Zum Inhalt springen

Chemische Briefe/Sechzehnter Brief

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
<<< Sechzehnter Brief >>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Chemische Briefe
Seite: {{{SEITE}}}
von: Justus von Liebig
Zusammenfassung: {{{ZUSAMMENFASSUNG}}}
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
[[Bild:{{{BILD}}}|250px]]
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wikisource-Indexseite
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe

[122]


Sechszehnter Brief.


Weder die Wärme, noch die elektrische Kraft, noch die Lebenskraft sind vermögend, die Theilchen zweier ungleichartigen Materien in eine Gruppe zusammenhängend zu machen, zu einer Verbindung zu vereinigen; dies vermag nur die chemische Kraft.

Ueberall in der organischen Natur, in allen Verbindungen, welche in dem lebendigen Thier- und Pflanzenorganismus erzeugt werden, begegnen wir den nämlichen Gesetzen, beobachten wir die nämlichen festen und unveränderlichen Verbindungsverhältnisse, wie in der anorganischen.

Die Gehirn-, die Muskelsubstanz, die Bestandtheile des Blutes, der Milch, der Galle etc. sind zusammengesetzte Atome, deren Bildung und Bestehen auf der zwischen ihren kleinsten Theilchen thätigen Verwandtschaft beruht. Es ist die Verwandtschaft und keine andere Kraft, welche ihr Zusammentreten bewirkt; von dem lebendigen Körper getrennt, dem Einfluss der Lebenskraft[1] entzogen, sind es die chemischen Kräfte allein, welche ihr ferneres Bestehen bedingen; von ihnen hängt, je nach ihrer Richtung und Stärke, die Grösse oder Schwäche des Widerstandes ab, den sie äusseren Ursachen der Störung, äusseren Kräften, welche die chemische Anziehung aufzuheben streben, entgegensetzen. Aber Licht, Wärme, Lebenskraft, die Schwerkraft üben einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Anzahl der einfachen Atome, die zu einem zusammengesetzten Atome sich vereinigen, und auf die Art und Weise ihrer Lagerung aus; sie bedingen die Form, die Eigenschaften, die Eigenthümlichkeit der Verbindungen, eben weil ihnen die Fähigkeit zukommt, ruhenden Atomen Bewegung mitzutheilen und durch Widerstand Bewegungen zu vernichten.

Licht, Wärme, Lebenskraft, die elektrische, die magnetische Kraft[2], die Schwerkraft äussern sich als Kräfte der Bewegung und des Widerstandes und ändern als solche die Richtung und Stärke der chemischen Kraft, sie sind fähig sie zu erhöhen, zu vermindern oder zu vernichten.

Die blosse mechanische Bewegung reicht hin, um der Cohäsionskraft krystallisirender Körper eine bestimmte Richtung zu geben, und die der Verwandtschaft in chemischen Verbindungen zu ändern. Wir können Wasser in völliger Ruhe weit unterhalb den Gefrierpunkt erkälten, ohne dass es krystallisirt; die Berührung mit der Spitze einer Nadel reicht in diesem Zustande hin, um es durch die ganze Masse in einem Augenblick zu Eis erstarren zu machen. Um Krystalle zu bilden, müssen die kleinsten Theilchen sich in Bewegung befinden, sie müssen ihren Ort,

[123] ihre Lage wechseln, um sich in den Richtungen ihrer stärksten Anziehung lagern zu können. Eine Menge in der Wärme gesättigter Salzauflösungen setzen beim Erkalten in völliger Ruhe keine Krystalle ab, das kleinste Stäubchen, ein Sandkorn, in die Flüssigkeit geworfen, reicht hin, um die Krystallisation einzuleiten; ist die Bewegung einmal eingetreten, so pflanzt sie sich von selbst fort, das bewegte Atom giebt den Anstoss zur Bewegung des zunächst liegenden, und in dieser Weise theilt sie sich allen Atomen mit.

Bringen wir metallisches Quecksilber in eine Auflösung von Schwefelleber, so bedeckt sich die Oberfläche sogleich mit schwarzem, amorphem Schwefelquecksilber, was sich eben so oft erneuert, als man die Oberfläche hinwegnimmt. Befestigen wir diese Mischung in einer gutverschlossenen Glasflasche an den Rahmen einer Säge in einer Sägemühle, der sich in der Stunde mehrere tausendmal auf- und abbewegt, so geht das schwarze Pulver in den schönsten rothen Zinnober über, der sich von dem schwarzen nur durch seine krystallinische Beschaffenheit unterscheidet.

Das gewöhnliche Roheisen verdankt seine Härte, seine Zersprengbarkeit und seine krystallinische Beschaffenheit einem Gehalte von Kohle; das reine kohlenfreie Eisen ist nur höchst selten krystallinisch; darin unterscheidet sich eben das Eisen in den Meteorsteinen von dem Spiegeleisen, dass es bei der bestimmtest ausgedrückten krystallinischen Textur die größte Weichheit, so wie etwa ein sehr reines Schmiedeeisen, besitzt; aber eine Stange Schmiedeeisen ist im Bruch zähe, fadenförmig und zeigt keine Durchgangsflächen von Krystallen, die kleinsten Theilchen sind ohne alle Ordnung durcheinander lagernd; im polirten Zustande mit einer Säure befeuchtet, zeigt seine Oberfläche die eigenthümlichen Zeichnungen nicht, welche dem krystallinischen Eisen angehören. Wenn aber die Stange lange Zeit hindurch schwachen, aber sich stets wiederholenden Hammerschlägen ausgesetzt wird, so sieht man, dass die kleinsten Theilchen, die Eisenatome, ihre Lage ändern, dass sie sich in Folge der auf sie einwirkenden mechanischen Bewegung nach der Richtung ihrer stärksten Anziehung lagern: die Stange wird krystallinisch, sie wird brüchig wie Gusseisen, der Bruch ist nicht mehr fadenförmig, sondern glatt und glänzend. Diese Erscheinung tritt an den eisernen Achsen der Locomotiven und Reisewagen mehr oder weniger rasch ein, und ist die Ursache von nicht vorherzusehenden Unfällen.

Aber nicht bloss auf die äussere Form und Beschaffenheit, auf die Lagerung gleichartiger Theilchen haben mechanische Kräfte einen bedingenden Einfluss, sondern auch auf die Ordnungsweise der ungleichartigen Atome, auf das Bestehen von chemischen Zusammensetzungen. Die schwächste Reibung, ein Stoss bringt das Knallquecksilber, das Knallsilber zum Explodiren, die Berührung mit dem Barte einer Feder reicht hin, um das Silberoxyd-Ammoniak, den Jodstickstoff zu zerlegen. Das blosse in Bewegung Setzen der Atome ändert in diesen Fällen die Richtung der chemischen Anziehung, sie ordnen sich in Folge der eingetretenen Bewegung zu neuen Gruppen; ihre Elemente treten zu neuen Producten zusammen.

Weit häufiger und sichtbarer noch ist der Einfluss, den die Wärme auf die Aeusserung der Affinität ausübt. In so fern sie Widerstände

[124] überwindet, die sich der Wirkung der Verwandtschaft entgegensetzen, befördert und vermittelt sie die Bildung chemischer Verbindungen; tritt sie selbst als Widerstand der Verwandtschaft entgegen, so ändert sie die Richtung der Anziehung, die Lagerung der Atome, sie hindert und vernichtet ihre Aeusserungen. In niederen Wärmegraden ist die Anziehung, welche die ungleichartigen Atome zu einander haben, eine andere als in höheren; in den denkbar höchsten Hitzgraden findet die chemische Verbindung nicht mehr statt.

In einer Auflösung von Kochsalz in Wasser bilden sich, im Winter einem hohen Kältegrad ausgesetzt, grosse, schöne, durchsichtige, wasserhelle Säulen, welche über achtunddreissig Procent Wasser in chemischer Verbindung enthalten; das bei gewöhnlicher Lufttemperatur krystallisirte Kochsalz ist immer wasserfrei. Bei der leisesten Berührung mit der Hand werden die wasserhaltigen Krystalle milchweiss undurchsichtig, in die Hand genommen zerfliessen sie zu einem Brei von kleinen Würfeln von gewöhnlichem Kochsalz. Bei –10° gehen die Kochsalzatome mit den Wasseratomen eine chemische Verbindung ein, bei 0° besitzen beide diesen Grad der Anziehung nicht mehr. Der schwache Unterschied von zehn Temperaturgraden ist als Widerstand gegen die Verwandtschaft gross genug, um die Wirkung der letzteren aufzuheben.

Wenn kohlensaurer Kalk aus kaltem Wasser krystallisirt, so lagern sich seine Theilchen in der Form des isländischen Doppelspathes ab; aus warmem Wasser krystallisirt, erhalten wir ihn in der Form des Arragonits. Beide Mineralien, so unvereinbar in ihrer Krystallgestalt, so verschieden in ihrer Härte, ihrem specifischen Gewichte, ihrem Lichtbrechungsvermögen, enthalten absolut die nämlichen Mengen Kohlensäure und Kalk. Wir sehen in diesem Beispiel, dass die festwerdenden Theilchen des kohlensauren Kalkes unter dem Einflusse eines erhöhten Wärmegrades zu einem physikalisch ganz andern Körper sich gestalteten; noch merkwürdiger aber ist, dass wenn wir einen Arragonitkrystall zum schwachen Glühen erhitzen, wenn wir ihn also einem höheren Wärmegrad aussetzen, als der ist, in welchem er sich gebildet hat, alsdann eine Bewegung durch seine ganze Masse hindurch eintritt; ohne im Geringsten sein Gewicht zu ändern, bläht er sich blumenkohlartig auf und verwandelt sich in ein Haufwerk von feinen Krystallen, von denen ein jedes die rhomboëdrische Gestalt des gewöhnlichen Kalkspathes besitzt.

Ein Hühnerei erleidet durch den Einfluss der Temperatur von fünfundsiebenzig Grad eine gänzliche Veränderung in allen seinen Eigenschaften; das flüssige, kaum gelblich gefärbte Eiweiss wird weiss porcellanartig, seine kleinsten Theilchen verlieren alle Beweglichkeit; ohne dass von Aussen Etwas hinzutritt oder hinweggenommen wird, sehen wir die merkwürdigste Umwandlung: vor dem Erhitzen waren die Eiweisstheile löslich, mischbar in allen Verhältnissen mit Wasser, in Folge der durch die Wärme eingetretenen Bewegung verloren sie diese Fähigkeit, ihre Atome ordneten sich zu einer neuen Gruppe; von dieser neuen Lagerungsweise rühren die veränderten Eigenschaften her. Die in den Eiweisstheilchen thätigen chemischen Kräfte sind die letzte Ursache der neuen Lagerungsweise; in der neu gewonnenen Form äussern sie jetzt gegen

[125] die einwirkend störende Ursache, gegen die Wärme nämlich, einen Widerstand, der ihnen ursprünglich fehlte.

In dieser Weise verhalten sich alle organischen Körper; ohne Ausnahme sind sie alle durch den Einfluss mehr oder minder hoher Hitzgrade veränderlich und zerstörbar; der Widerstand, den ihre Atome, den die in ihnen thätige Kraft der störenden Ursache entgegensetzt, zeigt sich stets in einer neuen Lagerungsweise. Aus einem zusammengesetzten Atom entstehen eine oder zwei oder drei neue Gruppen von Atomen in einer solchen Ordnung, dass sich stets ein Gleichgewichtszustand herstellt. In den neugebildeten Producten ist der Widerstand der chemischen Kraft stärker, als in dem ursprünglichen Körper, die Summe der Verwandtschaftskraft wird nicht grösser, sie wird nur nach einer Richtung hin stärker und intensiver.

Was hier unter der Richtung gemeint ist, wird man sich am besten durch die Betrachtung eines Wassertheilchens in der Mitte eines Glases voll Wasser versinnlichen.

Das Wassertheilchen in der Mitte wird von allen Wassertheilchen in seiner unmittelbaren Umgebung angezogen und übt in ganz gleichem Grade eine Anziehung gegen sie aus, nach keiner Seite hin eine stärkere als nach der anderen. Die grosse Beweglichkeit und Verschiebbarkeit des Wassertheilchens beruht eben darauf, dass sich alle darauf wirkenden anziehenden Kräfte im Zustand des Gleichgewichts befinden. Die kleinste äussere Kraft reicht hin, um es von seiner Stelle zu bewegen, der geringste Temperaturunterschied, der seine Dichtigkeit vergrössert oder verringert, verursacht einen Wechsel seines Platzes.

Wäre es nach einer Seite hin stärker angezogen als nach der andern, so würde es sich nach dieser Richtung hin bewegen, es würde ein gewisses Mass von Kraft bedürfen, um es von dem Ort der Anziehung loszureissen. Grade in diesem Zustande befinden sich die Wassertheilchen der Oberfläche des Wassers, sie sind minder beweglich als die unteren, wie durch einen äusseren Druck sind sie näher bei einander, dichter, zusammengezogener. Mit einiger Vorsicht lässt sich eine feine Stahlnadel auf der Oberfläche schwimmend erhalten, welche eingetaucht mit Schnelligkeit zu Boden fällt. Dieser stärkere Zusammenhang rührt daher, dass die Wassertheilchen der Oberfläche nur nach einer Richtung hin angezogen werden und Anziehung äussern; der anziehenden Kraft von unten stellt sich keine Anziehung von darüberliegenden Wassertheilchen als Widerstand entgegen. Um abwärts zu fallen, müssen die Wassertheilchen der Oberfläche der Nadel nothwendig Platz machen, ausweichen, sie müssen von ihrer Stelle geschoben werden, allein sie weichen nicht aus, obwohl die Nadel einen sieben- bis achtmal grössern Druck auf sie ausübt als ein gleich grosses Stückchen Wasser.

In ganz gleicher Weise verhält sich in den chemischen Verbindungen die anziehende Kraft, welche die Bestandtheile zusammenhält. Mit der Anzahl der Elemente, mit der Anzahl der Atome, die zu einer Gruppe vereinigt werden, vervielfältigen sich die Richtungen der anziehenden Kraft; die Stärke der Anziehung nimmt in dem nämlichen Verhältniss, wie die Vielheit der Richtungen ab. Zwei Atome, zu einer Verbindung vereinigt, können sich nur von einer Seite her anziehen, die ganze

[126] Summe ihrer anziehenden Kraft äussert sich in dieser einzigen Richtung; tritt ein zweites, ein drittes Atom hinzu, so muss ein Theil von dieser Kraft verwendet werden, um auch diese anzuziehen und festzuhalten. Die natürliche Folge davon ist, dass die Anziehung aller Atome zu einander schwächer wird, dass sie äusseren Ursachen, die sie von ihrem Platze zu verschieben streben, einen geringeren Widerstand als vorher entgegensetzen.

Darin liegt der grosse Unterschied der organischen Körper von den Mineralsubstanzen, dass sie Verbindungen höherer Ordnungen sind; obwohl nur aus drei oder vier, höchstens fünf Elementen bestehend, sind ihre Atome dennoch weit zusammengesetzter. Ein Kochsalz-, ein kleinstes Zinnobertheilchen stellt eine Gruppe von nicht mehr als zwei Atomen dar, ein Zuckeratom hingegen enthält sechsunddreissig, ein kleinstes Olivenöltheilchen enthält mehrere hundert einfache Atome. In dem Kochsalz äussert sich die Affinität nur nach einer, in dem Zuckeratom nach sechsunddreissig verschiedenen Richtungen hin. Ohne dass etwas hinzu kommt oder hinweg genommen wird, können wir uns die sechsunddreissig einfachen Atome in dem Zuckeratome auf tausend verschiedene Weisen geordnet denken; mit jeder Aenderung in der Lage eines einzigen von ihnen hört das zusammengesetzte Atom auf, ein Zuckeratom zu sein; denn seine ihm angehörenden Eigenschaften wechseln mit der Art der Lagerung seiner Atome.

Auf die organischen Atome, so wie auf alle Atome höherer Ordnungen müssen Ursachen von Bewegung, von Störung der Verwandtschaft Veränderungen hervorzubringen vermögend sein, welche auf einfacher zusammengesetzte Atome, auf Mineralsubstanzen z. B., ohne allen zersetzenden Einfluss sind.

Von der grösseren Zusammengesetztheit und der geringeren Kraft, mit welcher die Elemente der organischen Körper sich gegenseitig anziehen, hängt ihre leichtere Zersetzbarkeit durch die Wärme z. B. ab; ihre Atome, einmal in Bewegung gesetzt, oder durch die Wirkung der Wärme in grössere Entfernung von einander gebracht, ordnen sich zu einfachen zusammengesetzten Atomen, in welchen die anziehende Kraft nach einer geringeren Anzahl von Richtungen hin wirkt, und in welchen sie weiteren Störungen einen desto stärkeren Widerstand entgegensetzt.

Die Mineralien, die anorganischen Verbindungen, sind durch die freie, ungehinderte Wirkung der chemischen Verwandtschaft entstanden, aber die Art und Weise ihres Zusammentretens, ihrer Lagerung war abhängig von äusseren fremden hierbei mitwirkenden Ursachen; diese letzteren waren das Bedingende in Hinsicht auf die Form und ihre Eigenschaften. Wäre die Temperatur während der Verbindung höher oder niedriger gewesen, so würden sie zu ganz anderen Gruppen zusammengetreten sein.

In ganz gleicher Weise wie die Wärme bei den anorganischen Verbindungen, ist Wärme, Licht und vorzüglich die Lebenskraft die bedingende Ursache der Form und der Eigenschaften der in den Organismen erzeugten Verbindungen; sie bestimmt die Anzahl der Atome, die sich vereinigten, und die Art und Weise ihrer Lagerung. Wir können einen Alaunkrystall aus seinen Elementen, aus Schwefel, Sauerstoff, Kalium und

[127] Aluminium zusammensetzen, weil wir bis zu einer gewissen Grenze frei über ihre chemische Verwandtschaft, so wie über die Wärme und damit über die Ordnung verfügen können; allein ein Stärkekörnchen können wir aus seinen Elementen nicht zusammensetzen, weil zu ihrem Zusammentreten in der dem Stärkekorn eigenthümlichen Form die Lebenskraft mitwirkte, die unserem Willen nicht in gleicher Weise wie Wärme, Licht, Schwerkraft etc. zu Gebote steht. Sind aber die Elemente in dem Organismus einmal zu organischen Atomen zusammengetreten, so gehören sie in die Classe der übrigen chemischen Verbindungen; wir sind im Stande, die in ihren Atomen thätige Kraft welche sie zusammenhält, nach mannichfaltigen Richtungen hin zu lenken, zu ändern, zu erhöhen und zu vernichten, wir können aus zwei, drei, vier zusammengesetzten organischen Atomen, indem wir sie mit einander verbinden, Atome höherer Ordnungen hervorbringen, wir können die zusammengesetzteren in einfachere zerfallen machen; aus Holz und Amylon können wir Zucker, aus Zucker können wir Oxalsäure, Milchsäure, Essigsäure, Aldehyd, Alkohol, Ameisensäure, wie wohl keine einzige dieser Verbindungen aus ihren Elementen hervorbringen.

Auf das Zusammentreten der Elemente zu einer chemischen Verbindung hat die Lebenskraft nicht den geringsten Einfluss; kein Element für sich ist fähig, zur Ernährung, zur Entwickelung einer Pflanze oder des thierischen Organismus zu dienen. Alle Stoffe, welche Antheil an dem Lebensprocess nehmen, sind niedere Gruppen von einfachen Atomen, die durch den Einfluss der Lebenskraft zu Atomen höherer Ordnungen zusammentreten. Die Form, die Eigenschaften der einfachsten Gruppen von Atomen, bedingt die chemische Kraft unter der Herrschaft der Wärme, die Form und Eigenschaften der höheren, der organisirten Atome bedingt die Lebenskraft.

  1. Das Wort Lebenskraft bezeichnet in dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft keine Kraft für sich, wie man sich etwa die Elektricität, den Magnetismus denken kann, sondern es ist ein Collectivname, welcher alle die Ursachen in sich begreift, von denen die vitalen Eigenschaften abhängig sind. In diesem Sinne ist der Name Lebenskraft eben so richtig und gerechtfertigt, wie der Name und Begriff des Wortes Verwandtschaftskraft, womit man die Ursachen der chemischen Erscheinungen bezeichnet, von der wir aber nicht im Geringsten mehr wissen, als von der Ursache oder den Ursachen, welche die vitalen Erscheinungen bedingen.
  2. WS: korrigiert, im Original: Kraf