichter recognosciren zu können, äußerte sich: „Wenn wir da nicht hinüberkommen, so kommen wir auch nicht auf die Spitze, und der Schrund ist ein Teufelsschrund.“ Da diese Kluft bei den früheren Besteigungen nicht existirte und sich erst heuer gebildet haben mußte, so machte das dem wackeren Bartl viel zu schaffen. Er stieg hinauf, er stieg herab, er schaute, forschte und überlegte – endlich kam er zurück. Mit entschlossener Miene sagte er: „Ein Eisgrat führt hinüber, aber grausig ist er; wenn ös es derwagt’s (wenn Ihr es wagen wollt), gut, nachher geht’s.“ Ohne ein Wort weiter zu sprechen, banden wir uns vom Seile los und wollten das Ding versuchen; der alte Spaß ging nun von Neuem los.

Bartl stieg hinab, kroch und wand sich, von uns gehalten, über eine abschüssige Eisterrasse, und wir glaubten schon, daß er nach einigen Schritten das jenseitige, steil abfallende Ufer erreichen würde. Doch dem war nicht so. Der Strick begann sich allmählich zu spannen, und mit Schrecken sahen wir, daß er nicht mehr zureiche. Wir schrieen dem Bartl zu, zu halten, und nachdem wir ihn von dem mißlichen Umstande in Kenntniß gesetzt hatten, stutzte er einen Augenblick, aber nur einen Augenblick; entschlossen erwiderte er: „Gehe es, wie es geht, jetzt kehren wir nicht mehr um; ich haue drei bis vier breite Stufen unter dem bereits zugehauenen Grate, und dann folgt ihr Beide bis hierher nach; so wird der Strick schon reichen.“ So richtig und einzig auch dieses Mittel schien, so wollte es mir dennoch nicht recht einleuchten, denn wenn wir alle Drei auf dem schmalen, trügerischen Eisbande ständen ohne sicheren Tritt, ohne Anhaltspunkt, und Einer von uns würde auch nur einen kleinen Fehltritt thun, so mußten wir Alle unaufhaltbar in die Tiefe stürzen, – und aus diesem Grabe gab es keine Erlösung. Ich hätte es fast vorgezogen, den Bartl umkehren zu machen und allein am Strick gebunden vorauszugehen und mit dem Beil mir einen Weg auszuhauen, da ich den beiden Führern mehr Kraft zutraute, mich im Falle eines Sturzes zu halten, als mir, einen der Führer zu retten. Allein dies hätte viel zu viel Umstände und Zeit gekostet, und ich entschloß mich daher, im Vertrauen auf meine Schwindelfreiheit und meine starken sechszackigen Fußeisen, den gefährlichen Gang zu wagen, die einzige Möglichkeit, auf die Spitze zu gelangen. Bartl hieb mit dem Eisen drei breite, tiefe Löcher in das Eis, und setzte sich selbst so in Positur, daß er mich im Falle eines Ausgleitens zu halten vermochte. Theils reitend, theils kriechend erreichte ich die erste Haltstation und verblieb, da ich mich nicht umzukehren wagte, in dieser Stellung. Der zweite Führer setzte sich zwar etwas kopfschüttelnd, doch als Gemsjäger sich seines Bedenkens schämend, in Reiterstellung auf den Grat und kam wohl sehr langsam, aber glücklich bei mir an.

Nachdem wir nun nach dieser höchst eigenthümlichen Cavalcade unter gegenseitiger Hülfeleistung in den früher ausgehauenen drei breiten Stufen Posto gefaßt, rückte Bartl, des Erfolges sicher und mit schwachem Kopfnicken unserem Muthe Beifall zollend, mit erneuter Kraft vorwärts. Der Strick reichte vollends aus, und schon wollte er, jauchzend, in kühnem Satze einer etwas abschüssigen Eisplatte zuspringen, als er plötzlich mit lautem Aufschrei stürzte und einen Augenblick unseren Blicken entschwand. Der gewaltige Ruck riß mich nach vorwärts, so daß ich auf den Bauch zu liegen kam.

Im ersten Moment vergingen mir fast die Sinne, und ich wußte nicht, wie ich mich in meiner gefährlichen Stellung erhalten konnte. Mein Führer hinter mir hatte mich fest am Rocke gefaßt und half mir zu meiner früheren Stellung. Mit wahrer Todesverachtung und ehe ich mich versah, war er neben oder vielmehr über mir vorgeklettert und zog nun an dem Seile, um den Bartl wieder an’s Tageslicht zu schaffen. Das Seil knarrte, Eistrümmer rasselten in die Tiefe, und plötzlich tauchte drüben der Bartl aus dem nächtlichen Schlunde empor. Er hatte sich während des Falles wie durch ein Wunder mit seinem linken Fußeisen an eine vorspringende Eiskante stemmen und so sich und uns vor dem unvermeidlichen Untergange retten können. Denn wäre er wirklich gestürzt, so hätte er uns Beide von unserem luftigen Sitze herab und mit in die Tiefe gerissen, und kein Zeichen, keine Spur hätte die etwa Suchenden zu unserer kalten Ruhestätte geleitet! So jedoch freuten wir uns, wenn auch mit hochklopfenden Herzen und etwas aschfarbenen Gesichtern, des neugeschenkten Lebens und schritten nun muthig über den hier steil abfallenden Firn. Die soeben überstandene Gefahr ließ die jetzt folgenden nur gering erscheinen, machte uns jedoch vorsichtiger.



[388]

Aus der Wandermappe der Gartenlaube.

Nr. 1. Auf dem Zillerthaler Eismeere.
II.[2]

Auf unserer Tour von Zell im Zillerthale nach dem Schwarzensteingletscher gelangten wir in verhältnißmäßig kurzer Zeit, nach Ueberkletterung eines gewaltigen brüchigen Steinwalles, auf den oberen Firn, der noch ziemlich hart war und keine besonderen Schwierigkeiten bot. Nach circa einer Stunde waren wir am Fuße des eigentlichen Domes angelangt. Schon tauchte im fernen Osten und Süden eine Gebirgsreihe nach der anderen auf, allein ich wollte mit Detailansichten nicht Zeit verlieren, und auch nicht den Totaleindruck, der meiner auf der Spitze harrte, abschwächen. Nach manchen Mühen und nicht unbedeutenden Gefahren, die sich besonders an der letzten fast senkrechten Eiswand darboten, erreichte ich, dem ersten Führer voraneilend, als der erste um halb zwölf Uhr Mittags die Spitze des Löfflers, ein kleines, geneigtes, längliches Dreieck, von blasigem Hocheis bedeckt, mit Raum für fünf bis sechs Personen; fast von allen Seiten fällt sie in jähen Eiswänden ab.

Ein lauter Jauchzer entwand sich meiner Brust, doch erstarb derselbe, kaum daß er meinem Munde entflohen. Kein Echo hallte von den benachbarten Bergen, Alles war still und einsam. Natürlich schweifte mein Blick halbtrunken über alle die Höhenzüge, [390] Bergketten, Thäler und Alpen, ohne einen Ruhepunkt zu finden. Der Eindruck war zu groß, zu überwältigend.

Um uns möglichst rasch zu kräftigen, wurde der Plaid ausgebreitet, der Mundvorrath ausgepackt und unter freiem Himmel in einer Höhe von nahezu elftausend Fuß über dem Meere im Genusse einer großen, unermeßlichen Rundschau das Diner eingenommen. Die Schilderung der Rundschau erlassen uns die Leser; sie erführen ja doch nur Namen. ohne Farbe und Klang. Genug, daß nach dem außerordentlich großartigen Genuß in der That mein Scheiden von der Höhe ein schmerzliches und wehmüthiges war; doch die Zeit mahnte zum Aufbruche, und wollten wir noch die lange Tour zur Schwarzensteinalpe machen, so durften wir nicht säumen. Nachdem Alles verpackt war und ich noch einen Jauchzer als Lebewohl in die Lüfte hinausgesandt, stiegen wir ab, alle fest am Seile.

Nach einer sehr anstrengenden Tour, bei welcher aus langen steilen Strecken spiegelglatten Eises Stufen in dasselbe gehauen werden mußten, gelangten wir glücklich, aber etwas ermattet auf den oberen Firn und bald auch zu der großen Firnkluft, oder vielmehr dem Bergschrund, der uns Vormittags so viel zu schaffen gegeben. Hier wurde nun Kriegsrath gehalten. Die gut im Andenken stehende Reit- und Rutschpartie über das Eisband (vergl. Illustration S. 268) schien keinem recht zu behagen, am allerwenigsten aber mir, der ich mir durch das Sitzen auf dem Eisgrate bereits einen ganz gediegenen Rheumatismus zugezogen hatte. Ich rieth daher, anstatt abwärts, quer über den Firn zu gehen, die weiter westwärts furchtbar zerrissenen Eislagen in der Höhe zu umgehen, um dann nordwärts gegen den großen Mörchenspitz steuernd, zur Alpe Schwarzenstein abzusteigen. Obgleich dies bei günstigem Terrain der nächste Weg zur genannten Alpe gewesen wäre, so meinte doch Bartl, daß wir auf unvorhergesehene Hindernisse stoßen, umkehren, und schließlich wegen Einbruchs der Nacht auf dem Eise übernachten müßten, was ihm nicht einleuchten wollte. Jedoch wenn ich Courage habe, wolle er mich schon begleiten, obgleich er diesen Weg noch nie gemacht. Da ich schon auf der Spitze diesen Gedanken nachhing, so hatte ich mir oben mit Hülfe des Perspectives eine genaue Terrainzeichnung gemacht, die ich dem Bartl zur Verfügung stellte. Nachdem er einige Zeit die Zeichnung umgekehrt in den Händen gehalten und bedenklich in die verworrenen Bleistiftlinien geschaut, schüttelte er sein Haupt und meinte, er kenne sich da nicht aus, da er überhaupt gar nicht lesen und schreiben könne. Wenn ich es könnte, sollte ich nur vorausgehen, er werde mir schon helfen. Also band ich mir denn den Strick neu um und übernahm in Gottes Namen die „Führung der Führer“, die ganz ruhig und geduldig, in Erwartung der Dinge, die da etwa noch kommen würden, hinter mir einherschritten.

Genau meinem Plane folgend rückte ich einem blanken Firnfelde zu Leibe, das, mäßig ansteigend, in Form einer großen Kuppe sich über die unten befindlichen furchtbaren Eisbrüche wölbte. Wir waren etwa vierzig bis fünfzig Schritte weit gegangen, als ich plötzlich den Firn unter meinen Füßen weichen fühlte und sausend in die Tiefe fuhr. Mein Führer hinter mir, der auf ein so plötzliches theatralisches Verschwinden nicht vorbereitet war, sank in die Kniee, nur der zweite Führer hielt sich. Mit ihrer Hülfe wurde ich wieder aus der Kluft herausgezogen, und weiter ging es, jedoch diesmal vorsichtiger. Trotz einiger Uebung, die ich mir auf den Oetzthaler und Stubaierfirnen erworben hatte, konnte ich von der Ferne die verdeckten Klüfte, die meistens einen graubläulichen Schein haben, doch nicht immer entdecken, daher es denn kam, daß in dem erweichten Firn bald der eine, bald der andere „Verschwinden“ spielte, ein Vergnügen, das meinen beiden „Gefährten“ durchaus nicht behagen wollte, wenigstens äußerte sich der letzte, „er habe bis aufer genug, er sei schon ganz watschelnaß“ („er habe bis herauf genug, er sei schon durch und durch naß“), ein Uebelstand von dem ich jedoch auch nicht verschont blieb. Stets bis an die Kniee in den erweichten Firn einsinkend, gelangten wir endlich nach zweieinhalbstündiger Arbeit und manchen überwundenen Hindernissen matt und erschöpft zur tiefen Einsattelung, die den Floitengletscher vom Schwarzensteingletscher trennt und aus wild durcheinander geworfenen Eisblöcken und brüchigem Firn bestand. Hier mußte eine halbstündige Rast gehalten werden, wollten wir anders nicht ganz ermatten und uns zur morgigen ebenso anstrengenden Tour nicht untauglich machen. Der kleine Rest von kaltem Thee wurde unter uns vertheilt und mit etwas Chocolade genossen. Er trug wesentlich zur Erheiterung und Weckung unserer gesunkenen Lebensgeister bei, dem Fleische und Brode wurde auch tüchtig zugesprochen, und es war bereits sechs Uhr geworden, als wir mit allem Ernste an den Aufbruch denken mußten. Der Himmel, vordem noch rein, hatte sich im Süden etwas verdüstert und zeigte zerrissene Wolken streifen, Zeichen des eintretenden Föhn's oder Scirocco's (warmer, regenbringender Südwind), während die Luft schwül und warm war.

Mit Mißbehagen und einem bitteren Vorgefühl eines morgen etwa eintretenden Regens machten wir uns auf den Weg und erreichten in einer Stunde wieder festen Boden. O, wie that das so wohl, nach zwölfstündiger Wanderung, die Fußeisen wieder loszuschnallen und endlich sicher auftreten zu können! Abends nach acht Uhr zogen wir in die luftige Hütte der Schwarzenaualpe, 6457 Fuß über dem Meere, ein. Hier trafen wir schon zwei Fremde und einen Führer, die ganz gemüthlich um ein trauliches Feuer lagerten. Der eine der beiden Fremden war ein Professor aus Westphalen, der auf Mineralien ausging und am Roßruck Studien machte, der andere ein Maler aus Erfurt, beides liebenswürdige Persönlichkeiten. Die gegenseitige Bekanntschaft war bald gemacht, und ich verdankte schließlich diesem freundlichen Zufall frische Mund- und Weinvorräthe, indem die auf der Heimkehr begriffenen Fremden mir ihren Ueberfluß abtraten und ihren Führer dazu, weil er sich am Schwarzensteingletscher gut auskenne. Nach einer gründlichen Ruhe brach ich noch in der Morgendunkelheit auf. Beim ersten Schritt aus der Sennhüttenthür kam mir schon ein Strich ganz warmen Windes entgegen. Der Himmel war fast rein, nur einzelne stark zerrissene Windwolken verkündeten den Sturm in den oberen Lüsten. Schwarz, fast geisterhaft hoben sich, so gut man es sehen konnte, die mächtigen Felsmassen aus ihrer eisigen Umhüllung, und hie und da hörte man das monotone Stöhnen des lauen Südwindes, wie er um Fels- und Eiskanten fegte. Ganz erwünscht waren mir diese Anzeichen nicht, jedoch wollte ich, in der Hoffnung, daß der obere warme Wind anhalten und so der Himmel wenigstens bis Abends rein erhalten würde, die Partie wagen und schickte mich daher zum Aufbruche an. Schade, daß es so früh an der Zeit war das ganze herrliche Schwarzensteiner Panorama mit seinen gewaltigen Firnlagern und Eisfirsten, dem Hornspitz, Roßruck, Thurnerkamp, Hohe Möselspitz, Fürtschlagelspitz etc. hob sich nur matt und undeutlich hervor. Fast dämonisch klang von den nahen Gletschern das Dröhnen und Brechen des Eises, ein nur zu sicheres Zeichen, daß das Wetter bald umschlägt.

Mit Hülfe einer Holzfackel suchten wir, südöstlich steuernd, uns mühsam aus dem felsigen und schluchtigen Terrain herauszuarbeiten und gelangten endlich nach manchem unfreiwilligen Stolpern und Purzeln an das untere Ende des Schwarzensteingletschers, 7071 Fuß. Als ein Gletscher erster Ordnung, weiß derselbe seine Stellung auch zu wahren und breitet den gewaltigen zerrissenen Eismantel um sein Felsenhaupt, den Schwarzensteinspitz, 10,651 Fuß. Nachdem wir die prachtvollen Eisstufen und blauen Hallen seines nördlichen Absturzes bewundert, stiegen wir, dieselben im Osten umgehend, über Schuttfelder und ungeheure Steintrümmerlagen hinauf und erreichten um halb fünf Uhr Morgens das Eis, das nun auf viele, viele Stunden unser steter Begleiter sein sollte. Wie ganz anders that sich gestern auf dem Floitengletscher der rosige Morgen auf, wie freudig begrüßte ich gestern das erste Anschlagen der goldenen Strahlen an den fernen Eisgipfeln!

Heute war die Stimmung in der Natur und in uns eine gedrücktere. Eine böse Ahnung, als würden wir nicht ungefährdet das jenseitige Thal erreichen, beschlich mich und die Führer. In scharfen Linien zogen die Firngrate west- und ostwärts, manchmal in dichte Wolken aufgewirbelten Hochschnees sich hüllend; lauter und lauter dröhnte der Gletscher, neue Spalten werfend, und eine drückend schwüle Luft lagerte über uns. Wir schnallten die Fußeisen an, banden uns das Seil um die Mitte, und nach kurzem Ausblicke und erfolgter Besprechung über die einzuschlagende Richtung stiegen wir still und schweigsam das ungeheure Eisfeld hinan. Auf Anrathen des neuen Führers, Hanns, wurde eine mehr südliche Richtung genommen, ziemlich knapp an dem Abfall des Schwarzensteinspitzes, da der Gletscher (hier zu Lande auch Kees genannt) in der Mitte furchtbar zerrissen und zerklüftet und fast unüberschreitbar ist; auch war im Falle eines eintretenden Unwetters [390] der Rückzug hier weniger gefährlich. Je näher wir an den Eiskamm rückten, der sich vom Schwarzensteinspitz zum großen Mörchenspitz hinzieht, desto häufiger und größer wurden die Klüfte; auch gewann das Eis eine bedeutend unangenehme Neigung gegen Westen, die sich oft bis vierzig Grad steigerte. Wir umgingen und übersprangen, so lange es ging, die offen zu Tage liegenden Klüfte, hatten uns so ziemlich hoch hinaufgearbeitet, und ich dachte schon, die Partie könnte vielleicht noch ganz gut enden.

Da mit einem Male änderte sich die ganze Scenerie; der erste Führer, Hanns, der die Leitung übernommen, blieb stehen, stutzte, schaute, forschte, – kein Ausweg. Vor uns wild durcheinandergeworfene Eistrümmer, von der Größe eines Hauses, zerschellt, zerrissen, geborsten in den sonderbarsten Formationen. Links eine glatte Eiswand, die oben überhängend wurde, und unter uns, rechts, unbeschreibbar, ein Chaos von gewaltigen Klüften und Schlünden, die uns schwarz und grausig entgegenstarrten. Da war ein Vorwärtsdringen unmöglich, und wir mußten uns bequemen, umzukehren, um weiter westlich den Aufstieg zu versuchen. Mühsam wanden wir uns durch die Eisabstürze wieder hinunter, übersetzten eine breite Längskluft und versuchten neuerdings, die Schlünde umgehend, die frühere Höhe zu gewinnen. Schritt für Schritt trotzten wir dem feindlichen Elemente ab, klommen, dem Kommandoworte des noch immer beherzten Hanns folgend, über die kalten Stufen bald hinauf bald hinunter und befanden uns endlich auf einer kleinen, ziemlich ebenen Firnfläche. Hier wurde geruht und das Frühstück eingenommen, jedoch nicht mit der Fröhlichkeit und dem heiteren Sinne, der nach überstandenen Mühsalen in einer solchen Gesellschaft sonst zu herrschen pflegt. Der Himmel zeigte zwar noch nichts Drohendes, allein der Blick nach dem Eiskamme, den wir zu übersteigen hatten, bot kein erfreuliches Bild. So weit das Auge reichte, sah der Firn wie ein Sieb aus; mächtige Klüfte durchzogen denselben nach allen Richtungen, und mit dem Perspective konnte ich ungeheure Eisabstürze entdecken, die sich zwischen denselben in wildem Durcheinander aufthürmten. Ich sagte davon den Führern nichts, um ihnen nicht den Muth zu benehmen, beendete die Mahlzeit und mahnte zum Aufbruche.

Demgemäß band man sich wieder an das Seil und verbuchte nun, eine kleine zerklüftete Eishalde hinabsteigend (vergl. Illustration S. 268 „Passage über den Schwarzensteingletscher“), den jenseitigen Abhang zu erreichen, um von dort aus in schräger Richtung auf den ersehnten Kamm zu gelangen. Der erste Führer war so eben bedächtig bis zum abschüssigen Rande einer Kluft gekommen, als er plötzlich, Niemand wußte wie, das Gleichgewicht verlor und, da das Seil zum zweiten Führer, anstatt gespannt zu sein, schlaff herabhing, den letzteren mit gewaltigem Rucke zu Boden riß und auf der glatten Fläche mit sich schleifte. Mit übermenschlicher Anstrengung hielten ich und der letzte Führer den Strick krampfhaft in den Händen, um die anderen vor dem furchtbaren Sturze in die Tiefe zu retten, – doch vergeblich! Der durch den warmen Wind aufgeweichte Firn hatte sich unter den Zacken der Fußeisen geballt, ich verlor den Halt, riß den letzten Führer auch mit, und auf den Rücken stürzend, flog ich mit der anderen Karawane der gähnenden Kluft entgegen.

Dies Alles war das Werk eines Augenblickes und die Situation eine verzweifelte, ähnlich derjenigen, bei der im Jahre 1866 die Matterhornbesteiger L. Douglas, Hudson und Conforten verunglückten. Noch eine Secunde und wir ruhten mit zerschellten Gliedern vereint im gemeinsamen Grabe. Doch die Vorsehung hatte es anders beschlossen. Hannsl, der wackere, baumstarke Bursche, hatte bei seinem Sturze so viel Geistesgegenwart, mit Händen und Füßen sich mehr gegen das Ende der Kluft hinzuarbeiten, und dadurch auch uns eine mehr schräge Richtung zu geben. Sausend langte er unten an und prallte, auf dem Rücken liegend, mit beiden Füßen an die jenseitige Eiswand an, hier blieb er stecken und bildete, da die Kluft hier blos nahe vier Zoll breit war, eine Art Brücke. Fest eingestemmt und die Arme ausspreizend, empfing er mich, der über seinen Kopf hinausstürzte und links gegen eine Eisstufe anprallte. Der zweite Führer hatte sich zwischen mir und dem Hannsl eingekeilt, und bildete so mit uns einen hübschen Knäuel. Der dritte Führer wurde, obgleich er in die Kluft stürzte, von allen dreien noch erhalten. So hingen wir zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod, nur durch ein Wunder gerettet.

Nun hieß es behutsam sein! Zuerst kroch ich empor, dann der zweite Führer, und als wir festen Fuß gefaßt, halfen wir, am Stricke ziehend, dem in die Kluft gestürzten wieder an’s Tageslicht, und brachten auch den Hannsl aus die Beine. Die ganze Operation hatte nahezu eine halbe Stunde gedauert. Keiner hatte bedeutenden Schaden genommen, nur ich blutete stark an der linken Hand, und der gestürzte Führer klagte etwas über Kopfweh.

Durch dieses kleine, aber höchst unangenehme Intermezzo ließen wir uns jedoch nicht aufhalten, sondern setzten, noch immer muthig und vertrauend, nach Verbandagirung der Wunden, unseren Weg weiter. Noch galt es ein ziemlich Stück Arbeit, bis wir den oberen Firn, und mit ihm den Anstieg zum letzten Eiskamme erreichen würden. Doch plötzlich – wie von Zauberhänden entrollt, wälzte sich von Westen her eine dichte Nebelmasse, die, immer näher und näher anrückend, uns endlich in ihren feuchten Mantel hüllte: feiner aufgewirbelter Hochschnee, vom nun losbrechenden Winde gepeitscht, drang auf uns ein und blendete uns förmlich, während eine plötzlich eingetretene Kälte uns Mark und Bein durchrieselte.

Unterdessen war es völlig Nacht geworden, und wir konnten keine vier Schritte vor uns sehen. Des Himmels Strafe war über uns gekommen! das hieß unsern Muth und unsere Kraft auf eine harte Probe stellen. War es wirklich Hochnebel, dem gewöhnlich Regen oder dichtes Schneegestöber folgt, so waren wir unrettbar verloren und sahen einem fürchterlichen Tode entgegen. Das wußte jeder von uns, und bleich und verstört sahen wir uns an. Niemand wagte einen Rath oder eine Meinung auszusprechen, wir waren alle von dem Eindrucke des Augenblicks überwältiget. Was nun thun? Umkehren war ebenso gefährlich, als vorwärtsgehen, und das Unwetter hier abwarten, war eine gewagte Sache. Doch sah ich mich zu letzterem gezwungen, denn bei der herrschenden Dunkelheit, bei dem Toben und Wüthen der entfesselten Elemente weigerten sich die Führer, auch nur einen Schritt weiter zu thun.

Wir breiteten den Plaid aus und ließen uns nieder. Keiner von uns sprach, jeder hatte mit seinen eigenen Gedanken sattsam zu thun. Es verging eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde – wir zitterten vor Kälte, – allein die Dinge gestalteten sich immer schlechter. Wie Ossian’s Schatten, gespenstergleich huschten die Nebelmassen an uns vorüber, in wüthenden Stößen sauste der Wind über die weiten Eisflächen, und ein heftiges Schneegestöber begann in den Lüften sein wunderliches Spiel. Jetzt sank auch dem Beherztesten der Muth! Wir waren verloren! - denn es hätte übermenschliche Kraft erfordert, aus diesen Eis- und Klüftenlabyrinthen, ohne Richtung und Anhaltspunkt von den entfesselten Elementen verhöhnt und gepeitscht, einen Ausweg zu finden. Still, zusammengekauert lag ich hinter einem Eisblocke, und Gedanken – Gedanken der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung durchkreuzten wild meinen Kopf. Was trieb mich in diese unwirklichen Gefilde, in dieses trügerische Reich der Pracht und Herrlichkeit und des Todes zugleich, was verlockte mich, der tödtlichen Kälte, den tobenden Stürmen zu trotzen, das warme gebrechliche Leben über stundenlange Firnmeere zu lenken, um hier, halb erstarrt, ohne Hülfe, ohne Trost, hängend zwischen Leben und Tod, ein heiteres, fröhliches Dasein so traurig zu enden? Schmerzlich, unendlich schmerzlich gedachte ich der süßen Heimath, der lieben Meinen, die meine schreckliche Lage wohl nicht ahnten! So saß ich, ein Bild des Elends und des Jammers; doch hängt der Mensch so fest an dem warmen Leben, klammert sich so mit allen seinen Kräften an jeden Strohhalm, der auf den Wogen treibt, daß er, selbst ringend mit dem Tode, noch Rettung hofft. Und was vermochte nicht Geistesgegenwart, was Muth, Kraft und Ausdauer selbst gegen die tobenden Elemente!

Ich raffte mich auf und hieß meine Leute die Mundvorräthe auspacken. Ich gab ihnen Wein und Fleisch, vertheilte Cigarren, und fachte auf alle mögliche Weise ihre gesunkenen Lebensgeister wach zu rufen. Ja ich stimmte, obgleich mir selbst das Herz blutete, ein Lied an, und sandte einen hellen Jauchzer in die grauen Nebelmassen hinaus. Doch nichts vermochte die Muthlosigkeit meiner sonst wackeren Gefährten recht zu verbannen. Da plötzlich riß über uns der Nebel, und ein Blick überzeugte uns, daß, wenn auch die Nachbarberge tief in Nebel steckten und der Himmel eine Bleifarbe angenommen hatte, doch der oberste Firngrat noch frei war. In ein und einer halben bis zwei Stunden konnten wir, wenn es gut ging, denselben erreichen, und dann wären wir gerettet. Von neuem Muthe beseelt, ließ ich Alles schnell zusammen packen, eiferte meine Führer an, versprach ihnen doppelten Lohn, [390] und fort ging es, dem Wind und Sturme entgegen. Der gute Bartl war noch immer in tiefer Trauer, was ich dem armen Burschen nicht verargen konnte; war er doch Familienvater und hatte daheim Weib und Kinder, die seiner sehnsüchtig harrten. „Jetzt ist’s gerad gleich,“ seufzte er vor mir„ „ob wir unten oder oben hin sein, hin sein mer doch.“ („Jetzt ist es doch gleich, ob wir unten oder oben verloren sind, verloren sind wir dennoch.“)

Wir hatten eine kurze Strecke zurückgelegt, als wir wieder dicke, graue Nebelmassen vom Hornspitz daherrollen sahen. Rasch riß ich meinen Compaß heraus, skizzirte mit erstarrten Händen, so gut es ging, den Aufstieg und fixirte die Richtungslinie, und weiter ging es in den nun etwas sanften Firn. Wir sanken stets tief ein und konnten nur mit der größten Anstrengung vorwärts kommen. Bald waren wir wieder in Nebel. Suchend und die trügerisch überdeckten Klüfte bestmöglichst vermeidend, bald rechts bald links abschweifend, vielfach umkehrend und neu probirend, hatten wir uns doch ziemlich weit hinaufgearbeitet. Doch jetzt verließ uns die Kraft. Der erste Führer sagte gar nichts, sondern legte sich einfach auf’s Eis nieder, um zu schlafen. Auch ich war ganz erschöpft, und die zwei anderen Führer konnten sich kaum mehr weiter schleppen, Da mußte Wein her! – sonst waren wir verloren, denn wenn uns einmal der Schlaf gepackt, so war kein Erwachen mehr denkbar. O wie dankte ich da den beiden gastfreundlichen Fremden für den gespendeten Rebensaft! Sie haben einen großen Antheil an unserer Rettung!

Nachdem wir uns einigermaßen gestärkt und auch Hannsl sich des Bessern besonnen, das Schlafen bis Abends, wo wir uns in’s Bett legen konnten, zu verschieben, versuchten wir neuerdings vorwärts zu dringen.

Plötzlich gewann das Terrain an Steilheit und Glätte; wir wanden uns, die Fußeisen fest einstemmend, mühsam hinauf, ein freudiger Gedanke durchzuckte meine Seele, noch einige Schritte, und wir standen auf dem ersehnten Firngrate, der das Zillerthal vom Ahrnthale trennt. Es war zwölf Uhr Mittags, doch schien es wegen des dichten Nebels eher Abends sieben Uhr zu sein. - Wir waren gerettet. Bartl konnte nicht umhin, in seiner übergroßen Freude ein heißes Dankgebet zum Himmel zu senden, und begann sichtlich erregt in seinem frommen Sinne ein Vaterunser zu beten. Auch ich zollte dem Himmel meinen wärmsten Dank, daß er mir Geistesgegenwart und Kraft verliehen, mich den Armen des Todes zu entwinden. Nur der etwas schroffere Hannsl äußerte höchst naiv. Schau’, i hätt’ nit glaubt, daß mer da no beisammen waren.“ (Schau’, ich hätte nicht geglaubt, daß wir hier noch beisammen sein würden.) Auf der Schneide konnten wir es keine fünf Minuten lang aushalten; das Thermometer zeigte zwei und einhalb Grad unter Null, eiskalt und orkanartig pfiff der Wind um uns und die kleinen einzelnen Eisecken herum, ganze Wolken des losen Firnes vor sich her aufwirbelnd. Rund herum war Alles verhüllt, und wir konnten selbst die nächste Umgebung nicht unterscheiden. Nur das vermochten wir zu sehen, daß wir wirklich auf der Schneide waren, denn unter uns, südlich, zeigte sich beim momentanen Reißen des Nebels kein höherer Punkt, vielmehr brach hier der Firn in furchtbar steilen Wänden gegen das Ahrnthal ab. Wir standen zehntausendvierhundertundachtzig Fuß über’m Meer.

Hier konnten wir nicht absteigen, sondern mußten den Grat entlang gehen und eine Stelle suchen, wo wir es wagen konnten, hinunterzuklettern. Ich überließ dies meinen Führern, denn ich war fest in meinen Plaid gehüllt und folgte zitternd und fast erstarrt von Kälte mit klopfendem Herzen und kurzem Odem den Fußspuren der Anderen. Endlich hatte sich eine kleine Eisrinne gefunden, wo der Abstieg möglich schien, obgleich Hannsl bestimmt versicherte, das sei nicht der rechte Uebergang und nicht das Loch, wo er damals, vor vielen Jahren, herübergekommen sei; doch da half kein Besinnen, wir mußten hinab, der Wind und die Kälte waren zu unerträglich.

Langsam, langsam, Schritt für Schritt berechnend, krochen wir die steile Firnhalde hinab, wanden uns durch ein paar Eiskämme durch und erreichten ein kleines Firnplateau, das stark gegen Osten geneigt und gegen Westen, mithin auch gegen den Wind, durch einen Eisabsturz gedeckt war. Dem Hannsl schien die ganze Geschichte nicht recht zu gefallen; er blieb stehen, schüttelte den Kopf und meinte, da hätten wir uns vergangen und seien zuletzt blos in eine Hochmulde gerathen, die weiter gegen Süden abermals zu einem neuen Eisgrate ansteige. Wenn das der Fall wäre, so hätten wir oben zu früh gejubelt, denn ein solcher Marsch liege außer dem Bereiche unserer ohnedem schon gesunkenen Kräfte. Doch – mit einem Male erzitterten die Nebel, ein günstiger Windstoß fuhr in die dichten Massen und der verhängnißvolle Schleier riß über uns. Mit bebenden Lippen und hochklopfenden Herzen warteten wir, ob nicht auch unter uns der Nebel reiße, um einen Blick in die Tiefe werfen zu können, doch das sollte uns noch nicht vergönnt sein. Die Nebellücke schloß sich neuerdings, und wir waren so klug wie zuvor. Doch hatten wir beim Brechen des Nebels ein kleines Stück blauen Himmels entdeckt, das tröstete uns, und gerne wollten wir noch unsere letzten Kräfte anspornen, wenn nur Wind und Schneegestöber, unsere ärgsten Feinde, aufhörten.

Wir beschlossen daher, an einer etwas geschützten Stelle unter einem überhängenden Eisblocke ein wenig zu ruhen und zu warten, bis uns der Ausblick in die Tiefe gestattet würde. Der letzte Rest unseres Weines wurde herumgereicht, Fleisch und Cigarren neuerdings vertheilt, und so unsere Kraft wieder ein wenig gehoben. Das Schneegestöber hatte aufgehört, nur der Wind schien sein Toben noch nicht aufgeben zu wollen. Es war zwei Uhr Nachmittags; das Thermometer stand noch immer unter Null. Doch unsere frühere Hoffnung hatte uns nicht getäuscht. Heller und heller wurden die Nebel, der Wind hatte umgeschlagen und trieb nun in wilder Hast die dichten Schatten westwärts. Schon zeigten sich einzelne Stücke blauen Himmels, immer größer und größer wurden die Nebellücken und mit einem Male zerfloß der düstere Mantel. Klar und rein spannte sich über uns das blaue Himmelsgewölbe, und warm drangen die heiteren Strahlen der Nachmittagssonne in unsern erstarrten Körper. Wir waren aufgesprungen; neue Lebenslust und Muth durchbebte mein inneres. Jetzt war die Gefahr vorüber und wir gerettet. Tief, tief unten, von uns noch durch Eis und Felsabstürze getrennt, sah ich im schönsten Wiesen- und Wälderschmucke das liebliche Ahrnthal und weiter gegen Westen in blauer Ferne die Berge Pusterthals. O wie drang da der Blick so wonnerfüllt hinab zu den befreundeten Stätten, zu den Wohnungen der Menschen, von denen wir bereits auf immer Abschied genommen!

Nun galt es kein Zaudern; vorwärts mit neugestähltem Muthe und verjüngter Kraft ging es die steilen, vielfach zerrissenen Eis- und Felsenlagen hinunter; an einzelnen Stellen mußten Fußstapfen gehauen werden. Hannsl, dem jetzt das Terrain auch bekannter vorkam, drang ziemlich sicher vor. Noch hatten wir eine steile Eisrinne vor uns; da hinab mußten wir, denn rechts und links starrte das Eis in blauen Wänden. Ich wurde zuerst am Seile hinuntergelassen, dann der erste und zweite Führer, Hannsl war zurückgeblieben. Erst als wir drei bereits unten waren, entstand die Frage, wie denn Hannsl herabkommen könnte. Doch war er schnell gefaßt. Er hieß uns unten einen Halbkreis bilden, um ihn nötigenfalls aufzufangen, dann hieb er mit der Hacke um einen vortretenden Eisblock eine Art Rinne aus, legte in dieselbe den Strick, faßte denselben an beiden Enden und ließ sich so hinunter. Die Wand maß ihre dreißig bis vierzig Fuß Höhe. So waren wir denn Alle wieder glücklich vereint, und stiegen nun über die letzten Eistrümmer und Moränen hinab. In dreiviertel Stunden hatten wir festen Boden erreicht. Kein Mensch kann das Gefühl beschreiben, als wir wieder auf bewohnter Erde anlangten. Doppelt und dreifach dankte ich dem Himmel für unsre Rettung.

Mein Plan, den Uebergang über den Schwarzensteingletscher zu forciren, war gelungen, aber mit welchen Opfern! Meine Absicht, Messungen und Forschungen auf dem Eise vorzunehmen, war total vereitelt worden. Stets mit Sturm, Wind und Nebel und den Schwierigkeiten eines feindlichen Terrains kämpfend, zweimal in Todesgefahr, erschöpft an Geist und Körper saß ich da, ohne das erreicht zu haben, was ich erreichen wollte.

Ohne weitere Schwierigkeiten kam ich Abends ein Viertel auf neun Uhr glücklich in St. Johann im Ahrnthale an. Trotz der Dürftigkeit des dortigen Gasthauses wich ich keinen Schritt weiter; ich war todtmüde und so erschöpft, daß ich kaum noch eine Suppe zu mir nehmen konnte. Einen ganzen Monat lang spürte ich die Folgen dieser übermenschlichen Anstrengungen in allen Gliedern. Die Erinnerung an die bestandenen Gefahren wird mir aber zeitlebens bleiben.



  1. Unter diesem Titel wird die Gartenlaube von sachkundigen Händen eine Reihe trefflicher Schilderungen und Abbildungen veröffentlichen, die zunächst den Zweck haben, Hinweisungen für Sommerreisen und Touristenausflüge zu ertheilen, wobei namentlich noch minder bekannte Zielpunkte in’s Auge gefaßt werden sollen. Die Redaction. 
  2. Vergl. Nr. 17, 1869, S. 267 f.