Brutus (Die Gartenlaube 1872/41)

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Autor: Adeline Volckhausen
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Titel: Brutus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 676–680
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[676]
Brutus.[1]


In den dreißiger Jahren, erzählte meine alte Nachbarin, bewohnten wir in Frankfurt ein altes, aber schönes und besonders stattliches Haus am Main, in der Straße, welche noch jetzt „An der Windmühle“ heißt, obwohl von einer solchen nicht die Spur mehr zu sehen ist. In der Fronte ruhte ein bis zum Dache hinaufgehender Erker auf zwei mächtigen Säulen, zwischen denen sich, in einer tiefen Nische liegend, der Eingang befand. An der hinteren Seite war das Haus durch eine Art von überdachter Brücke mit einem kleinen Hintergebäude verbunden, und Schnörkeleien und Schnitzereien kunstvoller Art bewiesen, daß besonders dieser Theil des Baues noch ein echtes Stück des mittelalterlichen Frankfurts sei. Leider ist das Ganze jetzt abgebrochen und an seine Stelle ein moderner Palast gebaut. Wie dieser, so lag auch das alte Haus mitten im Garten, dessen prächtige Bäume mir damals kaum jünger zu sein schienen als jetzt. Wir waren reich, und da mein Mann sowohl wie ich es liebte, Gäste bei uns zu sehen, so fehlte es kaum jemals an solchen, zumal das weitverzweigte Geschäft die vielseitigste Verbindungen mit sich brachte.

Eines Morgens, es war am 3. April 1833, ließ sich Professor N. aus Würzburg bei mir melden, und nachdem ich mich einige Zeit mit ihm unterhalten hatte, lud ich ihn zu Tische ein, wie das nach der Sitte unseres Hauses selbstverständlich war. Allein N. lehnte ab, weil er in Begleitung eines Collegen gekommen sei, an dessen Gesellschaft er sich gebunden fühle. Da ich nun versicherte, daß es mir ein Vergnügen sein würde, beide Herren bei mir zu sehen, so ward die Einladung angenommen.

Zur bestimmten Zeit erschienen die beiden Gäste, von denen der Eine uns als Professor Schönlein vorgestellt wurde. Es war derselbe, der später als Leibarzt des Königs von Preußen berühmt geworden ist. Damals war er ein noch junger Mann von zwar kräftigem Körperbau, aber ohne die Wohlbeleibtheit der späteren Jahre. Außer den beiden Würzburgern war noch ein Hausfreund, Herr van Oeren, zu Tisch, sonst nur mein Mann und meine zwei Kinder. Aber wir unterhielten uns vortrefflich in diesem kleinen Kreise; B. war ein ausgezeichneter Wirth, die Fremden lebendig und anregend, so daß in Folge dessen die Sitzung sich ungewöhnlich lange hinzog und manche Flasche geleert wurde. Nach Tisch, beim Kaffee, stand ich mit Schönlein eine Weile auf dem Balcon, der sich um den Erker herumzog. Es war Anfang April, die ersten Blüthen sproßten, und ich sprach von dem tiefen Frieden, der über die heitere, sonnige Landschaft ausgebreitet war.

„Ja, Frieden!“ sagte Schönlein, „wer weiß, wann diese Blüthen reifen!“

„Wie meinen Sie, Herr Professor?“

Er antwortete nicht, und sein Auge blitzte ernst über die Stadt hinüber, welche sich links von uns in einem Bogen um das Stromufer hinzog.

Ich schwieg ebenfalls, bis er sich meiner Gegenwart zu erinnern schien. Er fuhr sich durch’s Haar, schaute umher, und wie sein Auge auf mich fiel, frug er lächelnd:

„Haben Sie Muth, Madame?“

„Wie so?“ entgegnete ich, denn ich wußte nicht, was diese Frage, die mir außer allem Zusammenhang schien mit dem, was wir vorhin besprochen, bedeuten sollte.

„Nun – ich meine so! – Haben Sie Muth?“ wiederholte er.

„O – ich glaube! furchtsam bin ich nicht gerade.“

„Das ist gut für allerlei Eventualitäten im Leben.“

„Aber ich verstehe Sie nicht, Herr Professor! was meinen Sie eigentlich?“

„O, ich meine Nichts, aber nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt den Fall, es bräche eine Revolution aus.“

„Hier in Frankfurt?“

„Nun – meinetwegen, ja!“

Ich lachte und behauptete: hier sei so Etwas unmöglich.

„Vielleicht haben Sie Recht,“ entgegnete Schönlein, „aber wir nehmen es ja auch nur an. Würden Sie sich fürchten?“

„Nein, ich glaube nicht,“ erwiderte ich, „denn meine conservativen Frankfurter mir als Revolutionäre zu denken – ganz unmöglich!“

Einen Moment erschien es mir, als wolle Schönlein den Mund aufthun, um noch mehr zu sagen, er schaute mich prüfend an, dann aber brach er von dem Thema ab, und in das Zimmer zurücktretend, sprachen wir von gleichgültigen Dingen.

Unsere Gäste wollten an demselben Abend nach Würzburg zurück; sie nahmen also Abschied, und mit ihnen verließ B. das Haus, so daß ich den Abend mit meinen Kindern allein blieb. Mir war das auch recht, denn im Allgemeinen hatten wir die Regel, entweder Mittags Gäste zu haben oder Abends, nicht beide Mal. Nur Herr van Oeren machte hiervon eine Ausnahme, indem er eben nicht als Gast, sondern als zu uns gehörig betrachtet wurde. Ihn erwartete ich mit meinem Manne zum Thee. Meine Kinder schliefen, es herrschte eine wohlthuende Stille um mich her, und ein interessantes Buch nahm mich ganz in Anspruch.

Plötzlich wurde so heftig an der Schelle gerissen, daß ich erschreckt in die Höhe fuhr. Gleich darauf stürzte van Oeren in mein Zimmer.

„Mein Gott, Madame!“ rief er, „hier sitzen Sie in aller Ruhe, und in der Stadt ist heller Aufruhr!“

„Wie? was sagen Sie?“

„Ja, ja! die Constablerwache und die Hauptwache sind gestürmt; das Volk drängt sich auf der Zeil zusammen, und bewaffnete Haufen ziehen durch die Straßen.“

„Mein Gott, wo mag mein Mann sein?“

„Ich weiß es nicht, ich suchte ihn auf seinem Bureau – er war nicht da. Nun eilte ich hierher, weil ich mir dachte, wie ahnungslos Sie hier sitzen – es schien mir nöthig, Sie zu benachrichtigen. Aber nun muß ich wieder fort!“

„Um Gotteswillen, Herr van Oeren! lassen Sie mich nicht so allein!“ bat ich.

„Noch brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Ich hörte eben, wie man die zusammengelaufene Menge aufrief, sich der gerechten Sache anzuschließen, aber diese Menge schien mir wenig Lust zu haben – es zündete nicht.“

„So sind der Aufrührer nicht viele?“

„Noch nicht; aber man sprach von tausend Bauern, die in der Richtung von Bonames heranzögen. Man kann immer nicht wissen –“

„Ach, Herr van Oeren –“

„Da läutet es, hören Sie? Vielleicht ist es Sturm. Ich muß fort!“

„Nein, nein! erst müssen Sie mir sagen, was man denn will.“

„Das weiß Gott!“ entgegnete er, die Hand an der Thür. „Ich meinte, wir hätten es lange gut. Ich hörte von den Bundesbeschlüssen von Achtzehnhundertzweiunddreißig sprechen – dagegen empört man sich.“

„Vielleicht hat man Recht.“

„Ja, ja, aber was kann es nützen! Nun, ich werde mich erkundigen, Sie sollen Alles wissen – ich komme jedenfalls wieder. Nur Muth! Adieu! Adieu!“ und fort war er.

[677] Ja Muth! „Haben Sie Muth, Madame?“ Sofort hatte ich mich an Schönlein’s Frage erinnert, und unumstößlich klar war mir geworden, daß die Professoren deshalb in Frankfurt anwesend, Gott weiß wie in die Sache verwickelt waren. Ich erschrak tief um ihretwillen, und es stand sogleich fest in mir, daß ich von Schönlein’s höchst unvernünftiger Aeußerung, mir, der ihm fast fremden Frau gegenüber, zu schweigen habe, selbst gegen meinen Mann, denn daß die Sache der Aufrührer bei ihm keine Sympathie finden würde, dessen war ich gewiß.

Um mich blieb es indeß vollkommen still und friedlich, wie vorher, nur daß das Geläute allerdings noch fortdauerte; aber für Den, der nicht wußte weshalb, klang das mehr friedlich als sturmbedeutend. Die Dienerschaft ahnte nichts, und das war mir lieb, denn Kutscher und Gärtner wären ohne Zweifel zur Stadt gelaufen, und die Mägde würden unnöthiger Weise in Alarm gebracht worden sein.

Aber mir war es unheimlich, so einsam in den weiten Räumen zu sein, und ruhelos wanderte ich hin und her. Bald war ich an den Bettchen meiner Kinder, bald suchte ich Schmuck und Juwelen zusammen – auch Mäntel und andere Kleidungsstücke. Es war bereits ein ansehnlicher Haufen geworden, der mich bedenklich machte, weil nicht Alles fortzuschleppen war, und möglich doch immerhin, daß wir flüchten mußten. Und all’ mein kostbares Silberzeug – sollte es zurückbleiben? Die schönen Möbel, die Teppiche, Bilder und allerlei Kunstwerke? Es schien mir entsetzlich, wenn ich mir dachte: das Alles wird nun vielleicht zerstört, und daran sind die Bundesbeschlüsse schuld. Freudig – ich gestehe es – hätte ich das Opfer nicht gebracht.

Indeß läutete es nicht mehr; zuweilen bildete ich mir ein, Gewehre knattern zu hören, obwohl es kaum möglich war, daß der Wind mir zutrug, was auf der Zeil passirte.

Als mein Mann und van Oeren gegen elf Uhr nach Hause kamen, war Alles vorbei – sie hatten nur Spott für die Attentäter. Schweigend packte ich meine Juwelen wieder aus und hing Kleider und Mäntel an ihren Platz.

Es war, wie leicht begreiflich, von nichts Anderem die Rede, als von dem Krawalle. Unsere Mittagsgäste schienen vergessen; ich aber gedachte ihrer im Stillen mit banger Theilnahme, denn wer konnte wissen, ob sie nicht unter die Zahl der Verhafteten gehörten?

Wie groß war daher meine Freude und meine Ueberraschung, als mir am andern Morgen schon um neun Uhr Professor Schönlein gemeldet wurde. Ich empfing ihn sogleich und hörte seine Entschuldigung wegen des ungewöhnlich frühen Besuches kaum an.

„Ich bin doppelt erfreut, Sie zu sehen, Herr Professor,“ sagte ich, „nach den Ereignissen von gestern Abend –“

„Ja, denken Sie,“ unterbrach er mich, „man bringt meine und N.’s Anwesenheit hier in Frankfurt mit dem Attentat in Verbindung, das heißt, es ist mir gesteckt worden, daß man uns in Verdacht hat, um die Sache gewußt zu haben – wie lächerlich! Aber wir sind deshalb nicht abgereist, wir wollen zeigen, daß wir keine Ursache haben, Reißaus zu nehmen. Statt dessen bleiben wir noch einige Tage, und unwiderstehlich zog es mich zu meiner liebenswürdigen Wirthin von gestern, um zu hören, wie sie sich nach dem Schrecken des gestrigen Abends befindet.“

„Ich verstehe,“ konnte ich nicht umhin lächelnd zu erwidern, denn es war mir natürlich sofort klar, daß Schönlein seine unvorsichtigen Worte ignorirt wissen wollte, und daß dies der einzige Grund seines frühen Besuches war. „Aber,“ fuhr ich fort, „von dem Aufstande habe ich hier gar nichts gehört, und ich hätte erst nachträglich davon erfahren, wenn van Oeren mich nicht unnöthiger Weise benachrichtigt hätte. Hier herrschte tiefer Frieden und Todtenstille.“

„Was Sie sagen! So klein war der Stein, der in’s Wasser fiel, daß er nicht einmal bis hierher seine Kreise zog? Und er sollte einen Sturm aus der Tiefe beschwören! Jetzt sind einige dreißig junge Männer das Opfer; sie hofften Helden zu sein, Leonidas, Tell oder Winkelried, nun sitzen sie auf der Hauptwache in Frankfurt hinter Eisengittern und müssen eines Urtheils harren, das Gott weiß wann gefällt wird und wie! – Es ist entsetzlich!“ rief er aufspringend und unruhig auf- und abgehend.

„Sind Ihnen Einige von den Theilnehmern zufällig bekannt, Herr Professor?“ fragte ich.

„Nein – ja – das heißt – man weiß ja die Namen noch nicht alle. Aber ein junger Brausekopf, den ich liebe, als ob er mein Bruder wäre, dessen Hirn voller Posagedanken steckt – ach! ach! mir sagt eine Ahnung, daß er bei diesem Unternehmen nicht gefehlt hat!“

„Die armen jungen Leute! denn jung sind sie gewiß,“ sagte ich. „Haben sie Schlimmes zu gewärtigen?“

„Gewiß haben sie das. Mit den Waffen in der Hand ergriffen – bedenken Sie! es steht der Tod darauf.“

„O, unmöglich! es muß doch darauf ankommen, was die Empörer gewollt haben; die Absicht war vielleicht nicht so schlimm.“

Schönlein lächelte eigenthümlich. „Kindliche Anschauung!“ rief er aus, und obwohl das nichts Anderes hieß als sancta simplicitas! so beleidigte es mich doch keineswegs, denn damals war es auch nicht wie achtundvierzig und nachher. Seit die Freiheitskriege vorbei waren, kümmerte kein Frauenzimmer sich mehr um Politik, und ich bin überzeugt, daß es zur Zeit des deutschen Parlamentes hier in der Paulskirche Anderen grade so ging wie mir: ich wußte nicht einmal, was rechts und links bedeuten sollte, wovon man immer redete.

„Es gilt Alles für schlimm,“ fuhr Schönlein fort, „was an dem Bestehenden zu rütteln sucht. Man hat dafür ein böses Wort erfunden. ‚Verrath‘ genügt nicht, so nennt man es ‚Hochverrath‘, um den Culminationspunkt aller Verbrechen zu bezeichnen. Eigentlich aber ist es nichts als Hochpatriotismus, Hochbegeisterung oder auch Hochirrthum – meinetwegen! Verrath ist eine Schande, Hochverrath eine Ehre. Verrath ist feige und niedrig, Hochverrath begeisterte, selbstlose Hingebung. Der Verräther ist gebrandmarkt, den Hochverräther feiert die Geschichte. Judas war Verräther, – Brutus Hochverräther – verstehen Sie mich, Madame?“

„Vollkommen, Herr Professor,“ erwiderte ich, mit einer gewissen ehrerbietigen Befremdung den mir bis dahin so jovial erscheinenden Lebemann betrachtend. Er war offenbar überaus aufgeregt und mochte entweder nicht im Stande sein, sich zu beherrschen, oder es für unnöthig halten.

„Also die jungen Leute sind Hochverräther,“ nahm er wieder das Wort, „für solche gab es ehemals Rad und Strang, heute das Schaffot oder lebenslängliche Festungshaft, ach! und mein armer, armer Brutus Wolle spinnen, Matten flechten: der Gedanke läßt mich nicht schlafen.“

„Ist denn gar Nichts zu thun, Herr Professor?“ fragte ich voller Theilnahme.

„Nichts! Nichts! gar Nichts! dies Gefühl vollendeter Ohnmacht ist ja grade das Entsetzliche. Was sollte man thun können?“

„Nun – wer weiß?“ entgegnete ich. „Mein Mann ist reich, und wir haben weitverzweigte Verbindungen.“

„O! – Ich habe an Derartiges noch gar nicht gedacht, wie Sie begreifen werden. In meinem Kopfe ist ein Chaos und es läßt sich ja auch noch nicht absehen, wie die Sache läuft. Aber ich will auf keinen Fall von der Hand weisen, was Sie mir da sagen. – Sie sind gut und theilnehmend, das wußte ich gestern gleich – ich danke Ihnen von Herzen!“ rief er aus, indem er dabei meine Hand faßte.

„Aber wofür danken Sie, Herr Professor?“

„Für Ihren guten Willen. Wer kann wissen, ob ich nicht eines Tages darauf zurückkomme, denn ich werde den Lauf dieser Sache verfolgen, als ob es meine eigene wäre. Und kann ich den Armen – sagen wir Verirrten – nützen, so geschieht es ohne Hehl; möglich, daß ich mich dabei an den Beistand edler Frauen wende, ja, ja! es ist sehr möglich. Die Frauen sind hochherzig und sie sind unverdächtig. Sie haben mir doch ein kleines Licht gezeigt in dieser jammervollen Geschichte, eine Dämmerung, auf welche ich meine Blicke hin richten kann. Ich gehe etwas ruhiger von Ihnen fort, als ich hergekommen.“

Ruhig schien mir der Herr Professor nun keineswegs zu sein, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, ein äußerlich gefaßtes Wesen zu behaupten. Er blieb noch eine Weile, und wir sprachen sogar von Allerlei, aber nachdenklich flog oft sein Auge über den Strom und den jenseits liegenden Wald hinüber oder mainabwärts, wo ein Holzfloß von den treibenden Fluthen getragen wurde.

„Ihr Haus liegt ausgezeichnet,“ sagte er ganz plötzlich. „Den Main so dicht vor Augen, fast vor der Thür. Man fragt sich unwillkürlich, wohin die Wellen eilen.“

„Nun, von hier nach Mainz,“ entgegnete ich lachend, „das können Sie auf jeder Landkarte sehen.“

[678] „Freilich, freilich! aber eigentlich doch noch weiter, viel, viel weiter! eigentlich bis Amerika. Finden Sie nicht, gnädige Frau?“

Jetzt verstand ich. „O ja, gewiß! nach Holland, da habe ich einen Bruder, nach England, da haben wir viele Freunde, und wenn Sie wollen, auch nach Amerika. Das spielt in der heutigen Welt ungefähr die Rolle des heiligen Altars von ehemals. Verbrecher, Flüchtlinge und Compromittirte, die seinen gesegten Boden berühren, kann man nicht fassen.“

„Dies elende Fahrzeug könnte mich retten!“ citirte er, mit der Hand auf einen Kahn deutend, der am Ufer angekettet lag. „Besitzen Sie ein Boot, Madame?“

„Nein, aber wir haben öfter davon gesprochen, eins anzuschaffen; es soll auch geschehen, ganz gewiß, denn ich liebe Wasserfahrten so sehr.“

„Und das Rudern ist eine so gesunde Bewegung. Ich kann es aufrichtig dem Herrn Gemahl empfehlen,“ sagte Schönlein, indem er sich erhob.

„Ich werde nicht ermangeln, mich auf des Herrn Professors Autorität zu berufen,“ entgegnete ich. „Wenn Sie einmal wieder kommen – ich hoffe, es ist bald –, so verspreche ich Ihnen eine Wasserfahrt im eigenen Boote, vielleicht von mir selber gerudert.“

So schieden wir mit heiteren Worten und Beide doch ernster Gedanken voll.

Ich sah Schönlein aber nicht so bald wieder, als ich gedacht hatte, nur Professor N. erschien einmal bei uns nach etwa sechs Wochen.

„Ich werde Schönlein erzählen, daß ich in Ihrem Boote auf dem Main gefahren bin,“ sagte er beim Fortgehen und muthmaßlich war dies eine Andeutung, die nur ich verstehen sollte.

Das Schicksal der jungen Leute, welche bei dem „Frankfurter Attentat“ betheiligt waren, erregte in ganz Deutschland die allgemeinste Sympathie, natürlich aber hier auf dem Schauplatz der That am allermeisten. Nicht etwa, daß die Bevölkerung im Allgemeinen ihrer Verschwörung einen minder kläglichen Erfolg gewünscht hätte – das nicht, aber namentlich unter der gebildeten Classe gab es doch eine ganze Anzahl, welche den selbstlosen idealen Zweck des gescheiterten Unternehmens verstanden, und wo dies nicht der Fall war, da behaupteten bei dem langsamen und schleppenden Gange der Untersuchung Mitleid und Theilnahme ihr Recht.

Je mehr sich’s ergab, daß das „hochverrätherische“ Unternehmen ein weitverzweigtes, bis in’s Ausland hinein reichendes war, um so länger drohte die Untersuchungshaft zu dauern, um so bedenklicher erwartete man das Endurtheil. Es konnten Jahre darüber hingehen – hieß es.

Dies geduldig abzuwarten, war man nicht geneigt. Die Freunde waren nicht müßig, sondern ein Complot arbeitete im Stillen und auf den geheimsten Wegen, um den Armen zur Flucht zu verhelfen.[2] Da fand sich’s denn in der That, daß man dazu auch der Frauen bedurfte, und zwar zählte man dabei nicht nur auf ihr Mitleid, auf ihre Bereitwilligkeit, sondern auch auf ihre Schlauheit und Erfindungsgabe und vor allen Dingen auf ihre Verschwiegenheit.

Das ganze, im Verborgenen gesponnene Netz kannte ich nicht, begehrte es auch nicht zu kennen – genug, daß ich mit einer Anzahl anderer Frauen mein Wort gegeben hatte: zu jeder Zeit und zu jeder Stunde unweigerlich zu jedem Dienste bereit zu sein, den man in Betreff der Gefangenen von uns fordern würde.

In dem Augenblick, wo ich das Versprechen leistete, war mir ernst und feierlich, ich gestehe, sogar etwas bange zu Muthe; ich wußte, daß die Sache nicht ohne Gefahr war, und dachte mir die mögliche Tragweite aus, aber entschlossen war ich, mein Wort zu lösen, koste es was es wolle. Mit einer gewissen Spannung und Aufregung sah ich jedem folgenden Tag entgegen. Kam ein Brief, so dachte ich an eine Botschaft; schellte es, so erwartete ich Ordre; fuhr ein Wagen vor, so meinte ich: es sucht Jemand Zuflucht. An all’ das aber dachte ich nicht, als mein alter Doctor F. erschien. Auch unterhielten wir uns heiter und unbefangen, aber nur kurze Zeit, denn mein Doctor war sehr eilig.

„Bitte,“ sagte er, „ich war so lange nicht in Ihrem Garten, wollen wir nicht einmal durch denselben spazieren?“

„Herr Doctor! bei der Nässe und der Kälte!“ denn es war bereits im Spätherbst des Jahres.

„Ach, binden Sie ein Tuch um!“ entgegnete er. „Wie Mancher wäre glücklich, wenn er in das Unwetter hinaus könnte!“

Ich blickte ihn an und verstand, obwohl ich keine Ahnung gehabt hatte, daß auch er zu den Wissenden gehörte.

Die wenigen Herbstblumen und die fast entblätterten Bäume schaute er gar nicht an, verlangte auch nicht das Treibhaus zu sehen, sondern legte kurzweg meinen Arm in den seinen und schritt mit mir den breiten Hauptweg entlang.

„Können Sie über den heutigen Abend verfügen?“ fragte er ohne weitere Einleitung.

„Ich bin mit meinem Mann zum Souper bei J. eingeladen,“ erwiderte ich.

„So bleiben Sie zu Hause!“

„Mein Mann würde mit mir bleiben.“

„Das darf nicht sein.“

„Was verlangt man?“ fragte ich.

„Um neun Uhr müssen Sie zu Diensten stehen.“

„So lassen Sie mich nur machen – was soll ich thun?“

„Punkt neun Uhr sind Sie in der Haasengasse.“

Ich nickte bejahend.

„Um die Ecke links wird ein Mann kommen und an Sie herantreten – Sie sagen kein Wort.“

„Kein Wort!“ wiederholte ich.

„Er wird fragen: ‚Ist es geschehen?‘ Darauf antworten Sie: ‚Es ist geschehen, Brutus,‘ nehmen seinen Arm und – nun, das Weitere ist Ihre Sache. Man sagt, Sie wüßten einen sicheren Ort, ist es so?“

„Ja, einen vortrefflichen Ort.“

„Ich halte meine Wohnung nicht für sehr geeignet,“ fuhr der Doctor fort, „auch wäre eine Haussuchung bei mir nicht unmöglich, aber natürlich stehe ich dennoch zu Gebote, falls Sie nicht ganz sicher sind.“

„Ich bin ganz sicher, ich freue mich, dienen zu können,“ entgegnete ich.

„Das sehe ich Ihnen an,“ sagte Doctor F., „– diese Astern sehen noch ganz leidlich aus,“ fügte er mit etwas erhobener Stimme hinzu, denn der Gärtner kam heran. „Ihre Orangen will ich ein anderes Mal sehen. Gott! gleich fünf Uhr!“ rief er, die Uhr herausziehend. „Ich muß fort. Adieu! Adieu!“

Der Gärtner hatte irgend ein Anliegen, aber ich konnte mich nicht zu besonnener Antwort zwingen, sagte, ich hätte keine Zeit, und eilte in’s Haus.

Ich war aufgeregt, wie vielleicht nie in meinem Leben, und doch hatte ich mit vollster Besonnenheit allerlei Vorbereitungen, und zwar in eigenster Person, zu treffen. Das war nicht leicht, denn ich mußte die Blicke des Hauspersonals und selbst der Kinder von meinem Thun ablenken. Ich war aber doch glücklich damit zu Stande gekommen und hatte in aller Eile ein wenig Toilette gemacht, als B. erschien, um mich zu dem Souper zu begleiten.

„Wie siehst Du echauffirt aus!“ rief er sogleich, „fehlt Dir Etwas?“

„Ich – ich habe Kopfweh. Es wird mir furchtbar schwer in Gesellschaft zu gehen,“ sagte ich mit abgewandtem Gesichte.

„So wollen wir hier bleiben,“ entgegnete mein Mann. „Martin soll sogleich absagen.“

„Nein, mein Lieber, gehe Du allein und entschuldige mich, ich werde mich dann gleich zu Bette legen.“

„Gott bewahre! ich bleibe, es ist ohnedies unausstehlich langweilig bei J.’s, ich bin froh, einen Vorwand zu haben.“

Ich erschrak. Sagen durfte ich meinem Manne Nichts, denn es war uns sämmtlichen Frauen eingeschärft worden, wie sehr wir das Schweigen wörtlich zu nehmen hatten, auch wußte ich zu gut, daß mein lebhafter unruhiger Mann zu Nichts weniger zu gebrauchen war, als zu dem Amte, welches mir anvertraut – gesetzt den Fall, daß er überhaupt dazu geneigt gewesen wäre, was ich sehr zu bezweifeln Ursache hatte.

[679] „Nein,“ sagte ich, „absagen lassen im letzten Moment, ohne die allerdringendsten Gründe, das geht nicht; zwei Plätze leer lassen – das kann Frau J. nicht verzeihen. Ueberdies bin ich nun einmal angezogen, vielleicht wird mir besser – ich will mitgehen.“

Wir gingen also. Um acht Uhr pflegte gegessen zu werden. Die Einladung lautete auf sieben Uhr, und wir waren rechtzeitig dort.

Ich hielt immer mein mit Eau de Cologne getränktes Tuch an die Schläfen, und alle Welt nahm Theil an meinem Leiden.

„Ich bleibe bis zum Aeußersten,“ sagte ich zu Frau J., „stellt sich aber Uebelkeit ein, wie gewöhnlich bei diesem Kopfweh, so muß ich verschwinden.“,

Das begriff die gute Dame vollständig, ich sah es an ihrem ängstlichen Gesichtsausdruck, und sie half mir auf das Bereitwilligste, als ich noch vor acht Uhr erklärte, ich wage nicht mehr zu bleiben. Als B. meine Abwesenheit gewahr wurde, hieß es, ich liege nun schon lange zu Bett, und so konnte es ihm nicht einfallen, mir zu folgen.

Indeß war ich an der Seite des Dieners, den Frau J. mir aufnöthigte, nach Hause geeilt, erklärte auch hier, daß ich mich sehr unwohl befinde, und begab mich hinauf in mein Schlafzimmer, strenge Ordre gebend, mich durchaus nicht zu stören. Das mich nach oben begleitende Mädchen hatte kaum das Zimmer verlassen, als ich die Thür verriegelte, mein helles seidenes Kleid auszog und ein dunkles unscheinbares überwarf. Dann band ich ein Tuch um den Kopf, ein anderes um die Schultern, nahm einen großen Regenschirm und eilte dem früher schon erwähnten Gange zu, der nach dem Hinterhause führte. Eine schwere Commode, welche für gewöhnlich die Thür verrammelt hielt, hatte ich gänzlich ausgeräumt, ich schob sie mit leichter Mühe fort; das Schloß hatte ich bereits geöffnet, und so trat ich in den düsteren Corridor, aus dem mir eine modrige, staubige Atmosphäre entgegenwehte. Dort erst aufzuräumen hatte mir die Zeit gemangelt. Langsam tappte ich meinen Weg durch allerlei Gerümpel hindurch. Eine Diele des morschen, lange nicht betretenen Baues brach ein unter meinen Schritten, ich stolperte, und es entstand ein ziemlicher Lärm. Natürlich erschrak ich furchtbar, in meiner Aufregung zuerst einen Sturz in die Tiefe fürchtend, und als ich einsah, daß diese Angst sehr überflüssig war, besorgte ich, man möchte das Geräusch gehört haben, Diebe vermuthen, hierher eilen und mich finden. Aber umzukehren war absolut keine Zeit, ich wußte, was an einer Versäumniß hing, und mit Fieberhast eilte ich vorwärts, entschlossen – koste es, was es wolle – meinen Weg zu gehen. Indeß Alles blieb ruhig.

Im Hinterhause wohnte der unverheirathete Gärtner, der um diese Zeit niemals zu Hause, sondern im Wirthshause zu finden war. Auch beschränkte er sich auf das Parterre; die beiden oberen Zimmer wurden gar nicht gebraucht, und schnell und unbehelligt konnte ich, nachdem einmal der Corridor passirt war, bis an die Hausthür gelangen.

Ich athmete tief auf, als die frische Nachtluft mich umwehte, und schaute bei der nächsten, trübe brennenden Oellaterne zuerst auf meine Uhr. Es war halb neun, und ich hatte noch einen weiten Weg zu machen. Es gereichte mir zur Beruhigung meinen Schirm öffnen zu können, weil ein feiner Regen niederfiel; ich kam mir so gesicherter vor, obwohl mich in meiner Verkleidung und bei der damals so elenden Beleuchtung sicher kein Mensch erkennen konnte.

Ich lief fast der Stadt zu, meine Stirn glühte, mein Herz klopfte und meine Hände waren eiskalt; daß ich mir den Fuß verletzt hatte, merkte ich nicht, so sehr war ich aufgeregt. Mein ganzes Bestreben war darauf gerichtet, in dem Gewirre von Gassen, die ich zu passiren hatte, die directeste Richtung einzuhalten. Am Bernhardsthor bog ich in die Stadt ein, dirigirte mich an der Paulskirche vorbei, dann auf den Liebfrauenberg zu und bog in die Tüngesgasse ein. Hier zog ich nochmals meine Uhr, es fehlten noch fünf Minuten bis neun. Langsam ging ich bis zur bestimmten Ecke und wartete hier in nicht zu beschreibender Spannung. Die Straße war todt und still, selten schallte ein Schritt zwischen den engen Häuserreihen. Da schlug es vom Dom, und ein fiel mit hellerem Klange die nahe Liebfrauenkirche.

Ich trat um die Ecke der Haasengasse.

In demselben Moment löste sich aus dem Schatten der nächsten Gasse eine Gestalt ab.

Sie schien eine Weile zu zögern, blickte sich um und kam dann mir entgegen. Mir war zu Muthe, als müsse ich irgend ein Zeichen geben, und so ließ ich denn meinen Schirm auf die Schulter fallen, so daß er nach hinten lag und mein Gesicht frei gab. Darauf that der Mann, als ob er an mir vorüber gehen wollte, und sagte, wie zu sich selber, aber laut:

„Ist es geschehen?“

„Es ist geschehen, Brutus,“ war meine Antwort.

Sofort bot er mir den Arm und schweigend schritten wir des Weges zurück, den ich gekommen, ich froh und glücklich, wie im Bewußtsein einer vollbrachten Heldenthat, während doch noch lange nicht Alles glücklich vorüber war. Erst als ich das Hinterhaus geöffnet und von innen wieder zugeschlossen hatte, sagte ich: „Geben Sie mir die Hand!“ und führte dann meinen Schützling die Stiegen hinauf und glücklich über den ominösen Corridor in das jenseitige Zimmer, wo Kleider- und Leinenschränke standen und dessen Schlüssel ich sehr wohl abziehen konnte, ohne daß solches im mindesten auffällig gewesen wäre.

Jetzt machte ich Licht und sah mir meinen Gefangenen an, – ein höchstens zwanzigjähriger, bildhübscher Mensch mit braunen verwilderten Locken und großen dunklen Augen. Er dankte mir mit Thränen und in einer Weise, die mich selber zu Thränen rührte. Aber ich mußte ihn schweigen heißen und zur Eile mahnen, denn Alles sollte in Ruhe und Ordnung sein, wenn B. nach Hause kam.

Ich hatte für Waschwasser und frische Kleider gesorgt.

„Fünfzehn Minuten haben Sie Zeit,“ sagte ich, „dann komme ich wieder.“ Damit verließ ich das Zimmer und kam nach Verlauf der Frist mit einem Korbe voll Eßwaaren und einer Flasche Wein zurück. Ich war erstaunt über die noble Erscheinung des Fremden, als er jetzt in anständigen Kleidern mir entgegentrat, – offenbar gehörte er den gebildetsten Lebenskreisen an.

Wie leuchtete sein Auge, als ich meinen Korb auspackte! Ich hatte das Beste gewählt, was meine Speisekammer aufzuweisen hatte, und mit Gier fiel er darüber her.

Aber plötzlich legte er Messer und Gabel hin und sagte: „Ah, Madame! Sie wissen sicher nicht, was Hunger ist, bis vor einem halben Jahre habe ich es auch nicht gewußt. Verzeihen Sie, daß Sie mich so essen sehen!“

Ein Zug von Humor spielte dabei um seinen feinen Mund, und ich erzählte zu seiner Beruhigung von einem Cousin, dessen Appetit im normalen Zustande mit Leichtigkeit eine ganze Gans bewältigen könne. Zugleich aber machte ich mir im Zimmer Allerlei zu schaffen, damit er sich unbeachtet wisse, ging auch zuweilen in’s Nebenzimmer und gönnte ihm reichlich Zeit, zu essen und zu trinken, ohne ihn mit Reden zu stören. Endlich schob er den Teller zurück, lehnte sich hintenüber und erklärte fertig zu sein. Darauf half er mir Geschirr und Ueberreste wieder in den Korb thun, wobei er sich in Dankesworten erschöpfte. Dann wies ich ihm sein auf der Erde bereitetes Lager an, nahm das Licht mit mir, schloß die Thür zu und überließ ihn sich selber. Als B. nach Hause kam, lag ich ganz still zu Bett, so daß er mich schlafend glaubte.

Am anderen Nachmittag erhielt ich folgendes Billet:

„Deponiren Sie einen Frauenanzug! Gewisse Thüren dürfen heute Abend nicht verschlossen sein. Besorgen Sie nichts! man spürt auf ganz anderer Fährte. – Sogleich zu verbrennen.“

In meinem Brief lag ein anderer: „An Brutus.“

Ich packte sogleich den dunklen Anzug zusammen, den ich am Abend vorher getragen hatte, fügte aber noch falsche Locken hinzu, wie sie damals zu beiden Seiten der Schläfe getragen wurden, einen Mantel, einen Sammethut mit langem Schirm, in dem das Gesicht wie in einer Röhre steckte, und einen Schleier.

Damit begab ich mich zu meinem Schützling. Nach Lesung des Billets, was ebenfalls gleich vernichtet wurde, und beim Anblick der mitgebrachten Garderobe gerieth Brutus in freudige Aufregung und der Ausdruck seiner Dankbarkeit gegen mich kannte keine Grenzen.

„Ich habe nur Worte, Madame, nichts als Worte und in diesem Augenblick nicht einmal die Hoffnung, jemals auf andere Weise meine Dankbarkeit beweisen zu können; aber wenn in meinem Leben künftig ein Hülfesuchender oder ein Nothleidender an mich herantritt, so werde ich Ihrer gedenken, Madame, und Anderen zahlen, was ich Ihnen schuldig bleiben muß.“

[680] „So ist es auch recht,“ sagte ich, „das ist die beste Schuldentilgung. Seien Sie also vernünftig und nehmen auch das noch, zahlen Sie es heim, wenn Sie wollen. Ich bin reich und werde es nie entbehren.“

Damit legte ich eine Börse auf den Tisch. Heute würde ich sie in eine Tasche des hingelegten Kleides stecken, aber damals hatten die Frauenzimmer lächerlicher Weise noch keine Taschen in ihren faltenreichen Röcken, sondern trugen Pompadours, Ridicüles etc. Ich mußte das Geld förmlich übergeben. Brutus erröthete zwar, aber freimüthig nahm er doch an, was ich ihm bot.

„Ich werde zahlen, wenn ich freier Bürger bin,“ sagte er einfach.

Bisher hatte ich den Schlüssel des Zimmers immer mit mir genommen, heute ließ ich ihn dem Gefangenen, damit er sich selber einschließen konnte. Der Schlüssel nach dem Corridor steckte ohnedies von innen, und so befand er sich in der ausgezeichneten Lage, daß er sowohl nach der einen, wie nach der andern Seite entkommen, einem unliebsamen Besuch entgehen, einen andern aber einlassen konnte, sei es nun, daß er durch das Haupthaus oder durch das Hinterhaus komme.

Brutus hatte die Absicht ausgesprochen, die Frauenkleider sogleich anzulegen, um auf alle Fälle bereit zu sein oder sonst sich im Tragen derselben zu üben, damit sie ihm nicht gar so unbequem wären. Ich versprach in einer halben Stunde zur letzten Nachhülfe wiederzukommen und auch, um zu prüfen, ob nichts Verkehrtes und Auffälliges an der Frauenerscheinung zu merken sei. Wir vermutheten Beide, daß in der kommenden Nacht eine Entführung beabsichtigt werde, und nicht nur um des Gefangenen, sondern auch um meinetwillen war mir das höchst angenehm, denn das längere Geheimhalten eines solchen Hausbewohners erschien mir mit jeder Stunde schwieriger, und die beständige Gefahr, in welcher der junge Mensch schwebte – so wie ich selber am Ende auch – nöthigte mich, mein Kopfweh in Permanenz zu erklären, weil ich durchaus nicht im Stande war, meine fieberhafte Unruhe vollständig zu zügeln.

Als ich kaum in meine Wohnung zurückgekommen war, wurde Professor Schönlein gemeldet. Ich war auf’s Freudigste überrascht, denn ich dachte: das ist ein Berather und ein Helfer, es wird Etwas geschehen, es wird Etwas von mir verlangt werden, man spricht sich wenigstens aus und das ist eine Erlösung.

Aber in dieser Erwartung sah ich mich vollständig betrogen. Schönlein redete von allem Möglichen, nur nicht von dem, was mir auf der Seele, auf den Lippen brannte. Andeutungen meinerseits, leise Versuche darauf hinzulenken, schien er ganz und gar nicht zu verstehen, obwohl er unbedingt wahrnahm, daß ich keineswegs bei der Sache war. Wie hätte ich auch vom Theater reden können, während ich mir vorstellte: gleich kommen die Schergen durch’s Hinterhaus und schleppen einen jugendlichen Schwärmer auf’s Schaffot; oder wie von einer Gesellschaft bei Senator H., während ich dachte: sie kommen in’s Vorderhaus und führen eine Frankfurter Patrizierin zum Entsetzen ihrer ganzen Familie in’s Gefängniß! Ob man mir wenigstens erlauben würde, mich meines Wagens zu bedienen? – Wird nicht gleich Etwas die Treppe herunterstürmen und Brutus fliehen in meinen Kleidern? Hört man Nichts von einem Handgemenge? kein Geschrei und kein Lärmen?

Ich horchte und blieb dem Professor die Antwort schuldig auf eine Frage nach dem neuesten Almanach – überhaupt trug er die Kosten der Unterhaltung ganz allein. Als er aber von Musik zu reden anfing und gar meinte, ich solle ihm etwas vorspielen oder singen, da sprang ich empört auf, denn da er unbedingt wußte, was mich quälte, so machte mich diese Zumuthung ganz toll.

„Ich meine, Ihnen gesagt zu haben, daß ich Kopfweh hätte,“ sagte ich kurz und schneidend.

„Ich weiß, Madame,“ versetzte er, „aber Musik beruhigt die Nerven.“

„So spielen Sie doch, ich bitte! da steht mein Flügel.“

„Darf ich Licht bestellen?“

„Natürlich!“

Ob er musikalisch war oder nicht, wußte ich durchaus nicht; aber wahrhaftig! der empörende Mensch tritt an’s Clavier, sucht gelassen unter den Noten, setzt die beiden Kerzen, welche gebracht wurden, zurecht, nimmt Platz und spielt, spielt hinreißend eine Sonate von Mozart, wie ich sie kaum je schöner gehört. Das Adagio rührte mich in meiner nervösen Aufregung zu Thränen, zugleich aber ward mir besser danach.

„Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Professor,“ sagte ich, als er geendet, „aber Sie dürfen heute nicht mit mir rechten.“

„Ich weiß es,“ sagte er ernst, „und mit der Musik,“ fuhr er scherzend fort, „ist es immer noch wie zu König Saul’s Zeiten.“

„So sind Sie mein David gewesen,“ vermochte ich ebenfalls zu scherzen.

„Ja! ja! – Aber mir ist heiß geworden – darf ich die Balconthür öffnen?“

„Es ist eine Doppelthür.“

„O das macht nichts – Kleinigkeit!“

Gewandt und behende öffnete er Schlösser und Riegel, stellte sich mitten in den Zug der hereinströmenden Abendluft und machte mich lachen, indem er noch obendrein sein weißes Taschentuch zog, um sich Kühlung zuzufächeln. Dann nahm er seine Lorgnette und spähete scharf nach rechts und nach links, wobei sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck gewann, als wie er heute zur Schau getragen. Schweigend und in sich gekehrt trat er in’s Zimmer zurück. Ich sprach auch nicht; denn da er offenbar über die bewußte Angelegenheit nicht reden wollte, so wünschte ich, daß er ginge, damit ich nach meinem Schützlinge sehen könnte, der mich ohne Zweifel schon längst erwartete.

Kaum hatte der Professor sich entfernt, als ich hineilte. Ich pochte leise an die Thür – keine Antwort; pochte nochmals – Alles still. Ich legte die Hand auf den Drücker; er gab nach, und ich trat ein. Aber es war dunkel, obwohl mein Gefangener sehr wohl Licht machen konnte.

„Brutus! – Brutus!“

Keine Antwort. Ich ging auf die andere Thür zu, sie war unverschlossen. Dann machte ich Licht, und unzweifelhaft war’s: mein Gefangener war entflohen!

Mir fiel ein Stein vom Herzen, und auch ein anderes Licht ging mir auf, indem ich erkannte, was Schönlein’s Besuch bedeutete. Mich sollte er beschäftigen und fernhalten, mich wollte man wahrscheinlich nicht compromittiren. Ich hatte das Meinige gethan. Das Licht im Wohnzimmer war ein Signal – vielleicht daß Alles in Ordnung sei; das Clavierspiel ein Signal, und schließlich die Gestalt des Professors selber in dem Rahmen der erhellten Thüröffnung, das wehende Taschentuch – Alles Signale. Dabei fiel mir ein, daß er jeden Augenblick auf die Uhr gesehen, jedenfalls hatte er seine Sache vortrefflich gemacht und mich in meiner Leichtgläubigkeit vollständig dupirt.

Den Namen meines Schützlings – Feddersen – erfuhr ich aus den Steckbriefen, er den meinigen erst von meinem Bruder – so vorsichtig war man nach allen Richtungen hin zu Werke gegangen.

Ad. Volckhausen.



  1. Wir bemerken ausdrücklich, daß der Inhalt der obigen Schilderung kein erfundener, sondern ein durchweg wahrer ist.
    Die Redaction.
  2. Es dürfte vielen unserer Leser unbekannt sein, daß von den am 3. April 1833 bei Erstürmung der Hauptwache gefangenen Studenten und sonstigen Betheiligten Schüler, Scriba, Lübenski, Cunradi, Dörflinger, Engelmann, Gambert, v. Welz, Wislicenus, Feddersen und Holzinger mit Hülfe Frankfurter und auswärtiger Freunde nach und nach aus den Gefängnissen befreit und meist in sehr abenteuerlicher Weise nach England, Amerika und Holland geschafft wurden. Die Führer Rauschenplatt, Bunsen und Körner konnten noch in derselben Nacht oder in den nächstfolgenden Tagen entfliehen.
    D. Red.