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Aus deutschen Erziehungsanstalten

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Textdaten
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Autor: Eugène Peschier
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Titel: Aus deutschen Erziehungsanstalten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 527
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[527] Aus deutschen Erziehungsanstalten. Am Pfingstfest, dem Fest der Freude, brach der Tod in Baden-Baden eine blühende Rose. Ein junges Mädchen, die Tochter eines Grafen, starb an der Auszehrung. Nur kurze Zeit vor dem Tode des Mädchens waren die Eltern nach der vornehmen Erziehungsanstalt am Rhein geeilt, um das kranke Kind abzuholen. Die tückische Krankheit hatte lange an ihrem Opfer gezehrt. Wie konnten die Eltern ihren Liebling so lange in fremden Händen lassen, statt ihn zu Hause zu pflegen? Die Vorsteherin hatte den Eltern die Krankheit verheimlicht, das Mädchen verhindert, über sein Leiden Zu klagen, die daraus bezüglichen Briefe unterschlagen oder so lange zurückgewiesen, bis der Bericht des Zöglings den wünschen der Vorsteherin entsprach.

Es war ein katholisches Institut, welches mit einem Nonnenkloster in Verbindung stand. Wollte man etwa den eigentlichen Zustand der Hinsiechenden zu höheren Zwecken mißbrauchen? Jene unnennbare Sehnsucht, welche bei den Schwindsüchtigen entsteht, wo der Seele Flügel wachsen, so daß sie nur von Reisen nach fernen Ländern träumt, wie der Vogel, der schlafend im Käfig die Flügel regt, als flöge er über’s blaue Meer nach den Palmen seiner Heimath, jene unsägliche Sehnsucht, sollte sie dazu dienen, ein schwärmerisches Verlangen nach inniger Gemeinschaft mit dem „himmlischen Bräutigam", nach dem verklärten Leben der Entsagung, nach dem „ewigen Schleier“ zu erwecken, und hatte man erst erschreckt durch die allzu raschen Fortschritte des Uebels, aus Furcht vor einem den materiellen Interessen der Anstalt schädlichen Todesfall sich der Schwerkranken zu entledigen gesucht und plötzlich die Eltern benachrichtigt? Diese Frage mag Jeder beantworten nach seinen Erfahrungen. Mir ist es zunächst um Eines zu thun: den Betrug zu constatiren, welcher der ganzen Sache zu Grunde lag. Dieser Betrug, diese gewissenlose Fälschung herrscht in vielen deutschen Erziehungsanstalten, besonders für Mädchen, und zwar in protestantischen Instituten wie in katholischen.

Ob es in Frankreich und England geschieht, weiß ich nicht; in der französischen Schweiz würde ein solcher Despotismus nicht geduldet. In vielen Mädcheninstituten Deutschlands also gehen sämmtliche Briefe der Schülerinnen durch die Hände der Vorsteherin, werden von dieser selbst oder einer mit der Spionage betrauten Lehrerin gelesen; gefallen sie nicht, so müssen sie so lange umgeschrieben werden, bis man sie in Gnaden annimmt und für würdig hält, den Eltern von den Fortschritten des Kindes Zeugniß zu geben. Es giebt sogar Anstalten, wo die Briefe der Eltern und Geschwister geöffnet werden in einem mir sehr bekannten, eines großen Rufes sich erfreuenden Institute gingen solche Briefe oft spurlos verloren und gelangten nie an ihr eigentliches Ziel.

Es scheint fast überflüssig, auf alle verderblichen Folgen dieses Systems hinzuweisen, und doch ist es nöthig, denn da sich so viele Eltern diesen Mißbrauch gefallen lasten, Zeigen sie damit, daß sie sich gar keine Rechenschaft von dessen Wirkungen geben. Diese Folgen berühren aber sowohl die geistige als die sittliche Entwickelung der Zöglinge, mitunter haben sie auch nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit.

Ich frage Jedermann auf sein Gewissen, ob er einen Brief, einen Aufsatz ordentlich schreiben kann, wenn Jemand hinter ihm sieht und ihm über die Achsel auf’s Papier sieht? Es ist dies ein intellektueller Zwang, welcher die Schwingen der Phantasie lähmt, dem Verstande seine Freiheit und damit seine Ruhe und Klarheit raubt. Man kann nicht so schreiben, wie man schreiben würde. Das beweist, daß der Belauschte nicht frei ist in seinen geistigen Bewegungen.

In Erziehungsanstalten, besonders in solchen, deren Programm so schöne Phrasen enthält, wie „Anleitung zu selbstständigem Denken“, „freie Entwicklung der geistigen Anlagen" etc., werden solche Versprechungen mit Füßen getreten, indem man gerade da, wo es sich nicht um Vearbeitung eines überlieferten Stoffes, um Beschreibung des Frühlings etc. handelt, sondern um frische unmittelbare Wiedergabe persönlicher Eindrücke, indem man gerade da, sag’ ich, dem Hirn eine eiserne Schraube ansetzt.

Solche Briefe werben freilich keine Schreibfehler enthalten, sind vielleicht ganz correct stilisirt, allein ich für meinen Theil würde lieber ein paar Schreibfehler mit in Kauf nehmen, welche Frau Ottilie Wildermuth so hübsch „die blauen Kornblumen im Felde“ genannt hat, ich möchte lieber einen incorrecten, alle möglichen Phantasiesprünge machenden, nicht mit der Logik des Verstandes, sondern mit der des Herzens geschriebenen Brief, von dem ich sagen könnte. le style c’est l’enfant, d. h. der Brief ist der getreue Abdruck des jeweiligen Geisteszustandes und Charakters meines Kindes, als einen steifen, am Sonntag zwischen der Predigt und dem Spaziergang abgefaßten controlirten und corrigirten Aufsatz des Zöglings dieser oder jener berühmten Erziehungsanstalt, welcher unter Anderm und ganz zufällig auch mein Kind ist. Dadurch wird alle Individualität verwischt, das Eigenleben verkümmert; an die Stelle des Menschen tritt eine Nummer, wie es buchstäblich in einigen dieser Anstalten zu geschehen pflegt, gerade als wären es Casernen ober Spitäler.

Noch weit schädlicher sind die moralischen Folgen. Man erzieht die Kinder zur Heuchelei, zur Lüge, man erstickt das kindliche Vertrauen. Das Kind darf und wird nie etwas sagen, was der Vorsteherin nur irgendwie unangenehm ist. Es leidet an Heimweh. Eine einzige Klage, ein einziges Wort der Sehnsucht würde das Kindesherz erleichtern, ihm Luft machen. Nein, es muß es unterdrücken aus Furcht, die Vorsteherin zu beleidigen, da diese es als ein Zeichen von Unzufriedenheit ansehen würde. Das Kind leidet Hunger. In wie vielen dieser Anstalten werden die Mädchen gerade im Alter, wo sie einer kräftigen Nahrung am besten bedürfen, mit abgesottenem Rindfleisch, Kartoffeln und Mehlspeisen gestopft, aber nicht genährt! Wird das Kind klagen? Beileibe nicht. Das wäre ein Majestätsverbrechen.

Das Mädchen schließt sich an eine Freundin an, es möchte sich den Eltern, einer Schwester, einer früheren Freundin gegenüber aussprechen über diesen köstlichen Schatz, möchte die Freundin preisen, kurz das gewiß unschuldige und heilige Gefühl dieser Liebe aussprechen. O nein, es hütet sich davor, wie vor dem Feuer. In einer mir bekannten Anstalt werden die Mädchen, sobald sie sich enger an einander anschließen, getrennt und zu denen gesellt, die sie am wenigsten leiden mögen. Dagegen werden die Mädchen sich bei der Vorsteherin ober der Lehrerin einzuschmeicheln suchen, werden deren Schwächen benützen, zum Beispiel die Eifersucht auf andere Lehrerinnen, über die man nun loszieht. So wird die Aufrichtigkeit unterdrückt und in schlimmen Fällen in Lüge, in fade Schmeichelei verwandelt; das innige Band, welches die Kinder mit den Eltern verknüpft, wird gelockert oder zerrissen. Und der Grund, der Vorwand dieses Systems? Eine Vorsteherin antwortete mir einst: „Wir würden die Hälfte unserer Zöglinge verlieren, wenn wir sie schreiben ließen, was sie wollen. Die meisten gehen nur mit Widerwillen von Haus weg in die Pensionen und fänden tausenderlei Lügen über die Anstalt, um nur wieder loszukommen.“ Gesetzt auch, es wäre so schlimm: gut, so soll die Hälfte wieder nach Hause gehen. Besser werden solche Kinder, welche schon die Neigung zur Lüge mitbringen, durch das gerügte System nicht. Gerade diese werden am meisten heucheln und, wie ich von einer Schülerin nach ihrem Austritt erfuhr, am schnellsten Mittel finden, sich für den Zwang zu entschädigen und heimlich zu schreiben.

Berechtigt ein materieller Verlust eine Vorsteherin, ihre heilige Aufgabe zu profaniren und mit dem auf Prospecten stereotyp gewordenen Versprechen, die Eltern des Kindes zu ersetzen, so frivole Komödie zu spielen? Wenn Eltern ihre Kinder einer Anstalt anvertrauen, so setzt dies Vertrauen zu dem Leiter der Anstalt, zu dem dort herrschenden Geiste voraus. Haben sie dies Vertrauen nicht bloß auf flüchtige Empfehlung von Bekannten ober auf Reclamen hin, sondern durch gewissenhafte Erkundigung und Erwägung des Spruches „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, gewonnen, so werben sie auch die Klagen der Kinder nicht auf’s Gerathewohl für baare Münze halten, sondern erst die Beschwerden untersuchen, ehe sie ihnen Folge geben.[1]

Ein gewissenhafter Vater, eine Mutter, welche ihr Kind lieb hat, wird nie zugeben daß man ihr Kind um das Beste betrügt, was es hat, um seine Einfalt, seine Aufrichtigkeit, seine Kindlichkeit, sein Vertrauen, vielleicht gar um seine Liebe. Dieser Raub geschieht aber nach meiner innigsten Ueberzeugung, wenn man den Vorstehern erlaubt, die Briefe der Kinder, das süße Geschwätz, die naive Plauderei, die volle Hingabe, das Sichergehenlassen des Gemüthes, den Ruf der Sehnsucht, die schüchtern leise Ahnung, die Logik des Herzens, die ungeschminkte Freundschaft, die jugendliche Schwärmerei für die ewigen Ideale des Lebens zu vernichten und dagegen ein einseitiges, uniformirtes, in der Geistercaserne dressirtes Denken, kindisches Prahlen mit Vielwisserei, abgezirkelte ängstliche Darstellung des äußerlich Erlebten zu erzeugen und so das von den Eltern ersehnte, oft theuer erkaufte, auf dem Prospectus und in jedem Geschäftsbriefe heilig versprochene „Erziehungsresultat“ gründlich zu vereiteln. Das geschieht, wenn die Briefe der Zöglinge geöffnet, gelesen, corrigirt und so gefälscht werden.

Eugène Peschier.



  1. Letzteres dürfte allerdings sehr zu empfehlen sein. Kinder von 12, 14 und 16 Jahren, die noch erzogen werden sollen, sind in ihren Urtheilen über Lehrer und Lehranstalten jedenfalls so unreif und noch so vielen Selbsttäuschungen unterworfen, daß man ihnen niemals unbedingt Glauben schenken darf, auch wenn man das Kind als noch so trefflich geartet kennt.
    D. Red.