Carnevale
[31] Carnevale. Vor einigen Jahren wurde das Lesezimmer der Bibliothèque Royale in Paris von einer Person häufig besucht, deren seltsame Tracht die Aufmerksamkeit eines jeden Gegenwärtigen auf sich zog. Sie war einmal in rothes, das andere Mal in blaues oder gelbes Tuch vom Kopfe bis zu den Füßen gekleidet, um den Hals hing eine Schnur mit einem Orden und der Hut war geschmückt mit künstlichen Blumen, Perlen und anderem Flitter. So oft diese Person kam, setzte sie sich an einen besondern Platz und schien voll Aufmerksamkeit zu lesen. Es war ein Mann, der sich dem Greisenalter näherte, und die Furchen seines Gesichts erzählten von tiefem Leid, das die Neugierde, wer er wohl sei, steigerte. Fragte man, so war die kurze Antwort: „Es ist Carnevale“ Denn die gewöhnlichen Besucher der Bibliothek meinten, seine Geschichte sei aller Welt bekannt,
Carnevale war aus einer sehr achtbaren Familie in Neapel. Im Jahre 1826 kam er als junger, hübscher und sehr wohlhabender Mann nach Paris. Mit solchen Vortheilen fiel es ihm nicht schwer, in der Gesellschaft Zutritt zu erlangen, und seine Landsleute empfingen ihn mit offenen Armen. Plötzlich jedoch verschwand er, Niemand wußte, wo er war, bis man später entdeckte, daß er ein Mädchen liebe und sich zurückgezogen habe, um unbelästigt ihre Gesellschaft zu genießen. Doch sein Glück war von kurzer Dauer, das Mädchen starb und ihr Tod raubte dem Armen nicht blos das ihm Theuerste, sondern auch den Verstand.
Als er sich einigermaßen von dem heftigen Schlage erholt hatte, ging er täglich zum Grabe und weinte und betete. Der Wächter des Kirchhofs bemerkte, daß er bei jedem Besuche ein Papier in Form eines Briefes hervorzog und unter den Stein legte. Dies wurde den Freunden Carnevales bekannt, einer von ihnen ging zum Grabe und fand fünf Briefe, gerade so viel, als Tage seit dem Begräbnisse verflossen waren. Der letzte lautete:
„Theuerste! Du antwortest mir nicht und doch weißt Du, daß ich Dich liebe. Hast Du mich vergessen in Mitte der Beschäftigungen im Jenseits? O, das wäre ungütig, sehr ungütig! Aber fünf Tage, fünf lange Tage sind verflossen ohne Antwort, ohne Nachricht von Dir. Ich kann nicht schlafen, und schließe ich die Augen auf einen Augenblick, so träum’ ich von Dir.
Warum ließest Du nicht Deine Adresse zurück? Ich würde Dir Deine Kleider und Bijouterien senden. – Doch nein, schicke nicht nach ihnen; aus Erbarmen lasse sie mir. Ich habe sie auf Stühle gelegt und bilde mir ein, Du seiest im Nebenzimmer und daß Du bald eintrittst, um Dich zu kleiden. Außer diesen Sachen, die Du getragen hast, ist auch mein kleines Zimmer durchduftet; und das macht mich glücklich, wenn ich eintrete. – Ich wollte, ich hätte Dein Bildniß so recht ähnlich, so daß es wetteifern könnte mit dem, das ich schon habe. Dieses ist in meinen Augen und kann nie sich ändern Ob ich die Augen offen oder zu habe, ich sehe Dich stets. Heißgeliebte, wie geschickt ist der Künstler, der mir dieses Bildniß ließ. – Lebewohl, Einzige! Schreibe mir morgen oder heute, wenn Du kannst. Bist Du sehr beschäftigt, so schreibe mir wenigstens eine Zeile oder auch nur drei Worte. Sage mir, daß Du mich liebst.“
Seine Freunde meinten, er sei nur von tiefer Melancholie ergriffen, die mit der Zeit schwinden würde, und ersuchten den Wächter des Kirchhofs, die Briefe sogleich wegzunehmen, so bald Carnevale sie hingelegt haben würde; aber das Resultat war ein anderes, als sie erwartet hatten. Er fiel in. düstre Verzweiflung, als er von der Geliebten keine Antwort erhielt, und besuchte nicht weiter den Kirchhof.
Um diese Zeit war es, daß er auf den Boulevards bei einem Tuchhändler allerlei Tuch von Heller Farbe bemerkte. Er lächelte, trat in den Laden und kaufte mehrere Ellen von jeder Sorte Tuch. Eine Woche darauf erschien er in den Straßen völlig in Roth gekleidet; Hut, Rock, Weste, kurz alles war roth und von phantastischem Schnitt. Viele Leute sammelten sich um ihn und wohl fünfhundert Personen hängten sich an seine Fersen. Am nächsten Tage betrat er die Straße in Kleidern von gelber Farbe, einen Tag später in hellblau, stets gefolgt von einer gaffenden Menge. Doch bald wurden die Pariser seines Anblicks gewohnt und zuletzt sahen nur Fremde auf ihn. Man bemerkte jedoch, daß er sich nach der Stimmung seines Geistes zu kleiden schien; in der rothen Farbe erschien er immer am heitersten.
Während der Revolution von 1830 hätte seine sonderbare Kleidung ihm bald den Tod zugezogen. Da er nie eine Zeitung las, nie auch mit Andern sich in Gespräch einließ, so wußte er auch von der ganzen Bewegung nichts. Als er am 28. Juli längs den Quais ging, traf er mit Insurgenten zusammen, die ihn für einen fremden Prinzen hielten, wegen des Ordens an seiner Schnur. Schon faßte man ihn, um ihn in die Seine zu werfen, als Jemand ihn erkannte und befreite. Es fiel schwer, ihm verständlich zu machen, in welchem Zustande Paris sich befände und daß er sich anders zu kleiden habe. Als er sich aber wieder schwarz trug, verfiel er auch wieder in Trauer. Er fühlte sich wieder beunruhigt, erinnerte sich wieder des Verlustes seiner Geliebten und seine Vernunft, die er täglich mehr schwinden fühlte, gab ihm ein, sich nach dem Hospital von Bicêtre zu begeben und der Behandlung der Aerzte zu unterwerfen. Diese erstaunten nicht wenig, den Wahnsinnigen so ruhig über seinen Zustand reden zu hören.
„Schicket nach meinen hellen Kleidungsstücken,“ sagte er eines Tages.
Man that es, und sobald er seine Kleidung wieder an hatte, erlangte er auch wieder seine alte Heiterkeit.
„Die schwarzen Kleider machten mich krank,“ sagte er. „Welche Thoren seid Ihr, solcher häßlichen Mode zu huldigen. Was mich betrifft, so bin ich am heitersten in Roth, es steht mir so gut und außerdem wissen meine Freunde, was das zu bedeuten hat. Sehen sie mich in Roth, sagen sie: Carnevale ist heute gut gelaunt; bin ich das nicht, so kleide ich mich gelb, das sieht auch hübsch aus; fühle ich mich jedoch etwas melancholisch, so ziehe ich mich blau an.“
Als er das Hospital verließ, fand er, daß sein Vermögen sich gemindert [32] habe, weshalb er sich entschloß, Stunden in Italienisch zu geben. Es fehlte ihm nicht an Schülern, denn seine Geschichte gewann ihm so manchen Freund. Die Art des Unterrichts war sehr gut; nie machte er seinen Schülern Vorwürfe. Hatten sie gelernt, so versprach er, am nächsten Tage in seiner apfelgrünen Kleidung zu erscheinen, war er nicht zufrieden, so sagte er: morgen muß ich in meinem kaffeefarbigen Kleide kommen. Solche Strafe oder Belohnung war ihm leicht, denn er hatte wohl mehr als sechzig Anzüge von verschiedener Farbe, zu denen Niemand als er Zutritt hatte.
Seine Bekanntschaften waren sehr zahlreich Seine freundlichen Manieren, seine harmlose Excentricität ließen ihn überall gern gesehen sein. Den Armen gab er seinen Mitteln nach reichlich und kein armer Italiener sprach ihn jemals vergeblich an; vielen leistete er erfolgreiche Dienste, da er einflußreiche Freunde besaß; beim neapolitanischen Gesandten speiste er fast täglich.
Seine Gewohnheiten waren sehr einfach. Um fünf Uhr stand er von seinem Lederstuhle auf, denn in einem Bette wollte er nicht schlafen. Zum Frühstück aß er gewöhnlich Kartoffeln, die er sich zubereitete. Den Tag widmete er zumeist seinen Schülern oder der Bibliothek und endete ihn mit einem Spaziergange auf die Boulevards. Traf er da einen Bekannten, so schloß er sich ihm an und schwatzte über Italien, Musik und andere Lieblingsthemata. Dabei aber bildete er sich ein, daß die Person, mit der er so zusammentraf, Bellini, Napoleon, Malibran oder eine ähnliche berühmte Person sei. Diese Einbildung war für ihn eine Quelle großen Vergnügens. Umsonst sagte man ihm, Napoleon, Malibran u. s. w. wären todt. Darauf antwortete er gewöhnlich:
„Für Sie wohl, das geb’ ich zu, aber nicht für mich. Ich bin mit Sinnen begabt, die Sie nicht besitzen. Ich versichere Sie, sie sind nicht todt und lieben mich und meine Gesellschaft.“
Armer Carnevale! Möge die Sonne freundlich auf Dein Grab scheinen!