Brief eines preußischen Hauptmanns

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Titel: Brief eines preußischen Hauptmanns
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 624–625
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[624] Brief eines preußischen Hauptmanns. Wir erhalten von befreundeter Hand den nachfolgenden, aus Gunstett bei Wörth vom 10. August datirten Brief eines preußischen Hauptmanns mitgetheilt, welcher der Schlacht bei Wörth beigewohnt hatte und in dieser verwundet worden ist. Derselbe, an den Vater des Briefschreibers gerichtet, erzählt, mit Hinweglassung der einleitenden Worte, Folgendes:

Unsere Division ging circa um ein Uhr zum Angriff vor. Unter dem Schutze von circa sechszig unserer Geschütze stiegen wir, von französischen Granaten empfangen, in das Sauerthal hinab. Meine Compagnie gerieth unglücklicherweise an den von Regengüssen stark angeschwollenen Sauerbach, welcher hier über vier Fuß tief war und sehr steile Uferwände hatte. Mir ging das Wasser bis zur halben Brust. Im heftigsten Gewehrfeuer passirte ich das Hinderniß. Meine Compagnie kam dabei natürlich ziemlich durch- und auseinander. Am jenseitigen Ufer kamen mir viele Tirailleurs entgegengestürzt, welche von den Franzosen geworfen waren. Um das kolossale Schnellfeuer der Chassepots zu erwidern, ließ ich alle Leute, welche den Bach passirt hatten, ausschwärmen und feuern. Meine ganze Compagnie wurde derart bis auf einen halben Zug absorbirt. Wir avancirten unter starken Verlusten und erreichten gleichzeitig mit allen anderen Truppen den Fuß der jenseitigen Höhen. Die Franzosen wichen nur Schritt für Schritt. Ich kann keinen Versuch machen, um Dir eine Vorstellung von dem wüsten Lärm, dem Knattern von mehr als hunderttausend schnellfeuernden Gewehren, mehreren Hundert Geschützen und den famosen Kugelspritzen zu machen. Letztere haben für die Schlachtmusik eine ganz neue Instrumentirung geschaffen. Denke Dir eine gewaltige Knarre, bei welcher die einzelnen Töne aus etwas heftigeren Detonationen als Gewehrschüsse bestehen. Dazu das Pfeifen der Kugeln! Man glaubte verrückt zu sein; 1866 war nichts dagegen. Wunderbarer Weise war ich bis jetzt verschont geblieben. Kaum hatte ich aber den Fuß der jenseitigen Höhen erreicht, als ein Granatstück mir die Schuppenkette vom Helm riß und das Ohr wund ritzte. Auf der halben Höhe, die Schritt für Schritt erkämpft wurde, bekam ich den zweiten Streifschuß am Gesäß, der mich zwei Tage lang beim Liegen auf dem Rücken sehr incommodirte. Nicht lange darauf wurde mir meine Kartentasche, welche ich unter dem Rock am Säbelkoppel trug, durchschossen und das Beinkleid zerrissen.

Nun wurde mir die Sache etwas toll. Ich tiraillirte mit den Leuten so geschickt, als es ging, die Deckungen waren aber zu unbedeutend und der Kugeln zu viele. Zum Glück schossen wir jetzt die Franzosen barbarisch zusammen. Die Abhänge sahen rot aus von den Leichen und Verwundeten. Glücklich waren wir oben auf der Höhe angekommen. Ich war in der ersten Linie bei den Tirailleuren, als jene berühmte Kürassier-Attaque losging. Um sie besser zu sehen, richtete ich mich aus der Deckung in die Höhe und erhielt die vierte Kugel durch den Schenkel. Ich duckte mich wieder nieder; die Schützen kriechen vor; mein Schenkel schwillt, ich kann nicht folgen und lasse mich zurückführen. Hierbei erhielt ich die fünfte Kugel, zwei Zoll unter der linken Achselhöhle in die Brust; einen halben Zoll vom Wirbel (d. h. des Rückgrats) ging sie wieder hinaus. Einer meiner Begleiter stürzte zugleich mit mir zusammen. Ich verlor die Besinnung nicht, sondern wälzte mich circa fünfzig Fuß bergab in einen steinernen Hohlweg, um aus dem tollen Gewehrfeuer zu kommen. Mit aller Kraft kämpfte ich eine Ohnmacht nieder. Ein Soldat gab mir Wasser. Meinen letzten Tropfen Wein hatte ich kurz vorher einem sterbenden Hauptmann gegeben. Nach einiger Zeit, während ich mit entsetzlichen Brustbeklemmungen zu kämpfen hatte, schoben mir zwei Soldaten meiner Compagnie ein Gewehr unter das Gesäß und zwei andere eins unter die Kniee. Mit großer Aufopferung wurde ich so (unter gewaltigen Schmerzen natürlich) eine Viertelstunde bergab getragen und im Thale im Chausseegraben niedergelegt. Nach einer halben Stunde verstopfte ein Arzt die Kugellöcher mit Charpie und ging weiter. Der Blutverlust war mittelstark; die Schwäche nahm zu. Der Abend senkte sich bereits herab, eine eisige Kälte verbreitete sich über den Körper, welcher noch in den halbnassen Sachen steckte. Ich glaubte zu sterben und hatte die Qualen satt. Neben mir lagen noch zwei Officiere, bereits sprachlos.

Batterien rasselten vorbei, Ordonnanzen jagten; Niemand half uns. Da kam ein Feldgeistlicher zu mir (Heinrich Köstlin). Ich nannte Deine Adresse und bat zu schreiben. Er ging weiter. Es wurde dämmrig. Da [625] ritt ein Cavallerie-Officier vorbei. Mit Aufbietung der letzten Kräfte rief ich ihm zu. Er hielt. Ich bat um Krankenträger für mich und die Cameraden. Nach einer langen Viertelstunde kamen welche an und trugen uns auf Bahren davon: Ich war Badensern in die Hände gerathen und kam im Finstern auf ihren Verbandplatz. Die Sachen wurden mir vom Leibe geschnitten, ein guter Verband angelegt. Nackend wickelte man mich in wollene Decken, gab mir heißen Kaffee und Wein zu trinken, und eine behagliche Wärme durchströmte mich. Es war ein seliges Gefühl. Eine schlaflose Nacht, beengter Athem, wenig Schmerz, aber außer Stande, mich zu bewegen. Nur der rechte Arm und das linke Bein brauchbar. Ich lag auf der Trage in einem Zelte mit drei Sterbenden zusammen. Die ganze Nacht nichts als Stöhnen und Fieberphantasien in meiner Umgebung. Am Morgen stand zehn Schritte vom Zelte der Amputationstisch, und ich sah diese Fleischerarbeit ziemlich gleichgültig mit an. Meine Zeltgesellschaft (Officiere) war todt. Der Arzt schien erstaunt zu sein, daß ich lebte und nicht einmal fieberte. Gegen Mittag band man mir das Diagnosetäfelchen um mit Nummer Eins, das heißt: nichttransportabel bei Lebensgefahr. Eine ermuthigende Nachricht! Ich wurde gegen Abend nach dem eine halbe Stunde entfernten Gunstett gebracht, wo ich mich noch befinde. Wie entsetzlich sah es aber damals aus! Ich lag einen Tag und zwei Nächte auf einem Bund Stroh auf der Erde. Niemand fragte nach mir und meinen Stubengenossen. Ein Stück Brod und etwas Wasser mit Wein gemischt stand neben uns. Ich merkte bald, daß die Aerzte sich um uns, als sichere „Todescandidaten“, nicht mehr kümmerten. Da trat plötzlich der Kronprinz von Baden, Ludwig Wilhelm August, preußischer General und Inhaber des vierten Infanterieregiments, in unser Zimmer. Er war wüthend gegen solche Rücksichtslosigkeit. Er soll gegen die Aerzte ziemlich deutlich geworden sein. Alsbald erschienen vier Mann, hoben mich auf und trugen mich in eine kleine Kammer, wo ich auf ein Bett und Strohsack niedergelegt wurde. Ich dankte Gott! Durch jenes erste Zimmer liefen Tag und Nacht Lazarethgehülfen und Diener; es pfiff der Wind durch die offenen Fenster und Thüren, der Regen peitschte herein, die Dielen zitterten unter den schweren Tritten; bisweilen wurde ich gestoßen und getreten. Die entsetzlichsten Stunden meines Lebens habe ich dort zugebracht. Morphium betäubte mich nur in der ersten Nacht. Später nahm ich die stärkeren Dosen freiwillig nicht mehr an.

Am vierten Tage nach der Schlacht wurde zum ersten Male der Verband gewechselt. Die Lappen verbreiteten bereits einen höchst unangenehmen Geruch. Ich war aber jetzt allein und hatte Ruhe. Nichts geht über das Erstaunen der Aerzte, als sie wiederholt meinen Puls fühlten, die Wunden besahen, den Blutauswurf betrachteten. Mein Puls war so ruhig, wie nur je im gesunden Zustande. Ich verlangte zu essen und verschlang mit Gier rohen Schinken und Brod. Am sechsten Tage erhielt ich mein jetziges, sehr hübsch möblirtes freundliches Zimmer, die Studirstube des Pfarrers. Ich war der älteste unter den sieben Officieren hier. Wir waren alle bis auf einen in die Brust geschossen; es leben aber nur noch drei. Jetzt geht es mir täglich besser; der Appetit ist ausgezeichnet. Wie komm’ ich zu solcher Bärennatur? Mehrere Johanniter aus Baden haben mich wie ein Wunderthier betrachtet, wenn ich mein Essen bekam. Man behandelt mich nun sehr aufmerksam. Die Aerzte scheinen sich für mich als ein Problem zu interessiren. Doctor Pagenstecher, der Assistent des berühmten Chirurgen Simon in Heidelberg, behandelt mich. Eigentlich thun sie gar nichts. Jeden Morgen erhalte ich einen frischen Verband und dann überlassen sie mich meiner Natur und meinem Bette. In der Brusthöhle befindet sich immer noch etwas Exsudat. Ich bin in einer Beziehung ganz hülflos. Ich besitze nur meinen Degen, Helm und mein Lorgnon: sonst bin ich nackend. Ich werde mir Civil erbetteln, um transportirt werden zu können.

Noch kein Mensch hat hier binnen vierzehn Tagen einen Brief erhalten.

Ich will hiermit schließen. Das Schreiben im Bette strengt doch an. Ich bin bereits seit vorigem Montage im Stande, mich allein aufzurichten; liegen kann ich aber nur auf dem Rücken. Heute stehe ich wieder anderthalbe Stunde auf und sitze im Sessel. Es ist eine große Wohlthat für meinen armen Rücken. Ich wanke schon allein die vier Schritte vom Bett bis zum Stuhl und wieder zurück. Nun lebt wohl! Herzliche Grüße an Alle.
Dein aufrichtiger Sohn
Philipp.