Der dritte September in Berlin

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Autor: Fr. Fr.
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Titel: Der dritte September in Berlin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 625–626
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625] Der dritte September in Berlin. Es ist etwas Großes und Erhabenes, wenn ein Hauch der Begeisterung durch ein ganzes Volk hinzieht und Millionen und Millionen Herzen zu gleicher Zeit rascher schlagen läßt, wenn die Freude und Begeisterung aus jedem Auge leuchtet, wenn auch nicht ein Einziger ist, der nicht daran Theil nimmt.

Ein solcher großer Tag war der dritte September, als die Kunde von der Uebergabe der Festung Sedan mit mehr als achtzigtausend Truppen und die Gefangennahme des Kaisers Napoleon durch ganz Deutschland, ja durch ganz Europa zuckte, und der Telegraph sie nach allen Welttheilen trug. Man wußte, daß es kein Land dieser Erde gab, in welchem diese Kunde nicht bei allen dort lebenden Deutschen die größte Freude hervorrief. Ganz Deutschland jubelte, Hunderttausende deutscher Fahnen flatterten an diesem Tage lustig im Winde und „Napoleon gefangen, ein Heer von achtzigtausend Mann ergeben!“ tönte es überall.

Den gewaltigsten Eindruck rief diese freudige Botschaft, welche von Niemand erwartet war, in Berlin hervor. Morgens um fünf Uhr hatte die Königin das Telegramm des Königs erhalten, und der Polizeipräsident hatte die Depesche sofort drucken und an die öffentlichen Säulen heften lassen, allein Berlin war kaum aus dem Schlafe erwacht, die Straßen waren noch wenig belebt, die große Nachricht verbreitete sich deshalb anfangs langsam, bis sie mit einem Male gegen neun Uhr Morgens durch Depeschen welche auf der Straße verkauft wurden, wie ein lauter, mächtiger Wiederhall die ganze Stadt durchdrang. Der Eine rief es dem Anderen zu, bis es auf jeder Straße, in jedem Hause tönte: „Er ist gefangen! Wir haben Ihn!“

Ganz Berlin war mit einem Male in der freudigsten, begeistertsten Stimmung. Die Fahnen und Flaggen wehten aus den Fenstern, von den Balconen und den Dächern herab. Unbekannte drückten einander die Hand und sprachen kein Wort weiter, als: „Wir haben ihn.“ Ich habe ernste, bejahrte Männer gesehen, denen die Thränen der Freude über die Wangen liefen, und sie hatten sich dieser Thränen nicht zu schämen; manches Mannesauge ist an diesem Tage feucht geworden.

Alle eilten unter die Linden, Tausende wogten dort auf und ab und Tausende schaarten sich vor dem königlichen Palais, wo die Königin wiederholt auf dem Balcon erschien und die Versammelten freudig und bewegt begrüßte. Das Denkmal Friedrich des Großen, welches gerade vor dem [626] königlichen Palais steht, war wie mit einem Schlage lebendig geworden. Wie Katzen kletterte die Berliner Jugend an ihm empor und erreichte kühn die Spitze des Denkmals. Schutzleute wollten ihnen wehren, allein ein Wink aus dem Palais genügte, um die begeisterte Jugend in ihrem Vorhaben nicht zu stören, und es giebt auch Augenblicke, in denen die Berliner Jugend sich durch keinen Schutzmann stören läßt. „Wir müssen den alten Fritzen bekränzen,“ kaum war dies Wort gefallen, so wurden Kränze und Fahnen durch die Jugend hinaufgeschafft, ein großer Lorbeerkranz zierte nach wenigen Minuten das Haupt des alten Helden, Kränze zierten den Kopf und selbst den Schwanz seines Pferdes. Mit Fahnen wurde der Lieblingskönig des preußischen Volkes umgeben, sie flatterten um sein ernst dareinschauendes Haupt, und wir fassen es als ein gutes Zeichen auf, daß er in seiner Linken eine mächtige schwarzrotgoldene Fahne hielt – eine deutsche Fahne! Es war sicherlich das erste Mal, daß diese Farben an diesem Orte wehten.

In der malerischesten Gruppirung stand, saß und hing die Berliner Jugend auf dem Denkmale, an ihm und auf jedem vorspringenden Punkte, ein herrliches Bild, wie es nur der Augenblick schaffen kann.

Unter dem mächtigen Pferde des alten Helden stand ein Lehrling in blauer Blouse, baarfüßig und baarhaupt, das lederne Schurzfell noch vor, wie er soeben seinem Meister entlaufen war, und machte die lustigsten Sprünge. „Wir haben ihn!“ rief er laut, und Tausende wiederholten: „Wir haben ihn!“ Eine Ziehharmonika wurde hinaufgereicht, ein Junge auf dem Pferde des großen Friedrich ergriff sie, spielte „die Wacht am Rhein“, und die ganze Jugend ringsum sang dies Lied und stimmte dann an: „Was ist des Deutschen Vaterland?“

Aus dem Volke, aus der Jugend heraus war die Idee, das Denkmal des Heldenfürsten zu bekränzen und ihm die deutsche Fahne in den Arm zu drücken, entstanden, in wenigen Minuten war sie ausgeführt und ohne leitende Hand waren die Fahnen gruppirt. Von dem Portale des königlichen Palais aus nahm sofort ein Photograph dies lebendig gewordene Denkmal auf. Der alte Fritz von der Berliner Jugend umgeben – ein schönes Bild!

Selbst die Königin war erfreut darüber, sie winkte den ersten kühnen Besteiger des Denkmals, den siebenzehnjährigen Emil Skanitzky herab und zu sich in das Palais. Ohne Zögern kletterte der Gerufene hinab, unten angekommen besann er sich: „Nee, ick will ihr wat mitbringen,“ rief er und ließ sich einen Kranz von dem Denkmal herabwerfen. Mit ihm trat er den Weg zur Königin an, die ihn mit einer Tasse mit dem Bildnisse des Königs und mit zwei Friedrichsd’or beschenkte. Als sie ihn fragte, ob er nicht befürchtet habe, von dem Denkmale, welches, beiläufig bemerkt, zweiundvierzig Fuß hoch ist, herabzustürzen, erwiderte er keck: „Nanu? Und wenn der olle Fritz noch drei Mal so hoch wäre, seinen Kranz hätte er doch gekriegt.“ Huldvoll reichte ihm die Königin die Hand, allein er zögerte dieselbe anzunehmen. „Dat geht nicht, königliche Majestät,“ sprach er halb verlegen, „der olle Fritz war zu staubicht,“ und dabei zeigte er seine beschmutzten Hände.

Bis spät am Abende blieb das Denkmal von der Jugend belagert, und die Hochs, welche sie anbrachten, nahmen kein Ende. Nicht verschweigen darf ich hier freilich, daß die schwarzrotgoldene Fahne noch an demselben Tage von officieller Seite aus dem Arme Friedrich’s des Großen entfernt wurde. Ich hatte sie für seinen höchsten Schmuck gehalten, daß die Farben des ganzen Deutschlands sein Haupt umwehten – in bureaukratischen Kreisen scheint man anderer Ansicht zu sein. Hätte der alte Held indeß seinen Krückstock zur Hand gehabt, – – so würde er es nicht geduldet haben.

Ziemlich zeitig am Morgen eilte der alte Wrangel zum Palais, um der Königin seinen Glückwunsch zu überbringen; kaum ließ er sich jedoch sehen, da umringte ihn auch die Jugend und begrüßte ihn begeistert. Immer mehr wuchs die Schaar um ihn an; sie drückten ihm die Hände, und der alte Freund der Berliner Jugend erlag fast der jugendlichen Begeisterung.

„Laßt, Kinder, laßt,“ sprach er endlich, „ich habe ja nichts dabei gethan.“

„Doch, Excellenz,“ rief ein Junge, „Sie sind dat Karnickel, welches angefangen hat; denken Se an Schleswig-Holstein! Der Vater Wrangel soll leben – hurrah hoch!“ und Hunderte stimmten in den Ruf ein.

Mit diesem jugendlichen Ehrengeleite langte er vor dem königlichen Palais an und brachte vor dem Portale desselben ein Hoch auf den König und die Armee aus, das er später noch mehrere Male unter den Linden wiederholte.

Fast sämmtliche Schulen – nur wenige Directoren hatten die Bedeutung dieses Tages nicht zu begreifen vermocht – waren geschlossen und der erste Aufzug, der vor dem königlichen Palais unter dem Singen der „Wacht am Rhein“ erschien und dort ein Hoch ausbrachte, war von Jungen von acht bis zwölf Jahren gebildet, von denen einer eine deutsche Fahne irgend wo aufgetrieben, um den sich nun die anderen freiwillig schaarten. Es war wieder ein bedeutungsvoller Zug, daß die Jugend den Anfang machte. Ihnen folgten dann Arbeiterzüge aus verschiedenen größeren Fabriken von Schwarze, Schwarzkopf, Borsig, Sigl und Anderen. Diese Züge waren nicht vorbereitet, sondern unmittelbar aus der freudig begeisterten Stimmung waren sie hervorgegangen. In der Werkstatt hatten die Arbeiter die Nachricht empfangen, ohne Säumen hatten sie den Hammer aus der Hand gelegt, sie hatten sich nicht Zeit genommen, den Ruß der Arbeit von der Stirn und den Wangen zu waschen, in ihrem Arbeitsanzuge mit ihrer Fahne voran erschienen sie und brachten der Königin ihren Glückwunsch und ihr Hoch.

Das waren Züge, welche die Begeisterung und das Herz gebildet. In keinem schöneren Schmucke konnten die Arbeiter kommen als in dem Kleide der Werkstatt, die Zeichen der Arbeit noch deutlich im Gesicht und an den Händen. Die Züge sahen nicht festlich aus; aber feierlich. Die Männer, welche sich so freudig ihrer Begeisterung hingeben und in solchem Augenblicke die Eitelkeit einer leeren Form begreifen, die würden auch entschlossen zu den Waffen greifen, wenn das Vaterland ihrer bedürfte.

Aufzug reihte sich an Aufzug, und noch gegen Abend erschienen mit Musik an der Spitze die sämmtlichen Arbeiter, unter denen sich sehr viele Landwehrfrauen befanden, der neu errichteten Erbsenwurstfabrik, welche den Soldaten eine so kräftige und wohlschmeckende Speise liefert, vor dem königlichen Palais.

Während dieses bewegten und ergreifenden Lebens unter den Linden und vor dem königlichen Palais war es an anderen Orten nicht minder lebhaft. Der Victoria auf dem Brandenburger Thore war eine mächtige Fahne in die Rechte gesteckt; die sämmtlichen Denkmäler der alten preußischen Generäle neben dem Opernhause und der Hauptwache waren mit Kränzen geschmückt und mit Fahnen verziert. Von der Spitze des Rathhausthurmes flatterte eine mächtige Fahne, vom Thurme herab tönten die Musikklänge des Liedes „Nun danket Alle Gott“, vor dem Rathhause hatten sich die Schüler verschiedener Schulen mit den Fahnen voran gesammelt und sangen die „Wacht am Rhein“; Tausende stimmten mit ein und Tausenden liefen die Thränen über die Wangen. Ja selbst in dem Schwurgerichtssaale brach die Begeisterung des Tages sich Bahn. Ein Geschworener erhob sich und sagte, daß die Geschworenen an diesem Tage nicht im Stande seien, der Verhandlung mit gewissenhafter Aufmerksamkeit zu folgen. Er stellte den Antrag, die Verhandlung auszusetzen, dem der Staatsanwalt und Gerichtshof auch beistimmten. Der Vertheidiger des Angeklagten, der Rechtsanwalt Holthoff, brachte auf den König und die siegreiche Armee in dem Schwurgerichtssaale ein lautes Hoch aus, dem Alle beistimmten.

Es wehte ein großer feierlicher Zug durch die ganze Bevölkerung hin. Die Werkstätten waren geschlossen, die Läden leer, die eine große Freude über den Sieg und unerwartet großen Erfolg einte alle, Hoch und Niedrig, Jung und Alt, Reich und Arm. Auf der Börse, die sonst nur Interesse für die Course und das Geschäft hat, wurde von allen dort Versammelten „Die Wacht am Rhein“ gesungen, und Hunderte Flaschen Sect, die am Büffet an diesem Morgen getrunken wurden, erhöhten noch die begeisterte Stimmung der Börsenköpfe. Bejahrte Börsenmänner versicherten, daß die Börse einen solchen Tag nie erlebt habe.

Und es war ein großer Tag mit der ganzen vollen, aus dem tiefsten Herzen kommenden Begeisterung. Ich bin Stunden lang durch die Straßen gewandert, habe viele, viele Tausende Menschen an diesem Tage gesehen aber nicht ein einziges Auge, aus dem nicht die Begeisterung und Freude leuchtete, nicht ein Gesicht, auf dem nicht ein Zug der Verklärung sichtbar war. „Nun haben wir die Opfer gern gebracht und wollen nicht mehr klagen!“ sprachen Männer, die einen und selbst zwei Söhne auf Frankreichs Boden verloren. Ja, eine Thräne des Schmerzes den Todten, aber die andre Thräne gebührt den Lebenden, und sie muß eine Thräne der Freude und Begeisterung sein!

Gegen Abend rüstete sich die ganze Stadt freiwillig zur Erleuchtung der Häuser. Millionen Lichter flammten in den Fenstern, Gassterne und -Adler leuchteten vor den Häusern, Transparente, soweit sie sich in der kurzen Frist hatten anfertigen lassen, feierten den großen Sieg und feierten die Germania. Berlins ganze Bevölkerung durchwogte die Straßen. Kanonenschläge und Schüsse dröhnten, Raketen sprühten, bengalische Feuer glühten, und dazwischen warf die Jugend ihre lustigen Schwärmer. An diesem Tage gab es keine Schutzleute, das ganze Volk durfte sich freuen und seiner Freude den lautesten Ausdruck geben.

Eine Stadt läßt sich auf Befehl schöner schmücken und herrlicher erleuchten, als die kurze Zeit gestattete, aber diese Freude und Begeisterung kann keine Macht schaffen. Sie ist das Werk eines großen Augenblicks, und wer solchen Tag erlebt hat, der begreift die Größe eines Volks, das stolz sein darf auf seine Kraft und seinen sittlichen Werth, der begreift, daß die Geschichte uns Augenblicke liefert, die sich für immer einprägen und die Ueberzeugung festigen: es giebt noch eine Macht und ein Recht über uns, die sich durch Menschenlist und -Trug nicht beirren lassen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!

Und noch ein Zug erhöhte die Größe dieses Tages: Berlin feierte nicht den Sieg der preußischen Waffen, sondern den Sieg des deutschen Heeres. Deutschland ist an diesem Tage neu erstanden. Jeder fühlte, wenn er es auch nicht auszusprechen vermochte, daß im ganzen großen deutschen Vaterlande alle Herzen in gleicher Weise schlugen, und diese gemeinsame Freude, dieser Stolz auf unsere Truppen und unsere Todten ist ein Band, welches keine Macht wieder zerreißen kann. Das deutsche Volk ist eins – wer will es trennen?
Fr. Fr.