Blind und doch sehend
Hat so ein Jünger Aeskulap’s seine Medicin „durchaus studirt mit heißem Bemühen“ und zwar nicht blos als eine „melkende Kuh, die ihn mit Milch und Butter versorgt,“ sondern aus warmer Begeisterung für den ärztlichen Beruf, und tritt er nun in das Leben hinaus – mit welchen hochherzigen Träumen begrüßt er den Ort, den er sich zum Wirkungskreis erkor! Wie sieht er sich im Geiste schon als rettender Engel walten in den Häusern der Preßhaften und Elenden! Und sein Busen schwillt höher als je von Begeisterung für seinen edlen Beruf. Aber nur zu oft ist dieses Busenschwellen an der Schwelle seines Wirkungskreises sein letztes Glück, und eine fürchterliche Wirklichkeit voll Sorge, fruchtloser Mühe und fehlgeschlagener Hoffnungen läßt ihn ferner zu keinem freudigen Aufathmen kommen.
So erging es dem jungen Doktor Rudolf Grimm, der vor etwa zehn Jahren aus der luftigen Kaiserstadt an der Donau, wo er nach bereits bestandenem Staatsexamen noch einen praktischen Cursus in den dortigen berühmten klinischen Anstalten gemacht hatte, heimkehrte in seine Vaterstadt, einen großen nordostdeutschen See- und Handelsplatz, um da seine Laufbahn als prakticirender Arzt zu beginnen. Im Bewußtsein seiner Tüchtigkeit fühlte er sich zu der Hoffnung berechtigt, bald eine Praxis zu gewinnen, die ihm wenigstens ein bescheidenes Auskommen gewährte. Ganz und gar an seine Wissenschaft hingegeben, war er der Welt fremd geblieben und wußte daher nicht, daß dem Arzte seine Tüchtigkeit allein noch nicht zu einer Praxis verhelfe, daß er dazu, namentlich in einer Großstadt, eben so sehr der Empfehlung als der äußern Repräsentation, oder doch einer besonderen Gunst der launenhaften Glücksgöttin bedürfe. Rudolf aber war arm und in seiner Vaterstadt unbekannt. Seine Aeltern, „dunkle Ehrenleute,“ waren längst todt, und seine einzige noch lebende Verwandte, seines Vaters Schwester, war zwar eine reiche, kinderlose Wittwe, aber gänzlich mit ihm entzweit, seit er wider ihren Willen von der Theologie sich der Medicin zugewendet hatte. Früher hatte sie den verwaisten Jüngling nothdürftig unterstützt, von jenem Wechsel an aber ihre Hand völlig von ihm abgezogen. Nur eine kleine Erbschaft, die ihm gerade zugefallen war, hatte es ihm möglich gemacht, seine Studien fortzusetzen; dieselbe war aber auch fast Null für Null dabei aufgegangen.
Daß in der Töpferstraße Nr. 8 ein neuer Doktor eingezogen, war zwar auf dem runden Messingtäfelchen zur Seite der Hausthür unter dem Nachtklingelzuge zu lesen, und das Intelligenzblatt verkündete es auch männiglich im Weichbilde der Stadt. Aber wer nahm Notiz davon? Hätte Rudolf sich nur auf etwas Charlatanerie verstanden, hätte er z. B. auf sein ehrliches Gesicht und seinen Titel sich eine zierliche Equipage geborgt und wäre damit durch die Straßen gerasselt, als hinge das Leben von fünfzig Kranken an seinem Erscheinen, so würde er nicht lange auf gute Kundschaft zu warten gebraucht haben. Aber er war ein so grundehrliches Blut, daß er selbst vor der unschuldigsten Anwendung des „mundus vult decipi“ zurückbebte. So kam es, daß er ein halbes Jahr nach seiner Niederlassung außer einigen Armen, deren Honorar ein vergelt’s Gott war, nicht einen Patienten hatte. Dabei hatte er nicht nur seine Kasse wie seinen Kredit erschöpft, sondern auch, um nur sein Leben zu fristen, ein Kleidungsstück nach dem andern versetzt, und zuletzt sogar seinen kostbaren Schatz, seine Instrumente, die ihm in Wien baare dreihundert Gulden gekostet, zum Leihjuden schaffen müssen, um seine Miethe bezahlen zu können.
Es war wenig Tage nach diesem für ihn so traurigen Akt, als er gegen Mittag hungrig vor seinem Koffer knieete, und nach etwas Versetzbarem suchte, damit er nicht eines seiner theuren Bücher zum Antiquar tragen müßte, um sich eine Mahlzeit zu erzeugen. Da fiel ihm ein alter Schlüssel in die Hand. Obgleich dies kein Gegenstand war, der ihm helfen konnte, so behielt er ihn doch lange in der Hand und betrachtete ihn. Es war der Schlüssel zu seinem Vaterhause, das sich im Besitz seiner Tante befand und wo er ein Ausgestoßener war. Er hatte sich ihn als Gymnasiast, da er noch bei der Tante gewohnt, machen lassen, weil sie das Haus Tag und Nacht verschlossen hielt. Voll herber Erinnerungen wog er ihn noch in seiner Hand, als die Thür aufgerissen wurde. Den Schlüssel in den Koffer werfend, sprang er auf, um in die ausgebreiteten Arme eines jungen Mannes zu fliegen, dessen ganze äußere Erscheinung einen Künstler verrieth.
„Adolf, Du hier?“ rief der Doktor.
„Freilich, mein Junge“ – war die Antwort- „freilich bin ich auch einmal in’s heimathliche Nest geflogen. Donna Roma wollte mich lange nicht aus dem Garn lassen, aber endlich siegte Mutter Germania mit Hülfe einer blauäugigen Maid, die von der berliner Schloßfreiheit aus das Zaubernetz der Tiber-Circe so lange bearbeitete, bis keine Masche daran mehr ganz war. Seit zwei Monaten hab’ ich mich bei Sauerkraut und Pellkartoffeln wieder mit dem vaterländischen Fortschritt im Sande au fait gesetzt, und seit vierzehn Tagen tret’ ich mit besonnenem Fortschritt das vaterländische [70] Pflaster. Hatte keine Ahnung davon, daß Du hier wärest; ein Geschäft, das ich mit einem in der Nähe wohnenden krautschüssigen Sohn Albions habe, führte mich an diesem Hause vorüber, und ein Blick auf Dein blankes Schild sagte mir, daß Du hier wohntest. – Nun sag’, wie geht es Dir?“
Rudolf erzählte dem Jugendfreunde Alles.
„Armer, armer Junge!“ rief Adolf, als der Erzähler schloß, „Du siehst wahrhaftig aus wie das Hungerleiden von Irland. Das Versetzen oder Bücherverklopfen steck’ einmal vor der Hand auf mit Baarem kann ich Dir im Augenblicke zwar auch nicht helfen, aber glücklicherweise hab’ ich unbeschränkten Kredit bei der Mutter Brummeisen an der Schifferallee. Dort kannst Du Dich mit mir atzen. Komm!“
Rudolf, schon zum Ausgehen fertig; folgte. Sein fadenscheiniger Anzug erregte Adolf’s Bedauern von Neuem. „Ein so grundgescheidter Junge wie Du,“ sagte er, „sollte ganz anders floriren. Sag’ einmal, hast Du Dein Glück nicht bei denen Weiblein versucht? Hast nicht beherzigt, was Meister Mephisto Deiner Gilde empfiehlt? „Besonders lernt die Weiber führen!“ Hast nicht gelernt „das Pülslein wohl zu drücken“ et cetera, et cetera?“
„Mir ist das Weib zu ehrwürdig für solch loses Spiel!“
„Ei! volenti non fit injuria – aber nun sage mir Einer, die Beschäftigung mit den naturalibus mache hartfühlig! Weiter als Du Naturalist kann ja eine jungromantische Nachdichterseele, die im gottseligen Abscheu vor Allem, was Fleisch heißt, allerzartest erstirbt, das Zartgefühl nicht treiben wie Du. A propos – hast Du noch kein Liebchen, keine Braut?“
Rudolf verneinte.
„Auch nicht gehabt?“
Rudolf verneinte wieder und fügte hinzu: „Bis jetzt hab’ ich meine Liebe ganz meiner Wissenschaft gewidmet. Und in meiner Lage ist es auch ein Glück; daß ich kein anderes Wesen an mein Geschick gefesselt.“
„Wer weiß, ob das ein Glück ist,“ versetzte Adolf; „vielleicht hätte Dir so ein liebes, blondes oder braunes Lockenköpfchen längst auf die rechten Sprünge geholfen. Du bist – nimm mir’s nicht übel – bei Deinem vielen Studiren ohne Wein und Mädchen doch ein wenig geworden, was man ein gelehrtes Rhinozeros nennt. Und darin liegt zum Theil Dein Unglück. Die Liebe würde Dich emanzipirt, ein feines Liebchen Dich aus der Pelle der Pedanterie herausgeschält und außerdem mit manchem Stück Societätsphilosophie ausgerüstet haben. Ein rechtes Weib geht und steht viel sicherer in der Gesellschaft als Unsereiner – ich wollt’, ich könnte Dich heute noch verliebt machen.“
„Damit mein Elend vollends den Boden verlöre“ – sagte Rudolf – „nein, Freund, ich habe schon meinen Entschluß gefaßt, in Kurzem geht ein Wallfischfänger nach den arktischen Gewässern ab, da will ich als Schiffsarzt mit.“
Adolf blieb stehen und sah den Freund mit großen Augen an. Dann sagte er: „Komm geschwind; daß Du eine Hammelkeule in den Magen bekommst; denn nur der Hunger konnte Dir einen solchen Seehundsgedanken eingeben!“
Damit zog er den Muthlosen rascher mit sich fort. Bald erreichten sie den Hafendamm; von welchem eine schattige Allee zu einem freundlichen Häuschen führte, das den Hungernden würzigen Speidenduft entgegen sandte.
Freundlicher, als ihr Name klang, war der Empfang, welchen die Eigenthümerin dieses meist von Schiffern besuchten Kaffee- und Speisehaufes den beiden jungen Männern angedeihen ließ. Sie brachte sie nicht im Schwarm der gewöhnlichen Gäste unter, sondern in ihrem Privatstübchen, wo sie ungestört einander ihre Herzen erschließen konnten. Nachdem Adolf seinen „Römerzug“ erzählt hatte, berichtete er, daß er auch gänzlich „abgebrannt“ in der Heimath angekommen sei, aber bei der Mutter Brummeisen, die er schon früher gekannt, gastliche Aufnahme gefunden habe. Auch hoffe er nächstens in Bezug auf Geldmittel wieder flott zu werden, da ein Bild, das er in Rom gemalt, an einem Engländer, der sich zur Zeit hier aufhalte, einen Liebhaber gefunden, von dem er jeden Tag einer bestimmten Erklärung entgegensehe.
„Kauft das Beefsteak,“ schloß er, „so ist uns Beiden geholfen; die Mutter Brummeisen wird bezahlt, und Du erhältst so viel, daß Du einen neuen äußern Menschen anlegen und vor allen Dingen Deine Instrumente wieder einlösen kannst. Denn wenn Dir der Himmel jetzt eine große Operation zuwiese, durch die Du Ruf und Glück begründen könntest, Du müßtest die Gelegenheit ungenützt vorübergehen lassen.“
„Freilich“ – sagte Rudolf – „aber was wollte ich thun, wenn ich nicht an die Luft gesetzt sein wollte?“
„Zum Henker! da fällt mir ein, daß Du eine reiche Tante in der Stadt hast,“ entgegnete Adolf, „warum hast Du Dich nicht an die gewendet?“
„Hast Du vergessen, daß sie vom Geizteufel besessen und übrigens mit mir gänzlich zerfallen ist, seit ich umgesattelt habe? Ihr Haus ist mir verboten.“
„Und ist doch Dein Vaterhaus – Deinem Vater in der Bedrängniß abgeluxt um ein Lumpengeld – von Rechtswegen ist sie Deine Schuldnerin, die alte Hexe!“
Jetzt trat die Wirthin ein und sagte zu dem Maler: „Sputen Sie sich, Herr Walter, der alte Graubart ist heute recht zeitig da mit seinem Engel – ich habe im Gartenstübchen schon einen Tisch zurecht gestellt und Ihre Mappe liegt auch da. Aber lassen Sie sich ja nichts merken, daß Sie das Kind abkonterfeien.“
„Seien Sie unbesorgt, Mutter,“ erwiederte Adolf, sich erhebend, „durch mich sollen Sie nicht um Ihren Kunden kommen. Da Du auch satt bist, Rudolf, so komm mit; Du sollst etwas sehen, was – doch ich will die Wirkung auf Dein Fischblut abwarten.“ Und er führte ihn in ein anstoßendes Gemach; das mit einem freundlichen Garten in Verbindung stand, der unmittelbar an den Hafen grenzte. Ehe sie sich den hohen Fenstern näherten, sagte Adolf: „Nun thu’ mir den Gefallen, setz’ Dich so, daß Du meine Arbeit verdeckst, Steck’ Dir eine Cigarre an und schau gelegentlich, aber nicht unverwandt, nach dem Paare hinüber, das uns schräg gegenüber unter den Akazien beim Kaffee sitzen wird.“
Als Rudolf dieser Weisung zufolge zwischen Tisch und Fenster Platz genommen und seine Cigarre angesteckt hatte, ließ er seine Blicke hinausschweifen – aber er hätte fast vergessen der Weisung weiter zu folgen, denn er fühlte seine Augen von der Gestalt, an der sein Freund alsbald zu zeichnen begann, unwiderstehlich gefesselt. An der Seite eines Greises in silberweißem Haupt- und Barthaar saß da ein Frauenbild von so zarter Lieblichkeit und überquellender Lebensfülle, daß ihm war, als blühete und glühete es ihm unmittelbar in die innerste Seele hinein. Adolf mußte ihm einen Stich mit dem spitzen Bleistift geben; daß er sich der ertheilten Warnung erinnerte.
„Um Gott – Adolf“ – stammelte Rudolf erröthend „wer ist das himmlische Wesen?“
„Geduld, Freund – jetzt laß mich zeichnen und genieße vorsichtig den reizenden Anblick; hernach sag’ ich Dir Alles.“
Der Kleidung nach gehörten die beiden Kaffeegäste dem wohlhabenden Bürgerstande an, wiewohl das eiserne Kreuz auf der Brust und das martialische Gepräge in Miene und Haltung des Greises den alten Soldaten verrieth. Mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit schien er an seiner jugendlichen Begleiterin zu hängen, denn er wendete fast kein Auge von ihr; schenkte ihr den Kaffee ein, versüßte ihn, legte ihr Kuchen vor und war sorglichst bemüht, lästige Zweiflügler und selbst die heißen Sonnenstrahlen von ihrem Gesicht abzuhalten. Mit immer größerer Erregung mußte Rudolf das anmuthige Wesen betrachten; immer und immer wieder stahl sich sein Blick zu ihr hinüber und kehrte trunken zu der entstehenden Skizze des Freundes zurück. Auf einmal trübte sich seine entzückte Miene, und er rief erblassend: „O Gott! o Gott!“
Eben war Adolf mit seiner Zeichnung fertig und legte sie Jenem mit der Frage vor: „Ist sie getroffen?“
„Vollkommen – kein Zug verfehlt“ – bezeugte Rudolf – „aber ich bin erschrocken, daß mir das Blut in den Adern starrt – das herrliche Geschöpf ist ja blind!“
„Leider!“ bestätigte Adolf; „es ist, als habe es die Natur gereut, ein allzu vollkommenes Werk geschaffen zu haben, und sie habe durch das Erblindenlassen ihr Versehen wieder gut machen wollen. Aber Du hast es sogleich erkannt, daß sie blind ist, obschon ihre tiefblauen Augen, aus dieser Entfernung gesehen, völlig gesund zu sein scheinen?“
„Ich müßte nicht die Augenheilkunde zu meinem Lieblingsstudium gemacht haben, wenn ich das nicht erkennen wollte.“ sagte Rudolf. „Ich wollte eine Staaroperation im Finstern vornehmen, so genau habe ich das menschliche Auge studirt. Doch nun gieb mir endlich Auskunft über das unsäglich holde und doch so unglückliche Geschöpf.“
[71] Adolf berichtete: „Es ist die Tochter des Alten, und dieser ist Verwalter des Criminalgefängnisses. Ein alter Soldat von unzugänglichem Wesen, gegen alle Welt mißtrauisch und verschlossen, nur gegen seine Tochter – und seine Gefangenen nicht. Während er sich gegen die freie Gesellschaft absperrt, soll er gegen die seiner Obhut Befohlenen bei aller Pflichttreue die Menschenfreundlichkeit selbst sein, ja, man sagt, er nenne die Gefangenen seine Kinder, welche der liebe Gott der Stiefmutter Welt abgenommen und an sein Herz gelegt habe. Außer seinem traurigen Gebiete sieht man ihn wenig, dieser Garten ist der einzige öffentliche Ort, den er im Sommer wöchentlich ein paar Mal, und immer im Geleite seiner Tochter besucht. Hier sah ich beide vor acht Tagen zum ersten Mal, und war nicht weniger wie Du frappirt von dem Anblick dieser Mädchengestalt, Ich erfuhr erst hinterher ihr trauriges Loos, das sie aber kaum zu fühlen scheint, obschon sie erst in ihrem achten Jahre nach einer Krankheit erblindet ist. Ihrer Mutter schon vorher beraubt, soll sie von ihrem Vater mit der rührendsten Sorgfalt erzogen, später mehrere Jahre dem trefflichen dresdener Blindeninstitut anvertraut worden, und aus demselben vor zwei Jahren mit für ihren Zustand wunderbaren Fertigkeiten, namentlich in der Musik, heimgekehrt und seitdem der Abgott ihres Vaters sein. Du kannst Dir denken, daß mein Wohlgefallen an dem reizenden Wesen ein rein künstlerisches ist, da ich mein Bräutchen in Berlin über Alles liebe und es heimzuführen gedenke, sobald ich zu Federn komme. Aber ich konnte doch eine Nacht kaum schlafen vor Begierde, diese Gestalt in meiner Mappe zu haben. Bei der Liebe, die der Vater zu seinem Kinde hegt, dachte ich, müßte ihm ein Gefallen geschehen, wenn es ihm umsonst gemalt würde; ich ging daher zu ihm – aber es fehlte wenig, so hätte er mich zur Thür hinausgeworfen. Ich mußte unverrichteter Sache abziehen und mich mit diesem Diebstahl behelfen.“
Jetzt erhob sich der Greis mit seiner Tochter und verließ Arm in Arm mit ihr den Garten. Dem jungen Arzte war, als dürfe er die schöne Unglückliche nicht mehr aus den Augen lassen, als müsse er ihr auf dem Fuße folgen und sie aus ihrer Nacht erlösen – und doch stand er wie eingewurzelt da, während sein Freund die Wirthin citirte und sie seinen gelungenen Raub bewundern ließ. Darüber merkten alle Drei nicht, wie ein Polizeisergeant sich einen Moment hinter dem dichten Robiniengebüsch vorbeugte, vor dem der Gefängnißverwalter mit seiner Tochter gesessen.
„Aber nun, Mutter, einen rechten Kaffee!“ sagte Adolf, die Wirthin auf die fette Schulter klopfend – „und bringen Sie ihn in den Garten.“
Bald saßen die Freunde unter den schattigen Akazien, Rudolf genau auf dem Platze, den Clelia, so hieß die Blinde, innegehabt hatte.
„Meine Instrumente! meine Instrumente!“ seufzte er auf einmal auf. „Ich hätte lieber mich sollen auf die Straße setzen lassen, als die versetzen!“
„Nur Geduld!“ ermunterte Adolf; „es ist nun einmal geschehen, und über lang oder kurz muß bei mir doch so viel werden, sie einlösen zu können.“
„Ach! das ist immer eine ungewisse Aussicht – wer weiß, wenn der bequeme Englishman sich besinnt – und mich jammert jede Minute, die ich dies holde Wesen mir in Nacht umherwandelnd denken muß.“
„Jetzt verstehe ich Dich erst – Du willst sie wohl operiren?“ „Freilich! Sonst möchten die Instrumente meinetwegen alle semitischen Sprachen lernen und Sanskrit dazu. Zur Fahrt auf den Wallfischfang brauche ich so kostbare Werkzeuge nicht. Es hülft nun doch nichts – ich muß in den sauern Apfel beißen, muß zu meiner Tante gehen –“
„Willst Du nicht erst noch ein paar Tage warten? Der Lord Bullock muß sich doch nächstens erklären –“
„Nein, nein!“ rief Rudolf heftig; „was Du thun willst, thue gleich! heißt des Arztes goldene Regel. Ein Arzt darf nie auf morgen verschieben, was heute gethan werden könnte, wenn es gilt, einem Leidenden zu helfen. Es steht fest, ich gehe zu meiner Tante – das geizige Weib verbirgt Nachts hundert Mal mehr Geld unter ihrem Kopfkissen, als ich bedarf, um zwei Menschen glücklich zu machen.“
„Ich will Dich nicht zurückhalten – versuche Dein Glück – aber wenn es fehlschlägt, so werde nicht muthlos, verzweifle nicht –“
„Es darf nicht fehlschlagen; ich gehe der Alten nicht eher vom Halse, bis sie etwas herausrückt von Dem, was sie meinem Vater abgeschwindelt –“
„Du bist ja auf einmal ganz umgewandelt – aber recht so! Geh’ dem Satansknochen zu Leibe – wie ich glaube, spielt sie die Fromme, da mal’ ihr à la Michel Angelo das jüngste Gericht an die Wand, daß ihr wird wie lauter Heulen und Zähneklappern –“
„Laß mich nur machen – ich will ihr schon zusetzen – wie ich Dir sage: ich verlasse ihre Schwelle nicht, bis ich sie um die nöthigen Thaler ärmer gemacht. Ich weiß schon ein Mittel, sie mürbe zu machen – die alte Heuchlerin hat eine heillose Furcht vor dem Tode – und den Tod will ich sie leibhaftig sehen lassen, wenn sie nicht gutwillig giebt!“
In diesem Augenblicke brachte Frau Brummeisen den Kaffee. Auf Adolf’s Einladung setzte sie sich zu den beiden Freunden und plauderte mit ihnen, wobei Rudolf noch Manches über die Lebensweise des alten Gefängnißverwalters und seiner Tochter erfuhr, was ihn nur in dem Verlangen bestärkte, die Blinde von ihrem Leiden zu befreien.
Eine halbe Stunde später verließen die Freunde den gastlichen Ort. Bald nach ihnen schlich auch der Polizeisergeant sich aus seinem Versteck hervor und folgte ihnen von fern nach.
Mit einer Entschlossenheit, die von seinem vorigen Kleinmuthe gewaltig abstach, wandte Rudolf nach der Trennung von Adolf seine Schritte dem Hause seiner Tante zu, das in der stillen und entlegenen „Schmiedegasse“ lag. Die alleinstehende alte Frau wollte, als sie auf sein Klopfen zum Fenster heraussah, ihren Neffen von da aus kurz abfertigen; aber ihre Neugier kennend, gab er vor, ihr wichtige Neuigkeiten zu bringen und verschaffte sich dadurch Einlaß: Er fand sie in Gesellschaft einer jungen Frau, ihrer Pathe. Dieselbe hatte ihren eigenen Hausstand in einer andern Straße, versah aber bei der Alten die Stelle einer Aufwärterin umsonst – aus Anhänglichkeit, wie sie vorgab, in Wahrheit aber, in der Hoffnung, sie zu beerben. Rudolf wußte die Neugier seiner Tante durch diese und jene Tagesneuigkeit zu befriedigen, und als endlich die junge Frau sich entfernte, um nach ihrem kranken Kinde zu sehen, rückte er gerade auf sein Ziel los. Aber wie fein er auch seine Bitte einkleidete, welche rührende Vorstellungen er auch machte – er erreichte nichts als das Anerbieten eines Almosens von einem Thaler, Entrüstet schlug er es aus, und die Rückkehr der Wartefrau verhinderte ihn, weiter in die geizige Alte zu dringen.
Hülflos wie er gekommen, ging er und nahm unwillkürlich seinen Weg nach dem Criminalgefängniß. Hier trat das durch die widrige Verhandlung mit der Tante getrübte Bild der Blinden wieder in seiner ganzen Reinheit hervor. Er hatte schon die Hand an den Klingelzug gelegt, um Einlaß zu begehren, damit er sofort eine Untersuchung der in Nacht gehüllten Augen vornähme, aber er besann sich, wie wenig er in der Lage sei, dem ihm als so mißtrauisch dargestellten Gefängnißbeamten sich als kundigen Arzt zu legitimiren, dem ein so schwieriges Werk anzuvertrauen war. Er ließ die Klingel ungezogen und entfernte sich mit dem Entschlusse, am Abend, wenn seine Tante wieder allein sein würde, sie noch einmal aufzusuchen, Ihm fiel wohl ein, daß sie ihm dann die Hausthür gar nicht öffnen würde, aber er besann sich auch, daß er im Besitze eines Schlüssels dazu war. Mit dessen Hülfe beschloß er, sie zu überraschen, und hoffte, sie unter dem Einflusse nächtiger Furcht fügsamer zu finden als am Tage.
Der Abend war hereingebrochen, und Rudolf’s Tante hatte sich eben von ihrer Aufwärterin ihre erste Abendandacht vorlesen lassen, als sie sagte: „Heute, Minna, mußt Du mir den Gefallen thun und über Nacht bei mir bleiben. Ich habe mich noch nie so gefürchtet wie diesen Abend. Du hast den Rudolf gesehen – sag’ selbst, kam er Dir nicht ganz verwildert vor?“
Die Erbschaftsspekulantin meinte, sie habe ihn fast nicht wieder erkannt.
„Nicht wahr?“ ergriff die Alte wieder das Wort; „ja, seit er seinem Gott, dessen Dienst ich ihn geweiht hatte, untreu geworden, [72] seitdem ist er Schritt vor Schritt dem Verderben in die Arme gesunken. Von so einem Menschen ist alles zu fürchten – huh! Was für einen schrecklichen Bart er hatte! Versprich mir, heute Nacht bei mir zu bleiben.“
„Von Herzen gern, liebe Frau Pathe – aber die ganze Nacht – das kann ich nicht versprechen. Sie wissen, mein Kind hat die Masern und mein Mann kommt erst um Mitternacht aus dem Dienst. Bis dahin muß ich wenigstens abwechselnd bei dem Kinde sein. Nachher aber will ich ganz bei Ihnen bleiben.“
Als Minna bald darauf das Haus verließ, sah sie noch unter der Thüre stehend, welche die Alte hinter ihr schloß, wie ein Mensch an der andern Häuserreihe hinabging, in welchem sie beim Laternenlicht der Straße den Neffen ihrer Pathe erkannte. Sie sah ihm eine Weile nach, und da er zuweilen sich nach ihr umblickte, so beschloß sie, ihn weiter zu beobachten, ging bis an ein nahes Seitengäßchen und verbarg sich dort hinter der Ecke. Rudolf kehrte nun um, ging stracks auf das Haus seiner Tante zu, öffnete mit seinem Schlüssel geräuschlos die Thür und verschloß sie wieder hinter sich. Mit einem gellenden Angstschrei empfing ihn die überraschte Verwandte. Die Beobachterin auf der Straße eilte nun wieder an das Haus und stellte sich unter das Fenster, wo sie, da die Fensterflügel wegen des Sonnenscheins offen standen, durch die Jalousien einen großen Theil der zwischen Tante und Neffen, bald leiser, bald lauter geführten Verhandlung vernehmen konnte. Rudolf schickte keine Vorrede voraus. Er hielt der Alten kurz vor, wie sie ihrem Bruder auf dessen Todtenbette versprochen, seine Stelle an dem verwaisten Sohn zu vertreten, er nannte, ohne die Person namhaft zu machen, das gute Werk, um das es sich handelte, er bat so inständig, daß selbst die Horcherin an der Wand gerührt wurde und wünschte, die Alte möchte ihm die verlangte Kleinigkeit geben, „damit sie ihn nur los würde.“ Aber das hartherzige Weib war unbeweglich. Sie schalt Rudolf einen Undankbaren, einen Abtrünnigen, eine Frucht des Bösen. Da entbrannte er; er strafte ihren Geiz, er verwieß sie auf die heilige Schrift, die keine Todtsünde so hart züchtige wie diese, er riß ihr den Heuchelschein der Frömmigkeit vor den eigenen Augen ab und zeigte sie ihr in ihrer wahren Gestalt, als Betrügerin ihres eigenen Bruders; er erschütterte sie, daß sie stöhnte – aber er bewog sie nicht zur Erfüllung seines Verlangens. Sie schwor, daß sie es nicht erfüllen könne, daß sie kaum so viel Geld habe, um davon ein paar Tage nothdürftig zu leben. Entrüstet rief er, sie solle ihm einmal erlauben, in ihrem Pulte nachzusehen, er wolle Tausende in Staatspapieren zum Vorschein bringen, das baare Geld ungerechnet. Da schlug sie die Hände zusammen und heulte. Das trieb seinen Grimm auf’s Höchste, und ihre Arme krampfhaft erfassend, beschwor er den rächenden Schatten ihres todten Bruders herauf und bewirkte damit – daß sie in fieberhafter Angst aufkreischte: „Hülfe! Hülfe! Räuber! Mörder! – Er will mich ermorden –“
Da schlug die Horcherin an die Jalousie – Rudolf stutzte, der Ruf des elenden Weibes hatte ihn erschreckt – er fühlte, daß er zu weit gegangen, wenigstens für seine innere Würde – ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürzte er aus dem Zimmer, schloß die Hausthüre auf, zog aber mechanisch seinen Schlüssel ab, eilte an der Wartefrau vorüber und schnellen Schrittes die Straße hinauf. Die junge Frau ging in’s Haus zurück.
Rudolf zürnte auf sich selbst, ihm war als habe er seinen ganzen Adel – ergrimmt schleuderte er den Schlüssel, ohne dessen Besitz er hätte diese Scene nicht hätte herbeiführen, weit von sich. Er bemerkte nicht, daß hinter ihm ein Mensch herschlich, der den fallenden Schlüssel klirren hörte, suchte und fand; noch weniger, daß derselbe mit dem Funde nach dem Hause der Wittwe zurückkehrte und den Schlüssel geräuschlos probirte, dann aber in einiger Entfernung vom Hause sich aufstellte. Nicht lange stand er, da trat ein Polizeimann, derselbe, der die beiden Freund im Garten der Mutter Brummeisen belauscht hatte, aus dem erwähnten Gäßchen zu Jenem.
„Nun, wie steht´s? Hast Du etwas Verdächtiges bemerkt?“ fragte der Sergeant.
„Ja, Vater – vor einer Weile, wie ich eben erst meinen Posten unter dem Thorweg drüben eingenommen hatte, sah ich ein Frauenzimmer an einer der Jalousien lehnen, als ob sie horchte; der Gestalt nach war’s unsere Stubennachbarin, die Fritschin; gleich darauf hörte ich ein Geschrei, die Frau pochte an die Jalousie, dann wurde die Thür aufgerissen und ein Mensch stürzte heraus und auf und davon. Wahrscheinlich war’s Dein Doctor. Die Fritschin wurde nun von der Alten eingelassen.“
„Gut – laß uns einmal horchen“ – sagte der Sergeant.
Die Beiden gingen zu horchen.
„Ach Gott, erbarme dich, wie ich noch immer zittere!“ hörten sie die Alte reden – „es ist, wie ich Dir sage: er trachtet mir nach dem Leben – ein Glück, daß Du noch da warst, sonst war es um mich geschehen. Es soll auch Dein Schade nicht sein, ich will Dir’s in meinem Testament gedenken.“
Den Gedanken, daß Rudolf der Alten nach dem Leben trachte, suchte die junge Frau ihr zwar auszureden, aber es gelang ihr nicht, und jene drang heftiger als erst in sie, die Nacht bei ihr zu bleiben. Sie versprach dies, sobald sie von ihrem Kinde fortkönne.“
„Nun komm, Vater,“ sagte der Begleiter des Sergeanten, als die Stubenthür ging, „die Fritschin geht jetzt – wir haben nun schon ein Stündchen Zeit, unsern Abschied zu feiern. Die Andern sind schon lange beisammen.“
Die Beiden entfernten sich. Die Fritschin verließ das Haus der Wittwe und ging nach ihrer Wohnung.
Inzwischen suchte Rudolf seinen Freund auf. Nach vergeblicher Nachfrage in dessen Wohnung stieß er auf ihn vor seiner eignen. Der wackere Maler begrüßte ihn mit stürmischer Freude. „Bruder, Alles gut! Der Mackintosh hat bezahlt – zweihundert Louis – hier sind zwanzig für Dich; die Mutter Brummeisen ist befriedigt und Du hast absoluten Kredit bei ihr. Morgen früh mit dem ersten Dampfwagenzuge reise ich nach Berlin und kehre nur als glücklicher Gatte heim.“
Rudolf nahm das dargebotene Geld. „Zum Einlösen der Instrumente ist es heute zu spät, aber morgen soll dies mein erstes Geschäft sein, und dann geht’s stracks an’s Werk! – Aber, Du Guter – wie soll ich Dir danken, wann werde ich auch nur Dein Darlehn zurückzahlen können?“
„Laß das jetzt – vollende nur Deine Operation; die wird Dich schnell berühmt machen; dann ist Dir eine glänzende Praxis gesichert, und vielleicht finde ich Deine holde Patientin gar als Dein Bräutchen wieder.“
Rudolf erglühete. Nun lud ihn Adolf ein mit zur Mutter Brummeisen zu gehen, wo sie „bei einer kleinen Bowle“ den Abend froh verplaudern wollten.
Als die Beiden sich dem Kaffeehause an der Schifferallee näherten, scholl ihnen lärmender Jubel entgegen. „Da geht’s lustig zu,“ bemerkte Rudolf beim Eintritt in das Haus, „hoffentlich bleiben wir für uns.“
„Wir gehen in’s Privatstübchen der Mutter Brummeisen, wenn schon ich mich bisweilen gern in solch’ Getümmel mische, um Gesichter zu studiren,“ entgegnete Adolf; „aber heute muß hier etwas Besonderes los sein.“
Im Stübchen der Wirthin angekommen, erfuhren sie, es sei eine kleine Gesellschaft Auswanderer, die morgen früh nach Amerika abzusegeln gedenke, mit ihren Freunden hier zusammengekommen, um ein Abschiedsgelag zu feiern. Die eigentliche Seele davon sei der Sohn des Polizeisergeanten Huker.
„Ein schöner Patron“ – bemerkte Adolf, „an dem das Vaterland wahrlich nichts verliert. Ein Gauner, der dem Zuchthause sicher nicht entgangen wäre, wenn ihn sein Alter nicht über’s Wasser spedirte.“
„Dieser scheint auch seelenfroh zu sein, daß er das Früchtchen los wird.“ sagte die Wirthin, „denn er trinkt um die Wette mit den Schiffern, die mit geladen sind. Und sein Sproß scheint’s darauf angefangen zu haben, den Vater zu guter Letzt noch im Haarbeutel zu erblicken, denn er stellt die Schiffer an, ihm tüchtig zuzutrinken. Alle Augenblicke spricht der Alte, er müsse fort, der Dienst rufe ihn, aber immer von Neuem läßt er sich zutrinken.“
Die Freunde genossen vergnügt ihre Bowle. Ungefähr nach einer Stunde wurden sie durch einen Heidenlärm an die Glasthür gelockt, die sie von dem Gastzimmer trennte. Da sahen sie, wie Matrosen den bis zur Bewußtlosigkeit trunkenen Polizeisergeanten in eine Art Hängematte legten und unter Vortritt seines Sohnes und Absingung eines Begräbnißliedes ihn forttrugen.
[85] Um die zwölfte Stunde verließen auch die beiden Freunde das Kaffeehaus. Rudolf begleitete Adolf bis an dessen Wohnung und nahm hier Abschied von ihm. Der Gedanke aber an das Ziel, dem der Freund entgegenreiste, machte auch in seinem Herzen sehnsüchtige Wünsche, in seinem Geiste liebliche Träume wach, Er konnte noch nicht schlafen gehen, es trieb ihn dahin, wo die holde Blinde schlummerte, Lange stand er träumend vor dem Gefangenenhause, dann machte er noch einen Spaziergang und kam erst kurz vor ein Uhr zu Hause an. Da er seinen Hausschlüssel nicht bei sich hatte, mußte er den parterre wohnenden Hauswirth wecken, der sich nicht wenig über seines sonst „mit den Hühnern das Nest suchenden“ Miethers späte Heimkunft verwunderte. –
Der Tag war längst angebrochen, und Rudolf lag noch in gaukelnden Morgenträumen, in denen die Blinde nicht die letzte Rolle spielte, als ihn ein starkes Geräusch vor seiner Thür weckte. Eh’ er sich noch recht ermuntert hatte, füllte sich das Zimmer mit Beamten und Dienern der Sicherheitsbehörde.
„Sind Sie der Doktor Grimm?" fragte der Führer derselben, und auf Rudolf’s verwundertes „Ja,“ erklärte der Beamte: „So sind Sie mein Gefangener.“
„Um Gott – wie komm’ ich dazu?“ fragte Rudolf erbleichend.
„Das werden Sie wohl wissen,“ antwortete Jener.
„Ich weiß in der That von keiner Schuld, die ein solches Verfahren gegen mich rechtfertigte -“
„Das wird sich finden – jetzt kleiden Sie sich an und folgen uns."
„Aber was ist denn geschehen? Was soll ich denn gethan haben? Das muß man mir doch wenigstens zu wissen thun!“
„Nun, so will ich’s Ihnen sagen, Ihre Tante, die Wittwe Kreller in der Schmiedegasse, ist ermordet gefunden worden!“
„Gerechter Gott!“ rief Rudolf schaudernd. Er war lange nicht fähig, etwas zu thun. Endlich kleidete er sich unter dem Beistande der Polizei an, und ließ sich halb willenlos in das Gefängniß führen, das er heute in einer ganz andern Angelegenheit zu besuchen gedacht hatte. –
Das Kind der Fritschin war in der Nacht kränker geworden und hatte es der Mutter unmöglich gemacht, zwischen zehn und ein Uhr zu ihrer Pathe zu gehen. Als sie um diese Zeit an das Haus der einsamen Frau gekommen, hatte sie lange vergeblich an die Jalousien geklopft. Endlich war sie an die Hausthür gegangen und hatte diese zu ihrem Befremden unverschlossen, den Schlüssel steckend gefunden. Da hatte sie augenblicklich Verdacht geschöpft, Rudolf könne in der Nacht zu seiner Tante zurückgekehrt sein, und wer weiß, was da geschehen war! Unschlüssig, was thun, war sie an der Thür gestanden, als der Nachtwächter sich in der Nähe gezeigt hatte. Diesen, den sie gut kannte, hatte sie herbeigerufen, ihm ihren Argwohn mitgetheilt und ihn aufgefordert, sie in das Haus zu begleiten. Er war sogleich bereit gewesen, sie waren hineingegangen und hatten das Zimmer ebenfalls unverschlossen gefunden. Darin eingetreten, hatten sie mit ihren Laternen umher geleuchtet, ohne etwas Verdächtiges zu sehen. Dann hatte die junge Frau die im nahen Alkoven schlafende Wittwe gerufen. Umsonst. Da waren die Beiden hineingetreten und hatten die Alte in ihrem Bette erdrosselt gefunden. Nachdem die Fritschin sich von ihrem ersten Schrecken erholt, hatte sie unter das Kopfkissen der Gemordeten gegriffen und die Hand mit dem Ausrufe hervorgezogen:
„Das kann nur er gewußt haben!"
Der Wächter hatte ihr Erklärung über diese Worte abverlangt, und als sie diese gegeben, sie aufgefordert, ihm zum Polizeicommissar des Bezirks zu folgen. Das war geschehen. Der Polizeicommissar hatte die Beiden nach dem Schauplatze des gräßlichen Verbrechens begleitet, den Befund festgestellt und die Frau in’s Verhör genommen. Dabei hatte sie nach und nach Alles erzählt, was am Tage zwischen der Ermordeten und ihrem Neffen vorgegangen. Dies war dem Polizeibeamten genug gewesen, um Rudolf der That verdächtig zu halten. Er hatte den Wächter und die Fritschin entlassen, Zimmer und Haus verschlossen und sich dann nach Rudolf’s Wohnung begeben, wo er den Hauswirth geweckt und von diesem erfahren hatte, wenn sein Miethsmann heimgekommen. Darauf war der Beamte auf das Polizeiamt geeilt und hatte hier den Vorfall mit dem Ergebniß seiner Nachforschungen zur Anzeige gebracht. Der funktionirende Polizeirath hatte an die Schuld des ihm nicht ganz fremden jungen Arztes nicht glauben wollen, daher war die Verhaftung desselben so lange unterblieben, bis der Sergeant Huker nach Ausschlafung seines Rausches erschienen war, und durch Erzählung des Gespräches, das er im Garten der Mutter Brummeisen belauscht, den Verdacht des Commissars bestätigt hatte. Da war endlich der Verhaftsbefehl gegeben worden, der, wie wir gesehen, pünktlich vollzogen ward.
[86] Wir übergehen die nächsten Proceduren, welchen der so schwerer Schuld Geziehene vom Gerichte unterworfen ward. Bei seiner schüchternen Gemüthsart und seinem Mangel an Weltkenntniß darf es nicht Wunder nehmen, wenn er sich von dem über ihn hereingebrochenen Mißgeschicke mehr als er im Bewußtsein seiner Unschuld nöthig hatte, aus der Fassung bringen ließ. Sein ängstliches Benehmen vor dem Richter, namentlich an der Leiche der Gemordeten, deren Anblick ihn auf’s tiefste erschütterte und auch mit Reue erfüllte über seinen gestrigen Versuch, Geld von ihr zu erpressen, und die in seinem verworrenen Gemüthszustande auch verworrenen ausfallenden Antworten vergrößerten das Gewicht der gegen ihn vorliegenden Inzichten nicht wenig. Und als er den von der Wartefrau angesteckt gefundenen Schlüssel als sein Eigenthum erkannte, und zwar mit sichtbarem Erschrecken über dies neue Beweismittel gegen ihn – da hatte der untersuchende Richter nur zu bald sich ein verdammendes Urtheil über den Angeschuldigten gebildet. Die in seinem Schreibtisch aufgefundenen zwanzig Louisd’or, die ihm Adolf geliehen, wurden als corpus delicti betrachtet, wenn man schon seine Angabe, wie er dazu gekommen, zu Protokoll nahm – aber der Maler schien durch das Gespräch im Garten des Kaffeehauses an der Schifferallee selbst gravirt; er wurde aus den Armen seiner Braut gerissen, um gefangen in seine Vaterstadt zurückgeführt und wie sein Freund’ eingekerkert zu werden.
Leider war der Engländer, dem Adolf das Bild verkauft hatte, inzwischen nach England abgereist, und so konnte der Letztere den rechtlichen Erwerb jenes Geldes nicht sofort nachweisen, und bis der Engländer in seiner Heimath ausfindig gemacht und dessen Zeugniß herbeigeschafft war, konnte eine lange Frist vergehen.
Indeß ergab sich der joviale Maler mit mehr Fassung in sein trauriges Loos, als sein armer Freund, er behielt vor dem Richter all seinen Humor und somit auch seine Besonnenheit, so daß er sich von vorn herein eine günstigere Meinung sicherte, als es bei jenem der Fall war. Sehr zu statten kam ihm das Zusammentreffen der Zeit, welche sein Hauswirth als die seiner Nachhausekunft in jener Nacht angab, mit der, welche die Mutter Brummeisen als die Zeit seines Aufbruchs aus ihrem Hause nannte – ein Vortheil, dessen sich Rudolf durch seine träumerische Nachtpromenade beraubt hatte.
Was diesem besonders zum Nachtheil gereichte, war, daß die beiden Hauptzeugen wider ihn, die Fritschin und der Polizeisergeant Huker, die von ihnen belauschten Gespräche nur bruchstückweis gehört hatten, und natürlich gerade die Stellen, welche im stärksten Affekt gesprochen worden, folglich die gefährlicheren, die allerdings, aus dem Zusammenhange gerissen, eine furchtbare Deutung zuließen. Der Sergeant glaubte mit gutem Gewissen auf seinen Diensteid versichern zu können, daß Rudolf seiner Tante den Tod gedroht habe, wenn sie das von ihm begehrte Geld nicht gutwillig gäbe; und die alte Frau selbst hatte ja, als er vor ihrem Fenster gehorcht, der Fritschin geklagt, ihr Neffe trachte ihr nach dem Leben.
Es hieße jenem Gerichtshof sehr Unrecht thun, wollten wir sagen, er habe es, nachdem er sich einmal sein Urtheil über Rudolf gebildet – über Adolf schwankten die Meinungen – sich bequem gemacht. O nein! mit deutscher Gründlichkeit wurde die Untersuchung fortgeführt und unverdrossen ein Fascikel nach dem andern vollgeschrieben – um ja die Schuld des Angeklagten so klar als nur möglich darzuthun. Wer mit den Geheimnissen der Inquisitionspraxis unbekannt ist, der glaubt nicht, mit welchem erstaunlichen Scharfsinn manche Inquirenten Umstände, die in der Wirklichkeit nicht den entferntesten Zusammenhang mit dem Gegenstande ihrer Untersuchung haben, doch damit in die augenfälligste Verbindung zu bringen wissen, so daß der nach den Akten erkennende Richter gar nicht daran zweifeln kann, daß er es mit einem genetisch verbundenen Ganzen zu thun habe. Und einen solchen Inquirenten hatte Rudolf.
Aber während das Gericht auf den Untergang des armen Doktors los incriminirte, erweckte die Macht, die über den Kindern des Unglücks wacht, ihm einen Engel, der wenigstens sein Leiden verklärte.
Es war am Abend des zweiten Tages seiner Einkerkerung, als Rudolf in einem an Verzweiflung gränzenden Zustand auf seinem Strohe lag. Auf einmal schlug der Ton einer Harfe an sein Ohr, und nicht lange währte es, so begann eine herrliche Sopranstimme das Spiel mit der Arie zu begleiten: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ – Dieser Gesang drang durch die offene Speiseklappe seiner Thür so glockentönig an Ohr und Herz des Dulders, daß alle seine Lebensgeister aufwachten und sich zu einer Andacht ermannten, wie sie den Gesang selbst beseelte. Er hatte manche gute Agathe gehört, aber so seelenvoll schien ihm noch keine das Lied gesungen zu haben, wie die unsichtbare Sängerin – Clelia, wie er sogleich ahnte. Als sie zum letzten Mal die Worte wiederholte: „das Auge ewig rein und klar, nimmt aller Wesen liebend wahr“ – da war es ihm, als erwache er aus einem schweren Traume zu neuem sonnigen Leben; er vergaß auf Augenblicke, wo er war, und selbst als nach dem Verstummen des Gesanges er sich wieder daran erinnerte, begann er sich mit seinem Geschick auszusöhnen. Er faltete die Hände und betete: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ –
Bald darauf erschien der Kerkermeister, Clelia’s Vater. Rudolf bot ihm freundlichen Gruß. Der Greis reichte ihm die Hand und blickte ihm ernst und forschend in’s Gesicht.
„Sie sind ja ganz verändert“ – sagte er nach einer Weile.
„Ja“ – erwiederte Rudolf – „ich hatte Gott und mit ihm mich selbst verloren – aber so eben hab’ ich ihn wieder gefunden.“
„Wohl Ihnen – ohne ihn ist nirgends gut sein, am wenigsten im Gefängniß – halten Sie ihn fest!“
„O, ich will ihn nicht wieder verlieren – wenigstens nicht, wenn er öfter so zu mir redet; wie er vorhin gethan –“
„Gott redet immer mit uns auf mancherlei Weise, wenn wir ihn nur hören wollen –“
„Aber in seiner Liebe offenbart er sich uns in dunkeln Stunden auf ganz besonders liebliche Weise – und so geschah es mir – Dank dem Munde, durch den es geschah. Ach, möchte dieser Mund meinem schwachen Glauben noch oft zu Hülfe kommen!“
„Sie haben den Gesang vorhin gehört?“
„Ihm verdank’ ich meine Erhebung.“
Der Greis sah dem Gefangenen wieder scharf in’s Gesicht. Zuletzt schüttelte er mit dem Kopfe und sagte: „Sind Sie musikalisch?“
„Ich spiele Klavier –“
„Ich habe einen guten Flügel – wollen Sie mir einmal etwas spielen?“
„Herzlich gern.“
„So kommen Sie.“
Dem Gefangenen schlug das Herz – er hoffte Clelia zu sehen. Allein er täuschte sich. Der Greis führte ihn in ein kleines schmuckes Zimmer, das unter andern das erwähnte Instrument enthielt. Er schloß es auf, bat Rudolf daran Platz zu nehmen und reichte ihm verschiedene Noten dar. Rudolf nahm das erste beste Heft und spielte vom Blatte. Der Zuhörer lauschte mit sichtbarem Vergnügen. – „Gut, gut, ich sehe, Sie können spielen“ – sagte er – „viel besser, als ich – das ist mir lieb. Ich habe gestern eine Partie neuer Sachen von Mendelsohn-Bartholdy, Robert Schumann und Franz Schubert erhalten, aber die meisten sind mir zu schwer, und eine liebe Person, die des Augenlichtes beraubt ist, möchte sie gern hören. Heute ist es dazu zu spät, aber morgen, wenn Sie wollen, hol’ ich Sie wieder.“
Als Rudolf in seine Zelle zurückgekehrt war, wußte er nicht, ob er nicht vielmehr dem Schicksal danken sollte; das ihn an diesen Ort geführt, als darüber jammern. Er hatte danach eine Nacht voll erquickenden Schlafes.
Am folgenden Tage konnte er die Stunde kaum erwarten, wo er würde zum Klavierspiel abgeholt werden. Heute hoffte er Clelia bestimmt zu sehen. Aber er sollte sich wieder getäuscht haben. Die Blinde war im angrenzenden Gemach, dessen Inneres ihm ein Vorhang verbarg. Er ahnte, daß sie da sei, und spielte die ihm vorgelegten Stücke mit innigster Bewegung. In den Pausen unterhielt er sich zwanglos mit dem Greis, der immer zutraulicher ward. Rudolf hütete sich wohl nach seiner unsichtbaren Zuhörerin zu fragen – er lebte der Hoffnung, sie einst seinem Blicke nicht länger entzogen zu sehen.
Aber wie froh erstaunte er nach der Rückkehr in seine Zelle, als abermals Harfenton an sein Ohr klang, und er eins der neuen Lieder von Schubert vortragen hörte! Jetzt verstand er den Vater der blinden Harfnerin: er hatte ihn zu ihrem Lehrer gemacht. Wie erhob dieser Gedanke seine Seele! Wie beglückt führte er ihn jeden Tag hinüber in das trauliche Zimmer an den Flügel, mit [87] dessen Hülfe er seine unsichtbare Schülerin neue Lieder lehrte! Dabei wurde Vater Widerhold – wie sich der Gefängnißverwalter am liebsten nennen hörte – täglich zutraulicher, er verlängerte die Lehrstunde mehr und mehr und flocht immer längere Unterredungen hinein.
Da erzählten dann beide Männer von ihren Erlebnissen, Rudolf von seinen Schul- und Universitätsjahren, der Greis von seinem Kriegerleben. Rudolf hatte öfters Gelegenheit wahrzunehmen, wie nicht nur er so wohlwollend behandelt wurde, sondern der alte Kriegsmann allen Gefangenen in Wahrheit ein sorgsamer Vater war. Rudolf konnte einmal nicht umhin, seinen Beifall und seine Verwunderung darüber zu äußern. Da sagte der Alte:
„Lieber Doktor, wenn man seine siebzig Jahre im Leben nicht gedankenlos versäuft oder verträumt, wenn man die Welt mit klarem Blick betrachtet hat, so muß man wohl endlich wissen, daß nicht in den Gefängnissen die verworfensten Glieder des Menschengeschlechtes zu suchen sind; und wenn man ein Menschenalter lang mit Verstand Gefangenenwärter gewesen, so muß man die Erfahrung gemacht haben, daß keine Tugend, keine Vorsicht und keine Stellung im Leben einen Unschuldigen davor sichert, einmal der Bewohner eines Gefängnisses zu werden und daß selbst von den Schuldigen weit mehrere durch Irrthum und Unwissenheit, Uebereilung und Krankheit der Seele Verbrecher werden als durch Herzensbosheit. Unsereiner, wenn er will und Verstand dazu hat, lernt weit besser in den Seelen der Unglücklichen lesen, die hier herein kommen, als die Herren zwischen den Akten, die oft den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ich will mich aber nicht rühmen – wer weiß, welch’ ein blinder Tyrann meiner Gefangenen ich wäre, hätte Gott mir nicht einen Engel an die Seite geführt, der mir die Augen öffnete. Ich fand an einer verwaisten Predigerstochter nicht nur ein Weib nach meinem Herzen, sondern auch eine Retterin meines bessern Menschen. O, Sie sollten sie gekannt haben, die Mutter meiner armen Kinder – sie war die verkörperte Gnade, von der das Evangelium redet.“
Er hielt inne, Thränen erstickten seine Stimme.
„Nachdem sie ihre heilige Sendung an mir vollendet,“ fuhr er nach einer Pause fort, „nachdem sie aus einem gut dressirten Kriegsknecht einen Menschen gemacht, nahm Gott sie wieder von mir und ihren Kindern, ehe sie deren Unglück erleben konnte; denn bald nach ihrem Hinscheiden wurde mein Sohn, der in Berlin studirte, in eine politische Untersuchung verflochten, deren unheilvollem Ausgang er sich durch die Flucht entzog, und meine Clelia, damals ein Kind von sieben Jahren, erkrankte am Scharlachfieber, in dessen Folge sie erblindete. Ja, lieber Doktor, die Hand des Herrn hat auch schwer auf mir gelegen; aber Preis sei ihm, er hat Alles zum besten gelenkt. Mein Sohn, dessen Verirrung ich nicht zu billigen brauche, wenn ich den Adel der Gesinnung ehre, die ihr zu Grund liegt und auf die unsere Gesetze keine Rücksicht nehmen, mein geächteter Sohn ist längst ein glücklicher Bürger des friedlichen Norwegens, der auf eigenem Schiffe dann und wann den hiesigen Hafen besucht, wo ich ihn im Geheimen sehen und in meine Arme schließen kann. Und Clelia – was soll ich von ihr sagen? Sie wurde die Vollenderin des Werkes, das ihre Mutter in mir angefangen, sie wurde das Licht meiner Seele, das Auge meines Geistes, das von Gott selbst regierte Steuer meines Herzens. Ich sage Ihnen: das zarte, ungelehrte, blinde Wesen sieht heller und schärfer in Dingen des menschlichen Herzens, als ich und alle Richter hier mit ihrem rechtsgelahrten Wust. Sie hat schon manchen Unschuldigen herausgefunden, wo die Welt und das Gericht verdammten und hinterher durch einen sogenannten Zufall die Unschuld an den Tag kam, nachdem der arme Verurtheilte schon Monate, auch wohl Jahre die Schmach des Verbrechers getragen. Herr – wenn man nach solchen Erfahrungen seine Gefangenen noch tyrannisiren, oder auch nur kalt behandeln kann, so ist man des Menschennamens nicht würdig.“
Unter dieser Behandlung würde Rudolf seinen Proceß ganz vergessen haben, wäre er nicht durch einzelne Verhöre daran erinnert worden. In diesen benahm er sich weit sicherer und klüger als im Anfange, und es wäre ihm vielleicht gelungen, die vorgefaßte Meinung des Gerichtes umzustimmen, wäre nicht die unbesiegbare und allzu große Scham über seinen zweiten Besuch bei seiner unglücklichen Tante gewesen. Sobald der Richter diesen Punkt berührte, verlor Rudolf seine Ruhe, er wurde in hohem Grade verlegen, und als ihm im Beisein der Fritschin die Worte vorgehalten wurden, die er, damals in der höchsten Aufregung gesprochen, da verwirrte ihn die Scham dergestalt, daß der Inquirent und die ganze Gerichtsbank auf’s Neue in ihrem Vorurtheil bestärkt wurden.
Vierzehn Tage waren seit Rudolf’s Verhaftung verflossen, als eines Abends der würdige Gefängnißverwalter bei seiner Tochter saß und ihr einen Brief von ihrem Bruder vorlas, worin derselbe neben manchem andern Erfreulichen auch meldete, er habe die Bekanntschaft eines berühmten Augenarztes aus Kopenhagen gemacht, von dem er glaube, daß er Clelia’s Augen wieder herstellen werde. In einem Monat werde er mit ihm kommen.
„Ach, wollte Gott, Eduard’s Hoffnung würde wahr!“ rief der Greis, als er mit Lesen fertig war.
Clelia schüttelte ihr braunes Lockenköpfchen, sagte aber dann: „Wir wollen’s Gott anheimstellen. Wenn es möglich und sein Wille ist, daß ich wieder sehen lerne, so wird er auch den Helfer schicken.“
„Ja,“ sagte der Greis gerührt, „Du hast Recht, liebes Kind – wir wollen ihm vertrauen wie bisher. Laß uns ihm danken, daß er’s mit Deinem verbannten Bruder so wohl gemacht hat. Wenn doch alle unschuldigen Opfer einer blinden Justiz errettet würden wie er!“
Clelia seufzte und sagte dann: „Wir wollen für sie beten, wo wir sonst nichts für sie thun können.“
Nach einer Weile begann der Alte wieder: „Was sagst Du zu unserm Doktor? Hältst Du ihn für schuldig an dem gräßlichen Verbrechen?“
Clelia erwiederte mit einem Eifer, der ihrem ruhigen Wesen sonst nicht eigen war: „Wenn er schuldig ist, dann sind die Engel des Lichtes Kinder der Verdammniß! Ich sage Dir: ein reinerer, edlerer Mensch kam noch nicht über die Schwelle dieses Hauses!“
„Ich glaube Dir,“ sagte ihr Vater; „Dein Urtheil war noch immer sicher. Ach, daß doch die Richter sähen wie Du!“
„Hoffentlich werden sie die Unschuld dieses Mannes erkennen –“
„Ich fürchte, sie werden ihn verurtheilen –“
„Verurtheilen?“ rief das Mädchen erschrocken – „wozu?“
„Zu lebenslänglichem Zuchthaus, wenn er nicht gesteht – wenn ihm aber die Seelenfolter eines langwierigen Kerkers zuletzt ein Geständniß aus Lebensüberdruß erpreßt, zum Schwert. Und ein solches Geständniß gehört nicht zu den Unmöglichkeiten, da für feinere Organisationen ein schneller Tod minder grausam ist, als die langsame Hinrichtung durch vieljährigen Kerker –“
„O, himmlischer Richter! – Vater – laß uns den Armen schützen! Tritt Du als Vertheidiger der Unschuld auf – oder laß mich – mich reden!“
„Gutes Kind – unser Zeugniß hat als subjective Meinung, wie sie’s nennen, kein Gewicht bei einem hochnothpeinlichen Proceß, da gelten nur sogenannte objective Beweise! Doch hoffen wir auf Gott, der auch dieses Bedrängten Gerechtigkeit hervorbringen kann wie den Mittag.“
„Halt! da fällt mir etwas ein – sagtest Du nicht, der liederliche Sohn des Polizeisergeanten Huker sei am Morgen nach jener Nacht, da die Mordthat verübt worden, nach Amerika abgegangen?“
„Du meinst doch nicht etwa –“
„Gott verzeihe mir, wenn ich einen Unschuldigen im Verdacht habe – aber hat nicht der Sergeant die beiden Freunde belauscht? Hat er nicht zu Protokoll gegeben, er habe den Doktor davon sprechen hören, daß seine Tante ihr baares Geld des Nachts unter ihrem Kopfkissen zu verbergen pflege? Kann nicht der Sergeant dies zu Hause in Gegenwart seines Sohnes wieder erzählt und ihn dadurch zur Verübung des Verbrechens gereizt haben?“
„Kind! Kind!“ – rief der Greis betroffen – „Du kannst Recht haben! Doch was wird es helfen, wenn ich auch versuche, Deine Vermuthung im Gerichte in Umlauf zu bringen? Der Bube ist fort, wie vorher schon bestimmt war, also nicht als Flüchtiger, und der Alte steht so gut angeschrieben bei den hiesigen Behörden, [88] daß gegen ihn nicht aufzukommen ist. Und Du weißt, wie sehr wir Ursache haben, vor dem Huker auf der Hut zu sein.“
„Freilich – er fahndet ja fortwährend auf unsern Eduard, und wer weiß, ob er nicht zuvor auch uns belauscht hat, wie hernach die beiden Freunde.“
„Ich bin gewiß, daß er es gethan – aber er hat von uns Nichts hören können, was sich auf Eduard´s Besuche bezog.“
„So ist der gute Doktor eigentlich um unsertwillen so unglücklich geworden“ – meinte Clelia – „Vater, laß uns ja thun, was wir können, daß ihn die Seelenfolter des einsamen Kerkers nicht zu einem verzweifelten Geständniß treibt! Ihm brauchst Du mich nicht länger zu verbergen.“
„Morgen soll er Dich sehen." Damit schloß der Greis diese Unterhaltung.
Und wie er gesagt, so geschah es. Von nun an durfte Rudolf täglich seine Musikschülerin sehen und sprechen. Und wenn auch ihr Vater dabei stets zugegen war, so hinderte das doch nicht, daß auf den Wellen der Töne ihre Gefühle sich begegegneten, ihre Herzen sich fanden und die zarteste Liebe sie verknüpfte.
Jetzt würde Rudolf seine Absicht, Clelia’s Augen zu operiren, vielleicht haben ausführen können, wenn er sich ihrem Vater hätte anvertrauen mögen; allein er konnte dies nicht über sich gewinnen, – lieber vertagte er jetzt das wichtige Werk auf die Zeit seiner Befreiung, der er im Gefühle seiner Unschuld zuversichtlich entgegen sah.
Inzwischen rückte die Zeit heran, wo Clelia´s Bruder mit dem „berühmten“ kopenhagener Augenarzt kommen wollte, und das liebe Mädchen sah diesem Zeitpunkt täglich unruhiger entgegen. Sie ersehnte und fürchtete ihn zugleich. Mit Ergebung hatte sie bisher ihr Loos ertragen, ja, sie hatte schon auf die Wiedererlangung des Augenlichtes verzichtet – aber das liebende Weib wünschte doch dem Geliebten so vollkommen als möglich gegenüber zu stehen. Dennoch zitterte sie auch vor einer Operation, die von nicht ganz kundiger Hand vollzogen leicht jede Hoffnung auf Wiedergewinnung ihrer Sehkraft zerstören konnte. Zuletz konnte sie nicht umhin, Rudolf das ihr Bevorstehende nitzutheilen. Dieser erschrak, dennoch wagte er es nicht, sich vorzudrängen. Es konnte ja sein, daß der angekündigte Arzt viel geübter noch war als er, und gern vergönnte er einem Geschickteren die Ehre und das Glück, die Geliebte sehend zu machen – wenn es ihm nur gelang. Aber gleichwohl beunruhigte ihn die Mittheilung fürchterlich. Clelia merkte es sofort. „Wenn Sie meinen, es sei nicht gut gethan, so lassen wir die Operation," sagte sie.
„Nein, nein!" rief er; „ich hoffe gewiß, daß Ihre Augen zu retten sind – aber es gehört große Geschicklichkeit dazu – ich werde darüber wachen, daß Sie keinem Charlatan in die Hände fallen. Vater Widerhold, lassen Sie doch ja die Operation in meinem Beisein vollziehen."
Der Greis versprach das, und sowohl Rudolf als Clelia sahen ruhiger dem verhängnißvollen Tage entgegen. Er kam. Der Gefängnißverwalter begab sich mit seiner Tochter nach dem Dampfer seines Sohnes. Als sie in das Boot steigen wollten, das sie hinüberbringen sollte, drängte sich der Polizeisergeant Huker kraft seines Amtes mit hinein. Vater Widerhold mußte es geschehen lassen – aber schnell besonnen sagte er: „Ich bin im Begriff den Augenarzt abzuholen, den mein Sohn meiner Tochter aus Drontheim schickt; was suchen Sie auf dem Schiffe?“
„Eben Ihren Sohn,“ antwortete der Sergeant. Der Greis wechselte mit dem Bootführer einen bedeutungsvollen Blick – und ehe sie an Bord gehißt waren, hatte der Matrose sich schon hinaufgeschwungen und dem Schiffsherrn, der in Gesellschaft des dänischen Arztes die Ankömmlinge erwartete, die Absicht des Polizeimanns gesagt.
„Ich habe es schon geahnt“ – sagte der Gewarnte – „ich werde meine Rolle als Kapitain Gildenstern fortspielen.“
So geschah es. Mit den Worten: „Guten Tag, Herr Kapitain – haben Sie Nachrichten von meinem Sohn?“ trat Widerhold am Arm seiner Tochter dem Schiffer entgegen. Dieser erwiederte den Gruß, drückte Vater und Schwester innig die Hand und stellte ihnen den Doktor Lorenzen als den vom Herrn Rheder Widerhold in Drontheim mitgeschickten Augenarzt vor. Der Sergeant, der sein Edelwild nicht persönlich kannte, wurde vollkommen getäuscht und fuhr unverrichteter Sache mit den Andern an’s Land zurück.
Der dänische Arzt wurde in einem Hotel in der Nähe des Crimininalgefängnisses untergebracht. Er untersuchte auf der Stelle Clelia’s Augen, stellte den glücklichen Erfolg einer Operation als ungewiß dar, war aber doch dafür, und pries dann seine Salben und Mixturen für den Fall, daß die Operation nicht den erwünschten Erfolg hätte. Den folgenden Tag sollte dieselbe vor sich gehen.
Rudolf konnte die vorausgehende Nacht fast kein Auge schließen, und als ihn Vater Widerhold zur festgesetzten Stunde abholte, fand er ihn in fieberhafter Erregung. Erst als er dem fremden Collegen gegenüberstand, gewann er wieder etwas Ruhe. Er hätte ihm sogleich auf den Zahn fühlen mögen, aber er mußte die Rolle eines Laien spielen, und so ließ er den „Berühmten“ ruhig seine Zurüstungen treffen. Schon während derselben stieg in ihm der Verdacht auf, daß man es mit einem großen Charlatan zu thun habe. Aber er ließ ihn gewähren. Clelia ließ sich auf dem ihr bestimmten Platz nieder, der Doktor ergriff seine Lanzette und setzte an – es war für den Vater ein Moment voll Todesangst – doch wie schon die Blinde unter der Berührung des Instrumentes zuckte, riß Rudolf den Arm des Operateurs mit solcher Heftigkeit zurück, daß der Hand die Lanzette entsank, und zornig donnerte er ihm zu:
„Elender Pfuscher! Wie können Sie es wagen, ein solches Werk zu unternehmen?“
Der Däne stand verblüfft da. Clelia sprang bebend auf und Vater Widerhold wußte nicht, was er denken sollte. Doch er wurde bald aufgeklärt; denn Rudolf las dem „Berühmten“ aus Dänemark so deutsch den Text, wies ihm seine Unberufenheit so bündig nach, daß der liebende Vater Gott danken mußte, daß er sein Kind der Gefahr entrissen, in der es eben geschwebt hatte.
Der Fremdling mußte mit Schanden abziehen. Als Vater Widerhold Rudolf in dessen Zelle zurückbrachte, fand dieser, um den getäuschten Väter zu trösten, den Muth, zu erklären, daß er eines Tages selbst die heute vereitelte Operation vornehmen werde, sobald er seine Freiheit wieder habe.
„O warum nicht jetzt?“ fragte der Greis, heftig seine Hand ergreifend.
Rudolf zögerte mit der Antwort. Mit vieler Mühe entlockte ihm Jener endlich das Geständniß, daß er seine Instrumente versetzt habe.
„Wenn es nur daran liegt,“ sagte der Greis, „so soll Clelia keinen Tag länger des lieben Himmelslichtes entbehren.“
Als er wieder zu seinem Kinde zurückkehrte, fand er es sehr traurig.
„Betrübe Dich nicht“ – tröstete er – „was jetzt vereitelt worden, wird bald durch eine geschicktere Hand geschehen.“
„Ach, darum ist es mir jetzt gar nicht zu thun,“ sagte sie, „ich dachte an etwas ganz, ganz Anderes. Weißt Du auch, daß der Däne unsern Eduard nun verrathen wird?“
Der Greis erschrak, „Du hast bei Gott Recht – ich muß schnell zu der Frau Brummeisen gehen, damit sie das verabredete Zeichen aufsteckt.“
„Und nun wird der gute Eduard auf lange, lange Zeit vom heimathlichen Gestade verscheucht!“ klagte Clelia, – „und ich hatte auf seine einstige Wiederkunft einen so wichtigen Plan gebaut!“
„Welchen?“ fragte der Vater.
Das sag’ ich Dir besser jetzt nicht“ – sagte sie – „eile nur, den Eduard zu warnen.“
Der Greis ging. Als das geheime Signal gegeben war, begab er sich stracks zu dem Juden, der im Besitz von Rudolf´s Instrumenten war, und löste sie ein. Rudolf setzte die Operation auf den folgenden Tag fest.
Schon waren wieder alle Zurüstungen zu dem Werke getroffen, schon stand der von heimlicher Liebe glühende Operateur mit seinen Werkzeugen bereit, und der Vater brachte sein blindes Kind herbei – da erbebte Rudolf´s ganzes Wesen; Clelia, in Rosa gekleidet, das holde Angesicht von Hoffnung und Vertrauen verklärt, reichte ihm die Hand – sein Puls schlug hörbar – sie setzte sich – er nahete sich mit dem Instrumente ihrem Auge – er zitterte – der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. –
[101] „Ich kann nicht, ich kann nicht!“ klagte er mit Thränen im Auge – „Verzeihen Sie mir – ich bin zu tief bewegt – ein andermal, wenn ich ruhiger bin.“ –
„O, es eilt ja nicht, Herr Doktor“ – sagte Clelia lächelnd, – „und Du hast so lange mit mir Geduld gehabt, lieb Väterchen – Du wirst sie auch noch länger haben.“
Der Greis zog sie an seine Brust. Rudolf stand verwirrt und beschämt da – er hätte mögen in die Erde sinken. Doch Widerhold sprach: „Beruhigen Sie sich, Doktor – ich kann mir denken, wie einem Mann von Gefühl bei einem solchen Unternehmen zu Muthe sein muß.“
Der Sprecher wurde unterbrochen, indem die Haushälterin meldete, daß ein Gefangener ihn zu sprechen begehre. Als sich Rudolf mit Clelia allein sah, stürzte er vor ihr nieder.
„Clelia,“ flehte er, „verzeihen Sie mir diese Täuschung, und stellen Sie mich nicht jenem Charlatan an die Seite!“
Da beugte sie sich zu ihm und bat um seine Hand. Und als er sie ihr gereicht und unter ihrem Drucke erglühen fühlte, da entquoll seinen Lippen das Geständniß des eigentlichen Grundes seiner augenblicklichen Unfähigkeit – seiner heißen Liebe. Da erzitterte die liebliche Gestalt, da sank sie fast bewußtlos in seine Arme und zwei unentweihete Lippenpaare fanden sich im keuschen Verlobungskuß. Da sah das blinde Mädchen den Himmel offen und sich mitten darin; da wurde dem Gefangenen der Kerker zum Paradies und er pries Gott, der seine wunderbare Liebe in das dunkle Erdenleben sandte, und ihr Macht gab, selbst in die schauerlichsten Finsternisse zu dringen und sie zu verklären.
Wie Clelia geahnt, rächte sich der Däne für die ihm widerfahrene Schmach dadurch, daß er der Polizei die Identität des Kapitain Gildenstern mit dem Flüchtling Eduard Widerhold verrieth. Aber als die Polizei ihn im Hafen suchte, hatte er schon die offene See gewonnen. Nun wurde Vater Widerhold zur Verantwortung [102] gezogen. Er gestand jene Identität ohne Weiteres zu und wollte erwarten, was die höchste Staatsbehörde über einen Vater beschließen würde, welcher der Stimme der Natur gehorsam gewesen.
Ein halbes Jahr der Untersuchung war verflossen. Da kam aus England die gerichtliche Aussage des Käufers von Adolf’s Bild, wodurch sich dessen Antheil an dem Proceß so weit erledigte, daß der Untersuchungsrichter ihn auf Handgelöbniß entlassen zu können glaubte. Als sich der so lange um sein Liebesglück betrogene Künstler auf freiem Fuße befand, war sein Erstes nicht etwa, daß er in die Arme der bekümmerten Braut eilte, sondern daß er für die Rettung des Freundes Sorge trug. Er verband sich mit einem geschickten Advokaten, der Rudolf’s Vertheidigung übernehmen und Alles aufbieten sollte, den wahren Mörder zu entdecken. Dann erst suchte er sein eigenes Glück, an dem es dem heitern und biedern Künstler in den Armen einer seiner würdigen Geliebten nicht fehlte.
Endlich waren die Akten zum Spruche reif oder vielmehr überreif. Der Untersuchungsrichter verschickte sie mit dem Bewußtsein, dem hohen Gerichtshof durch ein Meisterstück der Inquisitionskunst Respekt einzuflößen. Nicht als ob er ein malignanter Mensch gewesen wäre, etwa eine Art Jeffrey’s greuelhaften Andenkens; im Gegentheil, er war ein zärtlicher Gatte und Vater, ein Freund der Nothleidenden — aber ein Fanatiker des Rechtes — „der römische Rechtszopf hängt ihm armstark hinten,“ sagte Adolf von ihm, „und hält ihn auf dem Tretrade der Paragraphentreterei fest.“
„Also Du glaubst in der That, unser Doktor könne verurtheilt werden?“ fragte Clelia ihren Vater am Tage, als die Akten an das Obergericht abgegangen waren.
„Nach dem Stande der Akten,“ erwiederte der Gefängnißverwaltet traurig, „ist daran nicht zu zweifeln. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, den armen guten Menschen bald an einen schaurigeren Ort abzugeben, als dieser ist.“
Clelia preßte die Hand krampfhaft auf den Busen. — „O, warum mußte Eduard sich von dem Dänen blenden lassen!“ sagte sie halblaut. Da wurde die Thorklingel gezogen. Bald darauf meldete die Haushälterin, der Maler Walter begehre Einlaß. „Den sendet Gott!“ rief Clelia, ihre Hände faltend. Ihr Vater beachtete den Ausruf nicht weiter und ging, den Gemeldeten selbst einzulassen.
Adolf hatte während seiner Gefangenschaft das Mißtrauen des Greises überwunden. Er brachte einige Erfrischungen für den gefangenen Freund, und hoffte jetzt nach geschlossener Untersuchung zu ihm gelassen zu werden. Vater Widerhold hatte kein Bedenken mehr dagegen. Er führte ihn zu Rudolf. Kaum war Clelia allein, als sie auf ihre Knie sank und Gott dankte, daß er sie, wenn auch leiblich erblinden lassen, doch nicht mit Geistes- und Herzensblindheit geschlagen, und daß er sie in der Zeit der höchsten Gefahr den Weg der Rettung, den sie durch des Dänen Verrath schon für versperrt gehalten, eben so klar erkennen lassen, als einst die Unschuld und den hohen Werth des Geliebten.
Wie ihr Vater mit dem Maler zu ihr zurückkehrte, zog sie ersteren auf die Seite und bat ihn, sie malen zu lassen. Er sah sie verwundert an.
„Wie kommt Dir dieser Einfall?“ fragte er.
„Da Eduard mich nun wohl so bald nicht wieder sehen darf, so soll er wenigstens mein Bild haben,“ erwiederte sie erröthend.
„Wollen Sie meine Tochter jetzt noch malen?“ fragte der Greis den Künstler, und dieser sagte mit Freuden zu.
Schon den andern Tag begann er sein Werk. Arglos ließ der Greis ihn mit dem holden Kinde allein. Und kaum wußte Clelia dies, als sie den Maler in seiner Arbeit unterbrach.
„Ich muß vor allen Dingen über einen Gegenstand mit Ihnen reden, der Ihnen gewiß eben so am Herzen liegt wie mir.“
„Ich bin ganz Ohr,“ versicherte Adolf.
„Helfen Sie mir Ihren Freund retten!“
„Dies zu können, ist mein eifrigster Wunsch, und ich habe schon nach Kräften daran gearbeitet.“
Clelia’s Antlitz verklärte ein freudiges Lächeln. Adolf erzählte ihr, was er bis jetzt gethan. Freilich hätten die Nachforschungen des Advokaten noch zu keinem Resultat geführt — aber er hoffe, Gott werde sie mit Erfolg krönen.
Clelia schüttelte getäuscht das Köpfchen. „Das ist mir zu ungewiß,“ sagte sie, „ich habe ein anderes Mittel gefunden, unsern Freund zu retten. Aber dazu bedarf ich Ihrer Hülfe. Würden Sie sich zu einer Reise nach Norwegen entschließen, wenn ich Ihnen die nöthigen Mittel dazu gäbe?“
Adolf erklärte sich bereit, für Rudolf an den Nordpol zu reisen. Clelia stand auf, ging an ihre Toilette und nahm ein kleines Etui heraus. Es war dem Maler ein rührender Anblick, das holde blinde Geschöpf sich so sicher zurechtfinden zu sehen. Sich wieder setzend sagte sie:
„Ich habe in Drontheim einen Bruder, wie Sie wohl schon wissen, einen Rheder und hochherzigen Seemann. Da ich Ursache habe, einer Sendung an ihn durch die Post zu mißtrauen, so sollen Sie mein Courier sein, und meine schriftliche Bitte an ihn durch Ihre Beredtsamkeit unterstützen. Ein zuverlässiger Schiffer von ihm soll mit einem Dampfer hier im Hafen sein, wenn des Doktors Urtheil ankommt. Leider darf er nicht selbst kommen. Damit wir den ungefähren Zeitpunkt erfahren, soll der Vertheidiger unsers Schützlings Erkundigung darüber einziehen, es koste, was es wolle. Hier, nehmen Sie diesen Schmuck und versilbern ihn — wenn Sie zu dem Allen bereit sind.“ —
„Seelengröße, dein Name ist Weib!“ rief Rudolf begeistert. „Ja, liebes Fräulein, ich bin zu Allem bereit, was Sie wünschen — aber behalten Sie Ihren Schmuck.“
„Nein — wenn Sie mich nicht kränken wollen, so nehmen Sie ihn — ich besitze mehr dergleichen — und welchen Werth hat es denn für mich?“
Adolf konnte die Annahme nicht länger verweigern. „Ich werde Rechnung führen über die Verwendung dieses Darlehens, das ich darauf erhalte.“
„Aber Alles bleibt unser Geheimniß,“ sagte sie, „jetzt bitte ich Sie, in Ihrer Arbeit fortzufahren.“
Das Bild war in wenig Tagen vollendet. In der Zwischenzeit ließ Adolf die von Clelia gewünschte Erkundigung einziehen, und als dies geschehen war, machte er sich mit einem Briefe von ihr auf die Reise. In einem Nachbarhafen fand er gleich ein norwegisches Dampfboot, das ihn sehnell an’s Ziel brachte.
Schon vierzehn Tage lag das Dampfschiff „Norman“, Kapitain Lund, im Hafen, und die Hafenbeamten, Makler, Schiffer und andere Leute, die mit dem Schiffsverkehr zu thun hatten, zerbrachen sich die Köpfe über den Zweck seines langen Verweilens, als ein anderes Ereigniß diese Seltsamkeit in den Hintergrund drängte. Der „Verwandtenmörder“, Doktor Grimm, war vom Obergericht „blos“ zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe statt zum Tode verurtheilt worden.
Mit großer moralischer Entrüstung wurde die Kunde von dieser Gelindigkeit der Justiz von dem Pöbel im Frack wie im Wamms aufgenommen; denn durch sie kam ja wieder ein Loch in das Gebäude der öffentlichen Ordnung und Sicherheit! Nur wenige wagten den „von der Noth Getriebenen“ zu beklagen, und blos die Armen, denen er unentgeltlieh Hülfe geleistet, zweifelten an seiner Schuld.
Rudolf selbst war aufs Tiefste erschüttert durch das ihm verkündete Urtheil. Er hatte es bis auf den letzten Augenblick für unmöglich gehalten, obgleich Vater Widerhold nicht unterließ, ihn darauf vorzubereiten. Vernichtet ging er in seinen Kerker zurück, und als die Thür hinter ihm geschlossen war, brach er laut weinend zusammen. Von welcher Höhe war er aber auch plötzlieh herabgestürzt! In was für rosigen Zukunftsträumen hatte er sich bis jetzt gewiegt! Wie hatte er die neugeschenkte Freiheit benutzen, mit welch’ neuem Muthe sich in’s Leben werfen, für seine Liebe Alles wagen, keck alle Hindernisse besiegen wollen, die sich seinem Glück entgegenstellten! Wie hatte er dieses Glück im Geiste schon voraus genossen, das unaussprechliche Glück an Clelia’s Seite! Und nun sollte er sein Leben in einem Zuchthause beschließen!
Aber wie er in Thränen zerfließend da lag, öffnete sich die Klappe an seiner Thür, und eine Engelsstimme rief herein: „Weine nicht! verzweifle nicht!“ Es war Clelia, die eine augenblickliche Abwesenheit ihres Vaters benutzend zu ihm kam. Er erhob sich, sie streckte ihre Hand hinein, und er preßte sie unter Thränen an [103] seinen Mund. „Bau’ auf Gott und Dein Lieb!“ flüsterte sie. — „Weg hat er aller Wegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht, wie’s in dem schönen Liede heißt. Hoffentlich läßt der Vater Dich bald zu mir, dann musiciren wir zusammen. Inzwischen wird es Abend — und wer weiß, wie es morgen ist. Nur Muth, mein Freund!“
Dann entzog sie ihm die kleine zarte Hand, streichelte ihm die Wange und schlich sich wieder fort.
„O Gott — welch ein Engel!“ sagte Rudolf, als er wieder allein war. „Ja, ich will nicht verzweifeln — noch bleibt mir ja der Recurs — inzwischen kann meine Unschuld klar an den Tag kommen. Doch will ich nicht darauf pochen, ich will mich auf das Schlimmste gefaßt machen — will ihr in nächster Zeit noch ihr Augenlicht wiedergeben. Das Bewußtsein, diesem Engel die größte Wohlthat nach dem Leben erwiesen zu haben, wird mich Alles ertragen lassen. Ja — ich will jetzt nicht mehr zittern — der Gedanke, daß sie ohne mich vielleicht ihr Leben lang in dieser Nacht wandeln muß, wird mich fest machen — ich will sie operiren!“
Als er später mit Clelia musiciren durfte, flüsterte sie ihm in einem unbewachten Augenblicke zu: „Versprechen Sie mir, zwischen heut und morgen blindlings Alles zu thun, was ich von Ihnen verlange.“ Er wunderte sieh, gab aber das Versprechen, und die Musik nahm ihren Fortgang.
Er spielte und sang sich wieder Muth und Hoffnung in’s Herz, und mehr noch that dies Clelia’s Gesang und heitere Stimmung. Getröstet kehrte er in seine Zelle zurück und streckte sich auf sein Lager.
Es mochte etwa Mitternacht sein, da weckte den leise Schlummernden ein leichtes Geräusch. Seine Thür ging auf — Clelia, mit einem Licht versehen, unter einem Arm einen Pack tragend, kam herein. „Clelia — meine Clelia!“ rief er aufspringend. —- „Still!“ flüsterte sie; „zieh diese Sachen hier an — es ist eine Gensd’armenuniform — säume nicht! ich will inzwischen an der Treppe lauschen, ob Alles noch fest schläft“ —
„Aber Clelia —“
„Kein Aber —— Du gabst mir Dein Wort, heute blindlings zu thun, was ich von Dir verlangen würde“ — Und sie zog sich zurück.
Er legte die Gensd’armenkleidung an, auch der Pallasch fehlte nicht. Als er fertig war, kehrte Clelia zurück. „Die Stiefel mußt Du ausziehen,“ sagte sie, an seinem Tritt hörend, daß er sie angezogen. „Nimm sie in die Hand und folge mir!“
„Ich soll fliehen?“ sagte er zaudernd, „und Dich und Deinen braven Vater in’s Unglück stürzen? Nimmermehr!“
„Ein Mann hält sein Wort,“ sagte sie; „Du wirst mich tödten, wenn Du die Rettung verschmähst. Ich überlebte es nicht, wenn sie Dich in’s Zuchthaus führten.“
Sie suchte seine Hand und zog ihn fort. Leise schlichen sie durch den Corridor, die Treppen hinab, durch die Hausflur — die Thür stand schon offen. „Nun Gott mit Dir!“ flüsterte sie, preßte seine Hand an ihre Lippen und drängte ihn hinaus. Draußen fühlte sich Rudolf von kräftigen Männerarmen gefaßt ——— es war Adolf, der ihn erwartete und, indeß Clelia die Hausthür innen verriegelte, den Freund mit sich fortriß. Das Hofthor war auf Clelia’s Veranstaltung nur angelehnt, ohne Gefährdung erreichten die Beiden den Hafen.
Am frühen Morgen wunderte sich Jedermann in der Nähe des Hafens, daß der „Norman“ verschwunden war.
Zur gewohnten Zeit weckte Clelia mit einem Kuß ihren Vater und meldete ihm, was sie gethan. Zugleich gestand sie ihm ihre erwiederte Liebe. Der Greis sagte ernst aber ruhig: „Was Gott thut, das ist wohl gethan! Freilich streckt er nicht die Hand aus den Wolken, wie ein Fabelgott, sondern gute Menschen sind seine Finger. Ueber meinen grauen Kopf wird es zwar nun hergehen — in Gottes Namen! er ist mit Ehren grau geworden — und Du, mein Kind, wirst nicht verlassen sein.“
„So hättest Du wohl selbst die Hand zu Rudolfs Rettung geboten, und ich that Unrecht, mein Vorhaben Dir zu verheimlichen?“
„Nein, mein Kind, meinen Diensteid hätte ich nimmer verletzt, der barmherzige Gott gab Dir dieses selbstständige Handeln ein. Ich hätte es müssen verhindern, wenn ich darum gewußt. — Jetzt will ich gleich meine Meldung machen — möglich, daß man mich nun für den Entflohenen einsperrt.“
„Das werden sie nicht! das dürfen sie nicht! Ich gehe mit Dir, und wenn eins von uns eingesperrt werden soll, so müssen sie es mit mir thun!“
Und nun entstand ein Wettstreit zwischen Vater und Kind, wer die Schuld der Entweichung Rudolfs auf sich nehmen dürfe; endlich verschaffte der Zufall Clelien den Sieg. Der Diener des Gerichtsvorstandes hatte in der Nacht einen Gensd’armen mit einer Civilperson aus dem Gefängniß kommen sehen und dies seinem aus dem Casino heimkehrenden Herrn mitgetheilt. Dieser kam nun in aller Frühe, sich zu erkundigen, wen der Gensd’arm mitten in der Nacht fortgebracht habe. Da trat Clelia rasch vor und berichtete mit fester Stimme, was sie gethan, aber ohne ihren Gehülfen zu nennen. Der Beamte war starr vor Staunen. Und der erhabene Muth, der aus dem ganzen Wesen der Blinden sprach, ihre wunderbare Schönheit und ihre fast prophetenhafte Verkündigung, daß Gott die Unschuld ihres Flüchtlings eines Tages an das Licht bringen werde — dies Alles wirkte so überwältigend auf den Mann des Gesetzes, daß er kein Wort des Zornes oder der Strenge über seine Lippen brachte, sondern nur eine Aeußerung des Bedauerns, sofort das gesetzliche Verfahren wider Vater und Tothter einleiten zu müssen. Dann forderte er dem ersteren die Schlüssel ab und übergab sie einem herbeigerufenen Officianten. Vater Widerhold war bis auf Weiteres seiner Amtsführung enthoben.
Zur Einkerkerung der beiden neuen Klagfälligen kam es nicht. Vater Widerhold’s Unschuld stellte sich bald heraus und was wollte man dem blinden Kinde thun? Man mochte wohl auch eine leise Ahnung haben, daß dasselbe klarer und richtiger gesehen, als die zum Theil durch vier Augen sehenden Richter. Dennoch wurde Vater Widerhold — hauptsächlich in Folge der Denunciation des Dänen — in Ruhestand versetzt. Das war kein Schlag für ihn; hätte er nur seine und seines Kindes Behaglichkeit im Auge gehabt, so wäre er längst abgegangen und zu seinem Sohne gezogen. Nur das höhere Pflichtgefühl, das Mitleid für die armen Gefangenen hatte ihn so lange auf seinem Posten festgehalten.
Von Rudolf wußte man bereits, daß er glücklich in Drontheim angekommen sei und dort bei einer Epidemie durch aufopferndes und erfolgreiches Wirken schnell die allgemeinste Anerkennung gewonnen habe. Der außer der Sphäre seines Berufes so schüchterne, ja zaghafte Mann hatte sich in ihr als Heros bewiesen. Clelia war namenlos glücklich über diese Nachricht. „Zu ihm! zu ihm!“ das war fortan ihre Losung, und ehe ein Monat nach der Pensionirung ihres Vaters verstrichen war, lichtete das Schiff, das sie dem Ziele ihrer Sehnsucht entgegentrug, die Anker.
Welch ein Wiedersehen war das in dem Hafen der norwegischen Seestadt! Und welche Tage der Wonne folgten ihm nach! Soll die Feder versuchen, ihrer auch nur einen den Lesern zu schildern? Für den, welchen treue Liebe beglückt, ist es überflüssig, und den Andern rathen wir besser: Gehet und liebet! — Jetzt schaut Clelia, Dank der Hand Rudolfs, mit den leiblichen Augen so klar und hell, wie mit den Augen ihres Gemüthes. Die Herrlichkeit Gottes in seiner wundervollen Schöpfung, die ehrwürdige Gestalt des greisen Vaters, das edle Bild des theuern Gatten, die lächelnden Engelsköpfe ihrer Kinder — es ist ihr Alles aufgegangen im heiligen Gotteslichte.
Es verging geraume Zeit, eh’ es den Bemühungen Adolf’s und des Vertheidigers von Rudolf gelang, den wahren Mörder von dessen Tante zu entdecken. Endlich fanden sie seine Spur und halfen den Dienern der Göttin mit den verbundenen Augen darauf. Aber die Spur leitete über das Meer und verlor sich in den Prairien Amerika’s. Indessen gaben die an’s Licht gebrachten Thatsachen dem Vertheidiger Mittel genug an die Hand, den Proceß umzustoßen, und mit Rudolfs Entbindung von der Instanz zugleich die Ausfolgung des reichen Nachlasses der Ermordeten zu bewirken. Es waren inzwischen vier Jahre verflossen — und in dieser Zeit hätte der empfindsame Rudolf im Zuchthause verderben können, wäre er nicht von Clelia’s innerem Auge in Zeiten erkannt und von ihrer Liebe gerettet worden. Ja, die Liebe! —
- ↑ Der Verfasser der preisgekrönten Novelle: „Die stille Mühle.“