Aus der Wandermappe der Gartenlaube/10
Im Atelier des großen Landschaftsmalers Hummel zu Weimar stand ich in Betrachtung eines prachtvollen Alpensees, den sein Pinsel auf die Leinwand gezaubert hatte. Das glänzende Grün der stillen Wasserfläche und ringsum die seltsam geformten, wunderbar zerrissenen kahlen Gebirge über der üppigen, frischen Vegetation der See-Ufer erschienen so eigenartig, so fremd und doch wieder so treu und wahr, daß ich, von dem Anblicke gefesselt, mich schwer wieder losreißen konnte. Es war, wie der Meister mir verrieth, der Raibler See und seine Dolomiten in Kärnthen, und mit diesem einen Worte war es entschieden, daß der lang geplante Ausflug nach dem schönen Oesterreich, zur Donau, nach Pest, Wien, Steiermark, und Kärnthen nunmehr zur Ausführung gebracht wurde. Der gute Meister Hummel selbst gab uns die nützlichsten Reisewinke auf den Weg, und wer anders könnte über die malerisch-schönsten Punkte, über die heimlich-stillen Plätzchen, über Land und Leute und die erquicklichsten Quellen des edeln Rebensaftes so sichere Auskunft und Reisewinke geben, wie ein Landschaftsmaler?
Alles traf später ein und wurde mit vollen Zügen von uns genossen.
Wie in Pest und Ofen hatten wir in Wien und Umgegend uns sowohl der Natur und Kunst wie auch des frischen, frohen Volkslebens erfreut. Mit besonderem Behagen hatten wir in Graz und dessen romantischer Umgebung verweilt. Jetzt aber zog es uns, auf raschem Dampfroß an steilen Alpenabhängen hin, an Schlössern, Klosterruinen und Capellen vorüber durch das schöne Drauthal und Miesthal nach den Dolomit-Gebirgen zu eilen. Bald winkten uns von fern jene bekannten himmelanstrebenden, grauweißen, kahlen und schroffen Gebirgsmassen mit den zerrissenen Zinnen, Zacken und Spitzen. Ihren magnesiahaltigen Kalkstein hatte einst, in den Jahren 1789 und 1790, der berühmte Geolog und Mineralog, dessen Namen sie tragen, der Malteser Dolomieu, auf seinen Fußwanderungen durch Italien, Tirol und Graubündten, den Hammer in der Hand, den Sack auf dem Rücken, durchforscht und untersucht. In Villach endlich standen wir ihnen gegenüber. Es war die Gebirgskette, welche das Drauthal vom Thale der Gail scheidet. Als wir von dem alten Ritterhause aus, welches jetzt das Gasthaus zur Post bildet, durch die hübsche, reinliche Bergstadt, die am Fuße des Dobracz sich ausbreitet, an der Statue vorbei, welche dem talentvollen Bildhauer Gasser gesetzt worden, hinauf nach St. Martin gewandert, waren wir von dem mächtigen Alpenpanorama, das sich dort den Blicken bietet, wahrhaft überwältigt. Ringsum diese Gebirgskolosse, zum Theil in den frappantesten, phantastischen, grotesken Gestalten, und der Beschauer wie im Mittelpunkte einer Riesenburg.
Von Villach führt die durch kühn überwundene technische Schwierigkeiten äußerst interessante Villach-Laibacher Bahn an dem höchst malerisch gelegenen Arnoldstein mit seinem ehemaligen Benedictinerkloster vorüber; jetzt erschallt der grelle Pfiff der Locomotive; wir halten hoch und frei im Gebirge vor dem Bahnhofe von Tarvis. Wir steigen in den Ort hinunter und wandern hinein in das schöne Thal nach Raibl zu. Wie lustig rauscht der Gebirgsfluß uns zur Seite, wie köstlich duften die rothen Alpenveilchen im dunkeln Grün am Wege, wie frisch weht uns die reine Alpenluft an! Rasch ist ein duftiger Veilchenstrauß den Damen gepflückt, und scherzend und singend ziehen wir weiter.
Mit jedem Schritte wird das Thal romantischer und schöner. Der Fluß bricht sich durch Steinblöcke, welche sein Bett versperren, wildbrausend und schäumend Bahn. Weidende Kühe mit ihrem harmonischen Geläute beleben die Gegend, und kühn empor, in mächtigen Formen, ragen die Alpen. Plötzlich bietet sich dem Auge der gewaltigste Anblick dar: der schroffe, riesige Mangart (über achttausend Fuß hoch), mit seinen fünf zerrissenen Spitzen, zu seinen Füßen das Oertchen Raibl. Nach kurzer Rast wandern wir zum See und stehen nach kaum einer halben Stunde an seinem Ufer. Der kleine Raiblersee kann sich zwar nicht mit seinen größeren und berühmten, schweizerischen und italienischen Brüdern messen, auch nicht mit dem Königsee, der Perle aller deutschen Seen. Es ist nur ein kleines, schmales Wasserbecken, hoch in den Alpen gelegen, aber über diesem kleinen See und seiner Umgebung ruht ein poetischer Hauch, wie ich ihn bei fast keinem andern See, auch nicht am Königsee, nicht einmal am wonnigen Comersee gleich schön und ansprechend gefunden habe. Aehnlich nur dem reizenden Gosausee im Salzkammergute, liegt, von saftigem Grün umrahmt, der Raiblersee hellgrün und still in der kolossalen Umgebung der Alpen. Wie beim Gosausee die Eis- und Schneefelder des Dachsteins und die zahlreichen hohen Zacken der Donnerkogeln, so bildet hier die riesige schroffe Wand des Mangart mit dem vielgespaltenen Gipfel den großartigen Hintergrund, und darüber ruht ein Friede, eine heimliche Stille, als ob die Natur schlafe. Wer jemals dieses Bild gesehen, es wird ihm nie wieder aus seinem Gedächtnisse schwinden können, wird ihm immer eine wohlthuende, beglückende Erinnerung bleiben. Der Meister Hummel hat der schönen Natur hier die schönsten Züge abgelauscht, um sie in seinem großen Landschaftsbilde in meisterhafter Gruppirung und Durchführung wiederzugeben. Als Gruß und Dank sandten wir ihm vom Raiblersee ein Sträußchen Edelweiß. Aber hatte er in seinen Reisewinken nicht auch von einem Ruhetage im reizenden Lienz, hatte er nicht auch von der Großartigkeit des Ampezzothales gesprochen und das Wörtchen „großartig“ in den gesandten Notizen sogar doppelt unterstrichen? Zurück denn nach Villach, auf nach Lienz, auf nach Ampezzo!
Nicht mehr der langsame, ermüdende Post- oder Stellwagen, sondern ein rasch dahinfliegender Zug der neuen Alpenbahn führt uns von Villach durch das obere Drauthal nach Tirols östlicher Grenzstadt Lienz. Die Dolomitgebirge, welche sich bis sechstausend, ja über achttausend Fuß hoch über die freundliche Stadt majestätisch erheben, vor allem der Spitzkofl [737] und der Rauhkofl mit ihren wild und phantastisch zerrissenen Zacken, ihren scharfen Kanten und dem aus ihren Rissen und Schluchten noch im Hochsommer blitzenden Schnee, machen die Lage der Stadt zu einer überaus reizenden; doppelt schön wird sie durch das am Einflusse der Isl in die Drau sich romantisch erhebende Schloß Bruck. Und über all den landschaftlichen Reizen lachte der reinste, tiefblaue Himmel. Schuß auf Schuß erkrachte und hallte von den Bergwänden in vielfachem Echo wieder. Ueber die Brücke zog aus der Kirche, den Geistlichen an der Spitze, ein Zug von Jung und Alt. Ein Maidli in Tiroler Tracht, mit spitzem Hute, ähnlich den Zillerthalern, gab uns die Auskunft, daß es „Kaisers Geburtstag“ war. Interessanter aber als die hübsche Pfarrkirche, war uns eine andere, dem Mittelalter entstammende Kirche, die mit ihren uralten Grabsteinen und anderen Denkmalen an den Wänden selbst einem historischen Denkmale der Stadt Lienz gleicht. Die Männer und Frauen, welche hier ruhen, und deren Namen uns die steinernen Grabmale melden, sie waren es wohl, welche einst, in längstvergangenen Tagen, die Hallen des Schlosses Bruck belebten.
Damals, im dreizehnten Jahrhunderte, der kampf-, minne- und trinklustigen Ritterzeit des Mittelalters, wohnten dort die Grafen Görz; später wurde aus dem Grafenschloß ein Damenstift; jetzt ist es – eine Brauerei. Aber Eines ist durch all die Jahrhunderte sich gleich geblieben: die prächtige Aussicht in das romantische Thal. Mag man oben im Saale an eines der Fenster treten oder unten im Schloßgärtchen sich niederlassen – immer hat man das liebliche Thal vor sich, links drüben am Berge ein schönes Kirchlein und einen silbern blitzenden, herabrauschenden Waldbach, rechts die riesigen schroffen Dolomiten mit ihren phantastischen Formen, und dazwischen im Thalgrunde die freundliche Grenzstadt Tirols.
Von Lienz wendet man sich in das Pusterthal, das sofort mit seinem rauschenden Flusse, seinen grotesken Felsenpartien, seinen malerisch gelegenen Capellen eine Fülle landschaftlicher Reize bietet. Von jeher war dieses Thal die Hauptstraße von Kärnthen nach Tirol, und von ihm aus führte südlich durch das Ampezzothal die Straße nach Venedig. Nachdem die Brennerbahn im August 1867 eröffnet worden, ist die Communication und der Handel Tirols mit Italien natürlich ihren Geleisen gefolgt. Aber hat sich auch sonst im Ampezzothale der rege Handelsverkehr, der lebhafte Gütertransport gemindert, so führt andererseits die neue von Villach nach Franzensfeste am Brenner sich erstreckende Alpenbahn dem Ampezzothale von Tag zu Tag mehr Freunde großartiger Alpennatur zu.
Wir genießen einen prächtigen Rückblick auf die Lienzer Dolomiten, indem wir an schönen Ruinen und Capellen, an schroffen zum Theile schneebedeckten Alpen durch das Pusterthal dahin fliegen, und halten nach kaum zwei Stunden, in einer Höhe von dreittausendsechshundert Fuß, vor dem Bahnhofe Toblach. Hier ist die Wasserscheide im Pusterthale; das hohe Kreuz an der Straße bezeichnet sie; nach Osten fließt die Drau der Donau und dem schwarzen Meere, nach Westen die Rienz dem Eisack und dem adriatischen Meere zu. Hier auf dem Toblacher Felde grüßt uns schon der Eingang des Ampezzothales, welches hier von Süden her in das Pusterthal mündet, wie ein gewaltiges Riesenthor. Wir verlassen die Bahn. Welch Getümmel von Fremden in und vor dem Bahnhofe! Kutscher auf Kutscher bieten ihre Dienste an; ein buntbebänderter Italiener fordert für seinen Wagen nach Cortina aufdringlich fünfundzwanzig Gulden, um sofort auf fünfzehn zu fallen etc., doch wir ziehen es vor, uns dem biedern Posthalter anzuvertrauen, und in wenigen Minuten ladet ein schmucker deutscher „Bua“ zum Einsteigen ein.
Schon der erste Eindruck des Ampezzo-Thales ist in der That ein großartiger. Die Straße tritt in das sogenannte Höhlensteiner oder Höllensteiner Thal, eine romantische Schlucht, welche die Rienz durchströmt, und führt an einem kleinen finstern See, dem Toblacher See, vorüber. Mit jedem Schritte vorwärts verengt sich das Thal, düster und schaurig; Straße und Bach nehmen die ganze Thalsohle ein und finden kaum neben einander Platz. Die Felsen und Gebirgsmassen werden immer mächtiger, wilder und höher, und hoch über sie hinweg ragen in schroffen, grotesken Formen die drei Zinken (Zinnen) in das Blau des Himmels. Kaum haben wir das Post- und Gasthaus Landro oder Höhlenstein passirt, als schon ein neues gewaltiges Bild Auge und Sinn fesselt. Während nämlich die Rienz hier ihren Lauf wohl eine halbe Stunde unterirdisch fortsetzt und sich den Blicken entzieht, zeigt sich im Thale der kleine hellgrüne Dürrensee (der gewöhnlich im Herbst eintrocknet und erst im Frühling sich wieder füllt), rings um ihn her dichte, dunkle Tannenwaldung und darüber als kolossaler Hintergrund der riesige, über zehntausend Fuß sich erhebende Monte Cristallo mit weiten blitzenden Schneefeldern und Eismassen.
Hier, am Eingange des Val Popena, nimmt uns das romantisch schön gelegene und behaglich eingerichtete Gasthaus Schluderhach („Monte Cristallo“) mit freundlicher Bewirthung auf. Mit herzlicher Biederkeit empfangen uns Herr Ploner, der alte Jäger, welcher das Gasthaus erbaut und neuerdings erweitert hat, und seine wackere Ehehälfte, und bald liefert, bei frischem, goldhellem Grazer Naß, die treffliche Küche den schlagenden Beweis, daß der weitverbreitete, auch von Bädeker willig anerkannte Ruhm von der ausgezeichneten Kochkunst unserer freundlichen Wirthin ein vollkommen begründeter ist. Diese musterhafte Verpflegung im Verein mit der frischen, reinen Alpenluft, der unvergleichlich schönen Lage des Hauses und der Mannigfaltigkeit der schönsten Ausflüge ist es, was das gemüthliche Gasthaus zum Standquartier zahlreicher Touristen gemacht hat. Laut der schätzenswerthen Mittheilungen von Kurtz (Führer durch die Dolomit-Gruppen, ein empfehlenswertes Buch aus dem Verlag des alten Alpen-Amthor in Gera) liegt Schluderbach auf einer Höhe von gegen fünfthalbtausend Fuß über dem Meere, also über tausend Fuß höher als der Brocken und nur etwa vierhundert Fuß niedriger als die Schneekoppe des Riesengebirgs; selbst in den Hundstagen steigt hier die Mittagshitze im Schatten sehr selten über achtzehn Grad. Der Monte Cristallo, der vielzackige Cristallino, die hohe trotzige Porphyrmasse der Croda Rossa und der Monte Piano bilden die Umgebung, und wohin man den Schritt wendet, überall bietet sich ein Reichthum der mannigfaltigsten und schönsten Gebirgspartien, wie man sie anderwärts äußerst selten findet überall volle, echte, großartige Alpennatur, und immer ist der bergkundige und vielerfahrene Ploner mit Rath und That zur Hand. Dabei die reine, erquickende Gebirgsluft, dabei endlich die reiche Alpenflora; an einzelnen Stellen bedarf es kaum eines halbstündigen Steigens, um den Standort vom Edelweiß zu erreichen. O welch’ ein Jubel, als das Töchterlein den ersten silberweiß-wolligen Stern von Edelweiß selbst fand und pflückte und im Triumph den Hut des Bruders schmückte!
Schluderbach ist zugleich die Sprachgrenze. Südlich von ihm herrscht italiener Leben und italiener Sprache. Zwischen Felsen und Bergwänden und mit dem Blick auf noch höhere, herüberragende Dolomitberge steigt allmählich die Straße. Bald haben wir Ospetale – einst Herberge für arme Pilger, jetzt Gasthaus – erreicht, bald auch den schauerlichen Paß, in welchem ehemals die Feste Peutelstein (Castello di Poitestagno), ursprünglich von den Venetianern erbaut, später das Thal und seinen Verkehr gegen Venedig schützte. Im Kriege vom Jahre 1859 ist sie in einen Steinhaufen verwandelt worden.
Wir sind auf der Höhe angelangt, und abwärts geht es nun, an Abgründen hin, in das liebliche eigentlich sogenannte Ampezzanerthal, welches die jugendlich muntere Alpentochter, die Boita, durchrauscht. Da tritt rechts der kolossale Dolomit Monte Tofana, dessen drei Gipfel, mit Schnee bedeckt, über zehntausend Fuß in das Blau des Himmels hinaufragen, vor uns der fast gleich hohe Pelmo und der Mezzodi, westlich der gewaltige Antelao (von dessen Gipfel aus bei heiterem Himmel Venedig sichtbar sein soll) und die Sorapiß, die höchste Spitze der Croda Malcora, hervor. Im Zickzack geht es schnell, aber sicher den Berg hinunter; wir sind in Cortina d’Ampezzo, das von 770–1576 zur Republik Venedig gehörte, später an Oesterreich abgetreten wurde und jetzt die letzte Station in Tirol bildet.
Im Hôtel „Aquila Nera“ nehmen wir trotz der hier hausenden englischen Colonie Quartier und geben in behaglichem Schlendern durch die Straßen und die Umgebung uns den Eindrücken hin, welche Cortina, seine Bewohner und seine Gebirgslage auf uns machen. Hier war es, wo eine uralte, sittenstrenge Gemeindeverfassung jeder Braut gebot, nur in Begleitung einer alten Frau (genannt brontola, das ist: Brummbärin) auszugehen, und jeden [738] einem Mädchen geraubten Kuß mit zehn Gulden bestrafte. Die Stattlichkeit der schmucken Häuser, das behäbige Aussehen der Bewohner, die trefflichen gemeinnützigen Einrichtungen (Elementarschulen, Zeichen-, Musik- und Industrieschule) bekunden sofort, daß wir uns im Hauptorte des Thales, in dem wohlhabenden Mittelpunkte lebhaften Handels befinden – soll doch diese Gemeinde die reichste in ganz Tirol sein – aber eben jene Häuser mit ihrer südlichen Bauart, der freistehende, dem Thurme von Sanct Marco in Venedig nachgebildete Glockenthurm, die Gestalt, die Gesichtszüge, die Tracht und die italienische Sprache der Einwohner erinnern zugleich daran, daß wir in der südlichen Grenzstadt Tirols weilen und schon unweit des nahen Dorfes Acquabuona die italienische Grenze sich hinzieht. Um Rundschau zu halten, wandeln wir nach dem prächtigen Aussichtspunkte Monte Crepa, dem „Ampezzatter Belvedere“, und steigen, zurückgekehrt, in dem Glockenturme die zweihundertfünfunddreißig Stufen hinauf. Wir stehen dort wie hier von dem aller Beschreibung spottenden, zauberhaften Anblick gefesselt: vor uns das saubere, wohlhäbige Cortina mit seinen südlichflachen Dachungen, feinen Holzgalerien der Häuser, seinem regen Straßenleben, in saftiggrünem Thalgrunde, an der rauschenden, blinkenden Boika, ringsum im Kreise aber in harmonischer Gruppirung die Gebirgsriesen, die weißen Wände, die scharfkantigen in den wunderlichsten Formen himmelanstarrenden Dolomiten und sie alle aufgethürmt wie ein kolossaler Wall! Tausende auf Tausende von Jahren sind darüber hingezogen, und der gigantische Wall steht noch immer fest und unerschüttert. Zwar hat auch er der allmächtigen Zeit seinen Tribut zu zollen der magnesiahaltige Kalkstein, aus welchem diese Dolomiten bestehen, unterliegt unter dem Einflusse von Luft und Wasser, von Regen und Frost der allmählichen Verwitterung und Zerbröckelung. Abgelöste Gebirgsmassen sind von fetten Felsenriesen, insbesondere dem Monte Antelao, in die Tiefe gestürzt und haben schon ganze Dörfer begraben, ja selbst Cortina bedroht. Aber was sind dergleichen einzelne Ablösungen gegen die Gesammtheit dieser Kolosse! Tausende von Jahren werden die Wände der Riesenburg um Cortina noch in derselben hehren Majestät sehen, wie wir sie sahen von der Galerie des Campanile aus.
An einem schönen frischen Morgen fuhren wir nach Toblach zurück. Als wir langsam die Paßhöhe Peutelstein zu gewinnen suchten, kam auch für unsern Rosselenker endlich die ersehnte Gelegenheit, eine wißbegierige Frage an uns zu thun. Er wollte gern Gewißheit darüber haben, ob wir Protestanten denn auch getauft seien – hatten ihn doch die Pfaffen gelehrt, daß alle Ketzer, den Heiden gleich, ohne Taufe aufwüchsen, und uns, die wir sein Wohlgefallen erregt hatten, mochte er doch dergleichen nicht zutrauen. Wie freute sich der Gute, als er von uns Ketzern erfuhr, daß seine Pfaffen ihn falsch berichtet hatten!
In Schluderbach, dem gemüthlichen Gasthause, wurde noch einmal eingesprochen. Mit wahrer Herzlichkeit schüttelte uns der biedere alte Ploner die Hand und schenkte uns zum Abschiede seltene Alpenblumen. Möge ihm, der ein warmer Freund der „Gartenlaube“, dieses Blatt unsern Erinnerungsgruß bringen!
Durch das prächtige Pusterthal flogen wir auf Flügeln des Dampfes über Franzensfeste nach Bozen. Schon am Abende des nächsten Tages standen wir dort auf der Brücke und begrüßten von Neuem eine alte Freundin, die den östlichen Hintergrund des reizenden Thales bildende lange Gebirgskette, und sie verstand unsere Verehrung und erwiderte unsern Gruß – in prachtvollstem Purpurroth erglühten die hochaufragenden Dolomiten.