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Chemische Briefe/Fünfzehnter Brief

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Fünfzehnter Brief.


Wir erklären uns die Verschiedenheit in den Eigenschaften gleichzusammengesetzter (sog. isomerer) Körper durch eine verschiedene Anordnung oder Anzahl der Atome ihrer Bestandtheile, und diese Ansicht ist bei vielen unbezweifelbar richtig, aber diese Erklärung passt nicht auf den Phosphor, auf das Selen und viele andere Körper, die als einfache gelten; der weisse ist von dem rothen Phosphor nicht weniger verschieden in seinen physikalischen, physiologischen und chemischen Eigenschaften als das Cyansäurehydrat vom Cyamelid, und wenn wir uns denken wollten, dass der Grund der Verschiedenheit dieser Körper auf einer ähnlichen Ursache beruhe, so müsste der Phosphor als ein zusammengesetzter Körper angenommen werden, von dessen Bestandtheilen wir nichts wissen.

Ein solches Verfahren ist in der Wissenschaft nicht zulässig; denn wir schaffen uns in diesem Fall eine Hypothese, die keinen anderen Grund für sich hat als die Erscheinungen, welche erklärt werden sollen.

Man hat die verschiedenen Zustände, in welchen die einfachen Körper ungleiche Eigenschaften besitzen, mit „allotropisch“ bezeichnet, das Wort Allotropie (von ἀλλότροπος, von ungleicher Beschaffenheit) ist eben nur ein Wort und erklärt diese Zustände nicht. Unsere gewöhnlichen Erklärungen über diese merkwürdigen Zustände haben durch die Entdeckung des ozonisirten Sauerstoffs von Schönbein allen Boden verloren, und es hat das Bestehen desselben uns wieder zum Bewusstsein gebracht, wie wenig wir über die Natur der Materie und den Grund ihrer Eigenschaften wissen. Das gewöhnliche und das ozonisirte Sauerstoffgas stehen in ihren Eigenschaften eben so weit auseinander als Sauerstoffgas und Chlorgas.

Das gewöhnliche Sauerstoffgas, so wie wir es in der Luft kennen, hat bei gewöhnlicher Temperatur weniger Verwandtschaft zu den Metallen als Jod, es zersetzt die Jodmetalle nicht und verbindet sich nicht mit Jod; es oxydirt nicht das Silber, es wirkt nicht auf Alkohol, und zerstört nicht stinkende gasförmige Stoffe, es oxydirt für sich nicht das Ammoniak und nicht den Stickstoff.

Der ozonisirte Sauerstoff zersetzt die Jodmetalle und scheidet das Jod aus; ist er im Ueberschusse vorhanden, so verbindet er sich mit dem Jod unmittelbar zu einem Oxyde – er oxydirt das Silber und verwandelt es in Hyperoxyd; in ähnlicher Weise verhält er sich zu vielen anderen Metallen, welche mit Ausnahme des Goldes und Platins in Oxyde oder Hyperoxyde verwandelt werden – die niederen Oxydationsstufen des Schwefels – Phosphors – Stickstoffs etc. werden in höhere verwandelt, die Wasserstoffverbindungen des Jods, Schwefels werden unter Ausscheidung von Jod und Schwefel zersetzt, das Ammoniak in Salpetersäure und Wasser – der Stickstoff bei Gegenwart von Kalk ebenfalls in Salpetersäure verwandelt – stinkende Miasmen und organische Pigmente, selbst Indigo werden dadurch zerstört – Weingeist in Aldehyd – Essigsäure und Ameisensäure – verwandelt; dies sind Wirkungen der energischsten Art, welche dem gewöhnlichen Sauerstoff

[116] nur in höheren Temperaturen, oder unter Mitwirkung anderer Körper zukommen; das an sich passive Sauerstoffgas wird unter diesen Umständen activ wie das ozonisirte, allein das letztere trägt die activen Eigenschaften an sich selbst, in seinen Moleculen.

Die nächste Veranlassung zur Entdeckung dieser merkwürdigen Umwandlung des Sauerstoffs durch Schönbein boten einige Erscheinungen dar, welche die Luft zeigt, durch die man eine Anzahl elektrischer Funken schlagen lässt; sie nimmt dadurch einen eigenthümlichen Geruch an, den Physikern bekannt unter dem Namen des elektrischen Geruches. Dieser Geruch rührt von ozonisirtem Sauerstoff her, welcher sich unter diesen Umständen bildet; auch bei der Wasserzersetzung durch den galvanischen Strom wird ein Theil des Sauerstoffs in ozonisirten übergeführt.

Es ist erwähnt worden, dass der ozonisirte Sauerstoff Jodmetalle zersetzt, aus Jodkalium z. B. das Jod ausscheidet; das Jod bildet bekanntlich mit Stärkmehl oder Stärkmehlkleister eine indigblaue Verbindung. Wenn man nun Stärkmehlkleister mit etwas Jodkalium vermischt, und poröses Fliesspapier damit bestreicht und trocknen lässt, so hat man in diesem Papier ein höchst empfindliches Entdeckungsmittel des ozonisirten Sauerstoffes.

Lässt man aus einem Conductor Elektricität in atmosphärische Luft ausströmen, so färbt sich in dieser Luft das eben erwähnte Reagenspapier in wenigen Augenblicken indigblau, es entsteht ozonisirter Sauerstoff, der aus dem Jodkalium im Papier das Jod in Freiheit setzt, welches sich mit dem Stärkmehl zu blauem Jodstärkmehl verbindet.

Dieselbe Wirkung auf dieses Papier besitzt der durch Elektrolyse des Wassers gewonnene Sauerstoff.

Schönbein fand, dass auch durch gewisse chemische Actionen der Sauerstoff der Luft in ozonisirten überführbar ist.

Legt man in eine grosse Glasflasche ein Stück Phosphor und giesst so viel Wasser hinein, dass das Phosphorstück etwa zur Hälfte damit bedeckt ist und lässt die Flasche leicht verschlossen bei 16–20° C. einige Stunden lang stehen, so tritt die Ozonisirung des Sauerstoffs ein; sehr bald nimmt man den eigenthümlichen (etwas knoblauchartigen) Geruch des ozonisirten Sauerstoffs wahr und beim Einbringen eines Streifens Jodstärkmehlpapier in die Flasche färbt sich dieses tief schwarzblau.

Bemerkenswerth ist, dass die Sauerstofftheilchen, um ozonisirt zu werden, sich in einer gewissen Entfernung von einander befinden müssen; in reinem Sauerstoffgas tritt bei gewöhnlicher Temperatur keine Ozonisirung ein, leicht hingegen in durch die Luftpumpe verdünntem, oder wenn er wie in der Luft mit ⅘ Stickgas oder mit eben so viel Wasserstoffgas gemischt ist. Entfernt man den Phosphor aus der Flasche und schüttelt die darin enthaltene Luft wiederholt mit Wasser, so verliert sich allmählich der die Flasche erfüllende weisse Rauch der Phosphorsäure, ohne dass sich das ozonisirte Sauerstoffgas im Wasser löst und man kann jetzt in dieser Luft alle Eigenthümlichkeiten desselben studiren. Hängt man in die Flasche einen Streifen feingeschlagenes Silber (sog. Silberschaum) ein, so färbt sich dieses sehr bald dunkelbraun, indem das Metall zu Hyperoxyd oxydirt wird.

[117] Ein Stück Glas oder Porcellan mit einem schwachen metallisch glänzenden Anflug von Arsenik wird darin augenblicklich weiss durch Bildung von einem Oxyde des Arseniks; mit schwarzem Schwefelblei überzogenes Papier wird weiss durch Bildung von schwefelsaurem Bleioxyd; mit schwefelsaurem Manganoxydul getränktes Papier wird braun durch Bildung von Mangansuperoxyd; blaue Indigtinctur mit der Luft in der Flasche geschüttelt wird entfärbt; Kalkwasser geht in salpetersauren Kalk über, ein Stück übelriechendes Fleisch verliert in dieser Flasche seinen Geruch; die Dämpfe von Weingeist, Aether, Terpentinöl und andere ätherische Oele, Kohlenwasserstoffe, schweflige Säure entziehen der Luft den ozonisirten Sauerstoff, indem sie sich damit verbinden.

Wenn Weingeist in einem Näpfchen in eine Flasche eingehängt wird, auf deren Boden sich ein Stück halb mit Wasser bedeckter Phosphor befindet, so verwandelt sich der Weingeist nach wenigen Tagen in Ameisensäure. Ammoniakgas wird zu salpetrigsaurem oder salpetersaurem Ammoniak oxydirt.

Beim Einathmen reizt die ozonisirte Luft zum Husten und bei längerer Einwirkung verursacht sie eine Entzündung der Schleimhäute. Kleine Thiere sterben in solcher Luft, ein Kaninchen unter Symptomen, die denen gleichen, welche Chlorgas beim Einathmen hervorbringt, und es scheint aus einer Berechnung hervorzugehen, welche Schönbein angestellt hat, dass schon 2 Milligramm (1/33 Gran) hinreichen, um ein Kaninchen zu tödten.

Der ozonisirte Sauerstoff kann in gewöhnlichen zurückgeführt werden durch den Einfluss der Wärme.

Leitet man ozonisirtes Sauerstoffgas durch eine enge schwachglühende Glasröhre, so werden die eben beschriebenen Eigenschaften augenblicklich vernichtet; die Luft welche durch die heisse Glasröhre strömte, unterscheidet sich in keiner ihrer Eigenschaften mehr von gewöhnlicher Luft.

Die Eigenschaft, welche der Phosphor besitzt, im Momente seiner Oxydation den Sauerstoff der Luft in ozonisirten zu verwandeln, gehört diesem Körper nicht eigenthümlich an.

Eine grosse Anzahl von Materien, welche wie der Phosphor in feuchter Luft bei gewöhnlicher Temperatur sich oxydiren, theilen auch sein Ozonisirungsvermögen, z. B. Bittermandelöl, schweflige Säure, Terpentinöl, Stibäthyl; dies sind, wie man sieht, Materien von der verschiedensten Art und Zusammensetzung, welche alle nur die Eigenschaft gemein haben, bei gewöhnlicher Temperatur wie der Phosphor Sauerstoff aufzunehmen oder zu verwesen.

Hängt man Papierstreifen, welche mit einer Manganoxydulsalzlösung befeuchtet oder mit Indigtinctur blaugefärbte Leinwandstreifen in Luft, in welcher sich Dämpfe von Bittermandelöl oder etwas gasförmige schweflige Säure befindet, so wird das Papier braun von gebildetem Hyperoxyd, die blaue Leinwand wird gebleicht, der Indigo dauernd zerstört.

Die schweflige Säure, vermöge ihrer Verwandtschaft zum Sauerstoff, entzieht vielen Oxyden den Sauerstoff; Quecksilberoxydul wird dadurch zu Metall, Eisenoxyd zu Eisenoxydul, Salpetersäure zu salpetriger Säure oder zu Stickoxydgas und es gehört ohnstreitig zu den seltsamsten Erscheinungen, dass eben diese Säure mit Sauerstoff und einer dritten Substanz

[118] in Berührung, welche ebenfalls Verwandtschaft zum Sauerstoff besitzt, wie ein mächtiges Oxydationsmittel sich verhält; sie bewirkt, während sie selbst in Schwefelsäure übergeht, dass der daneben befindliche Körper sich ebenfalls oxydirt und dies geschieht, indem sie den Sauerstoff in ozonisirten Sauerstoff verwandelt.

Die Arbeiten Schönbein’s in diesem Gebiete haben uns mit der merkwürdigen Thatsache bekannt gemacht, dass in den Oxydationsprocessen bei gewöhnlicher Temperatur, die man zum Unterschiede von denen, welche bei höherer Temperatur vor sich gehen, als Verwesungsprocesse bezeichnet, ehe der Sauerstoff eine Verbindung mit den einzelnen Moleculen bildet, in welchen er seine Eigenschaften einbüsst, ehe er also ein Bestandtheil eines Moleculs wird, dass er zunächst sich mit der ganzen Masse aller Moleculen verbindet, in der Art, dass mit diesen vereinigt seine Eigenschaften bis zur Ozonisirung erregt und gesteigert werden. Phosphorstangen auf einem Trichter, der auf einem Glasgefässe ruht, auf dessen Boden sich Wasser befindet, zerfliessen nach und nach völlig, indem sie langsam verbrennen; das Wasser in dem Glasgefäss wird von gebildeter Phosphorsäure und namentlich von phosphoriger Säure sehr sauer; da die phosphorige Säure eine sehr ausgezeichnete Anziehung zum Sauerstoff besitzt, so sollte man denken, dass sie mit ozonisirtem Sauerstoff in Berührung augenblicklich damit in Phosphorsäure übergehen müsste.

Allein die durch Zerfliessen des Phosphors in der angegebenen Weise erhaltene saure Flüssigkeit enthält eine so grosse Menge ozonisirten Sauerstoff, dass sie mit einer Jodkalium-Lösung und Stärkmehlkleister vermischt augenblicklich durch Ausscheidung von Jod eine blauschwarze Mischung wie Dinte bildet. In ähnlicher Weise verhält sich das Bittermandelöl und ganz besonders das Terpentinöl.

Schüttelt man einige Tropfen dieser beiden Oele mit etwas Jodstärkmehlkleister und Luft, so wird die Mischung nach wenigen Minuten durch gebildetes Jodstärkmehl blau.

Mit Luft geschütteltes Terpentinöl nimmt bis zu 2 pCt. Sauerstoff in der Form von ozonisirtem Sauerstoff in sich auf und wird dadurch zu einem mächtigen Oxydationsmittel.

Man kann sich kaum etwas Sonderbareres denken, als dass ein Stoff wie Terpentinöl, welcher nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff besteht, vermöge dieser Eigenthümlichkeit Sauerstoff zu ozonisiren, ganz die Eigenschaften des Chlors annimmt; schweflige Säure in Berührung damit wird dadurch in Schwefelsäure übergeführt; Indigtinctur damit geschüttelt wird dadurch sogleich zerstört, ganz wie durch Chlorwasser.

Was in diesen Erscheinungen die Aufmerksamkeit fesselt ist der Umstand, dass viele derselben nur im Tageslichte oder Sonnenlichte vor sich gehen; im Dunkeln treten sie nicht oder nur langsam ein.

Die phosphorige Säure, das Bittermandelöl, das Terpentinöl besitzen die oben beschriebenen Eigenthümlichkeiten nur vorübergehend; nach mehreren Stunden oder Tagen, im Dunkel sowohl wie im Tageslichte, im letzteren nur schneller, verlieren sie ihre oxydirenden Wirkungen gänzlich, die phosphorige Säure ist dann in Phosphorsäure, das Bittermandelöl in Benzoesäure, das Terpentinöl in einen harzartigen Körper übergegangen.

[119] Von dem metallischen Platin, von welchem man weiss, dass es Sauerstoffgas an seiner Oberfläche verdichtet und in den eigenthümlichen Zustand versetzt, in welchem es sich bei Gegenwart von Wasserstoffgas bei gewöhnlicher Temperatur zu Wasser mit schwefliger Säure zu rauchender Schwefelsäure verbindet, kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass es den Sauerstoff ebenfalls in ozonisirten überführt, mit dem Unterschiede jedoch, dass derselbe stärker von dem Metall gebunden ist, als in den genannten Flüssigkeiten; für sich ist der ozonisirte Sauerstoff nicht oder kaum im Wasser löslich; es erklärt sich vielleicht hieraus der überraschende und leicht anzustellende Versuch der Ueberführung des Ammoniakgases in salpetrigsaures Ammoniak.

Führt man nämlich in eine mit Luft erfüllte Flasche, in die man einige Tropfen kaustisches Ammoniak gegossen und damit geschüttelt hat, einen schwach (nicht sichtbar) glühenden spiralförmig gewundenen Platindraht, so bilden sich in wenigen Augenblicken weisse Nebel von salpetrigsaurem Ammoniak, welche die Flasche trüb und undurchsichtig machen; giesst man jetzt in die Flasche etwas verdünnte Schwefelsäure und mit Jodkaliumlösung versetzten Stärkmehlkleister, so färbt sich dieser in Folge der Wirkung der durch Oxydation des Ammoniaks gebildeten salpetrigen Säure auf das Jodkalium augenblicklich indigblau.

Eine Erklärung dieser merkwürdigen Umwandlung in den Eigenschaften des Sauerstoffs kann auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft noch nicht versucht werden, allein die Thatsache steht fest, dass nicht nur zusammengesetzte Stoffe, welche die nämlichen Elemente in gleichen Gewichtsverhältnissen enthalten, ihren Eigenschaften nach als zweierlei Materien erscheinen können, sondern auch Körper von denen wir, wie beim Sauerstoff, nicht den entferntesten Grund haben sie für zusammengesetzt zu halten.

Der Sauerstoff, der Phosphor, so wie viele andere Körper, die für einfach gelten, haben für uns doppelte Gesichter; in ihren verschiedenen Zuständen sind sie chemisch und physikalisch grundverschiedene Dinge. Wir nehmen an, dass die Wirkung, welche ein Körper auf unsere Sinne ausübt, wodurch er sich als das Ding giebt was es ist und sich von andern unterscheidet, von Kräften herrühre, und man kann hier wohl fragen, ob diese Kräfte quantitativ einer Veränderung fähig oder qualitativ verwandelbar sind?

Während alle chemischen und die meisten physikalischen Eigenschaften eines Körpers, wie wir vom Sauerstoff und Phosphor wissen, wandelbar sind, ist, worauf Faraday aufmerksam gemacht hat, nur eine einzige keines Wechsels fähig und dies ist das Gewicht, welches ein Körper besitzt; welche Veränderungen auch mit einem Körper vorgehen mögen, in allen Formen und Verbindungen trägt das Molecul sein Gewicht mit sich; die Schwerkraft ist die einzige Naturkraft, welche von der Materie untrennbar und unveränderlich gedacht werden muss. Wäre sie verrwandelbar, so würde der Chemiker und Physiker die Möglichkeit vor sich sehen, die Atome des Erdballs in den Weltraum zerfliessen zu machen. In welch einer seltsamen Lage befindet sich durch die Thatsachen die gegenwärtige Wissenschaft den alten Philosophen und der Alchemie[1] gegenüber. Die ersteren lehrten, dass die Eigenschaften der

[120] körperlichen Dinge wandelbar seien und die Alchemisten glaubten, dass alle Metalle eine Grundeigenschaft gemein hätten, und dass eines in das andere verwandelt, eines aus dem anderen erzeugt werden könne, und wir beweisen, dass zwei Dinge unter Umständen nur ein Ding ist und dies eine Ding sich in das andere vorwärts und rückwärts verwandeln lässt.

Wenn wir die Erzeugung des ozonisirten Sauerstoffs auf dem chemischen Wege näher betrachten, so ist es sicher, dass in feuchter Luft die Sauerstofftheilchen, welche Phosphor berühren, an den Berührungsstellen sich mit dem Phosphor zu einem Oxyde verbinden und es ist eben so gewiss, dass diejenigen Sauerstofftheilchen, welche phosphorige oder Phosphorsäure bilden, nicht ozonisirt werden, sondern diese Umwandlung trifft andere Sauerstofftheilchen, die den Phosphor nicht berühren.

Es scheint offenbar zu sein, dass die Sauerstofftheilchen, die mit dem Phosphor eine Verbindung eingehen, in dem Augenblick wo dies geschieht, in einen besonderen Zustand (einer Molecular-Bewegung) versetzt werden, in welchem sie wie ein mit Elektricität beladener Körper durch Induction auf die umgebenden Materien eine Wirkung ausüben, die sich in dem vorliegenden Fall auf die zunächst liegenden Sauerstofftheilchen erstreckt, wodurch diese in den Zustand des ozonisirten Sauerstoffs versetzt werden. In dem Eigenschaftswechsel der Sauerstofftheilchen, welche zu einem Oxyde des Phosphors werden, ist offenbar der Grund zu suchen, dass andere daneben liegende Sauerstofftheilchen eine Aenderung in ihren Eigenschaften erleiden. Das Verhalten des Bittermandelöls, Terpentinöls, der schwefligen Säure und vieler anderer ihrer Natur nach weit auseinander stehender Körper beweist es, dass es der Act der chemischen Thätigkeit ist, wodurch die Ozonisirung bewirkt wird, aber die Verschiedenheit der Wirkung der chemischen Kraft und der elektrischen Kraft ist augenfällig. Während der durch Induction hervorgerufene elektrische Zustand sich mit der Ursache verliert, die denselben hervorgebracht hat, ist der durch die Wirkung der chemischen Thätigkeit erregte Wechsel in den Eigenschaften der Sauerstofftheilchen, indem sie ozonisirt werden, dauernd; durch eine neue Molecularbewegung, welche die Wärme in dem ozonisirten Sauerstoff hervorbringt, wird dieser wieder zu dem gewöhnlichen, der unstreitig, mit Phosphor zusammengebracht, wieder in ozonisirten überzugehen vermag.

Die Betrachtungen, welche Brodie über den Zustand mitgetheilt hat, in welchem sich gewisse Elemente in dem Augenblick chemischer Thätigkeit befinden, verdienen hier erwähnt zu werden.

„Wenn sich zwei Partikel chemisch vereinigen, so befinden sie sich in einer gewissen chemischen Beziehung zu einander, welche durch „„positiv““ und „„negativ““ bezeichnet wird – die Verschiedenheit der Zustände der auf einander wirkenden Partikel nennt Brodie die „„chemische Differenz““. – Bei dem Eintreten chemischer Verbindung zwischen den Partikeln, aus welchen zwei oder mehrere Substanzen bestehen, existirt eine chemische Differenz zwischen den Partikeln einer jeden Substanz, so dass die Partikel einer und derselben Substanz sich unter einander positiv und negativ verhalten.

Die chemische Beziehung zwischen irgend je zwei Partikeln dieser Substanz ist bedingt durch die chemische Beziehung zu allen anderen

[121] Partikeln, mit welchen sich jene zur Zeit zusammen befinden; Substanzen, deren Partikeln sich zu einander in dieser eigenthümlichen Beziehung befinden, nennt Brodie „„chemisch polare““. Hiernach würden sich zwei Stoffe nur dann mit einander verbinden, d. h. gegenseitige Anziehung äussern, wenn sie im chemisch polaren Zustande sich befinden. Silber oxydirt sich in der Luft und im gewöhnlichen Sauerstoff nicht, weil Sauerstoff und Silber bei Berührung nicht polar werden. In dem Chlorsilber ist das Silber chemisch positiv, das Chlor chemisch negativ, in dem Kaliumoxyd ist das Kalium chemisch positiv, der Sauerstoff chemisch negativ, wenn beide – Chlorsilber und Kali – zusammenkommen, so entsteht Silberoxyd.

Kupfer und Chlor verbinden sich beide mit Wasserstoff; die beiden ersteren sind ihrer chemischen Natur nach entgegengesetzt; der Wasserstoff ist nach Brodie im Chlorwasserstoff chemisch positiv, in der Kupferverbindung chemisch negativ. Wenn nun Chlorwasserstoff und Kupferwasserstoff (nach Wurtz) zusammen kommen, so entsteht Kupferchlorid und freier Wasserstoff in folgender Weise.

Wenn man nach dieser Ansicht die Vorgänge der Verbrennung betrachtet, so werden nach Brodie Phosphor und Sauerstoff, Bittermandelöl und Sauerstoff etc. im Moment der Berührung entgegengesetzt chemisch polar und der ozonisirte Sauerstoff könnte ein Rest des differenzirten Sauerstoffs sein, der mit dem Phosphor sich verbunden hat. Das gewöhnliche Sauerstoffgas würde hiernach ein mittleres sein, bestehend aus chemisch positiven und negativen Sauerstofftheilchen. Der weisse Phosphor könnte chemisch polarer, und der rothe könnte Phosphor (+P und –P) im indifferenten Zustande sein.

Ich halte es nicht für angemessen diesen Anwendungen von Brodie’s Theorie eine grössere Ausdehnung zu geben, da man sogleich auf Schwierigkeiten in der Erklärung stösst, die sich nur durch weitere Hypothesen lösen lassen; allein unsere gewöhnlichen Vorstellungen über die chemischen Kräfte sind so wenig entwickelt und unvollkommen, dass eine jede erweiternde Ansicht, auch wenn sie nur einige Fälle für sich hat, Berücksichtigung verdient.

Vor Allem dürfte in den Erscheinungen, welche der ozonisirte Sauerstoff in seiner Bildung und seinem Verhalten darbietet, die räthselhafte Wirkung des Lichtes und der Wärme ins Auge gefasst werden und so lange wir den Antheil, den das Licht in seiner Erzeugung und die Wärme in seiner Umwandelung besitzt, nicht näher zu bezeichnen vermögen, dürfte an eine Theorie dieser Erscheinungen kaum zu denken sein.

  1. WS: korrigiert, im Original: Alehemie